Produktdetails
  • Verlag: ACHILLA Presse
  • ISBN-13: 9783928398800
  • ISBN-10: 3928398806
  • Artikelnr.: 10219956
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.03.2003

Alles aus Faulheit
Katharina Höcker schildert die
Strapazen in der Badewanne
Wahnsinn ist etwas Grauenhaftes für den, der drinsteckt, aber etwas Trauriges und Langweiliges für den, der ihn von außen sieht; langweilig selbst dann, wenn seine Schilderung nicht mehr als die neunzig Seiten in Anspruch nimmt, die Katharina Höckers Band „In einem Mietshauskörper” hat.
Die 46jährige Wilma ist von ihrem langjährigen Ehemann Walter zugunsten einer gewissen Edeltraut verlassen worden, „sicher eine Emsige”, wie Wilma voller Ranküne denkt. Sie selbst ist das Gegenteil, selbst in ihren besten Zeiten von eher zögerlichem Temperament. Als sie, plötzlich allein, ihr Adressbüchlein durchgeht, findet sie darin nur Geschäftsfreunde ihres Mannes und eine Zimmergenossin aus der Studienzeit. Das schöne Eigenheim im Grünen muss sie räumen und eine Mietswohnung in einem Wohnblock nahe der Bushaltestelle „Jägersruh” beziehen – er ist der „Mietshauskörper”, gegliedert in Fuß-, Knie-, Geschlechts-, Bauch- und Augengeschoss, der sie mit seinen Geräuschen und Gerüchen und seiner schmierigen Organhaftigkeit unausgesetzt beschäftigt und bedroht. Da sie eine künstlerische Ader hat, setzt sie ihr Erleben in tapetenrollenfüllende Gemälde von Gehörgängen und Nasenschleimhäuten in Rot-, Blau- und Violetttönen um. Wenn trotzdem wenigstens der Rezensent der Heldin ohne Sympathien gegenübersteht, dann deswegen, weil der Zusammenhang der akuten Erkrankung mit einer über Jahrzehnte hinweg genährten Normalität allzu sehr auf der Hand liegt: mit der Faulheit der Gattin, die bequemerweise aus dem Kunstgeschichtsstudium von einem Anwalt weggeheiratet wurde, sich um nichts hat kümmern müssen und dies auch jetzt, wo es dringend nötig wäre, einfach verweigert. Das hat immer funktioniert. Schon das Baden erschöpft sie immer so! Und „die Vorstellung, das Treppengehäuse hinabzusteigen, um dort in einem Zeichengeschäft alles Notwendige zu besorgen, schien ihr so strapaziös, dass sie sich auf die Couch legte und einschlief. Als sie nach einigen Stunden erwachte, fühlte sie sich noch ermatteter als zuvor.” Verhält es sich nicht so, dass es für jeden, auch den Normalsten, seinen spezifischen Wahnsinn gibt, der auf ihn wartet? Es wäre ein hübsches Gesellschaftsspiel, ihn bei sich und anderen zu erraten. Jedenfalls ist man für ihn nicht weniger verantwortlich als für seinen Charakter überhaupt; und so tritt der Leser den Früchten dieser ins Phobische getriebenen Sensibilität mit moralischer Hornhaut entgegen.
Die triste Unergiebigkeit des Ganzen hat sich leider auch den Illustrationen von Sabine Wilharm mitgeteilt: Immer wieder sieht man eine Frau und ein Wohnhochhaus auf eckige Weise ineinander verschachtelt; und trotz des Versuchs, der Bilderfolge durch schrittweise Sprengung der Schachtel eine gewisse Dynamik zu verleihen, kommt sie so wenig vom Fleck wie das Buch, zu dem sie nur zu gut passt.
BURKHARD MÜLLER
KATHARINA HÖCKER: In einem Mietshauskörper. Illustriert von Sabine Wilharm. Achilla Presse, Hamburg 2003. 148 Seiten, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Die Rezensentin Dorothea Dieckmann ist von Katharina Höckers wahnsinniger Hauptfigur Wilma geradezu gefesselt. Wilmas Wahnsinn dreht sich, so Dieckmann, um ihre Mietswohnung in einem seltsamen Mietshaus. Dort fühle sie sich belästigt, ständig von unsichtbaren Mietern heimgesucht, und erlebe im methodischen Kampf dagegen abwechselnd Erfolge und Rückschläge. Das Fesselnde an diesem Wahnsinn ist für die Rezensentin, dass es für den Leser kein Außen zu ihm geben kann. In der Tat übernehme schon Wilma selbst die rationalisierende Rolle, indem sie zum Beispiel einwerfe, dass auch "weniger sensiblen Menschen" dieses Haus "abstoßend" erscheine, so dass der Leser kaum mehr über sie urteilen, sondern die Psychose "mit vollziehen" müsse. Höcker gelinge es durch den spielenden und bisweilen komischen Wechsel zwischen "halluzinatorisch-metaphorischer" Sprache und "fast bürokratischer Strenge", die "psychotische Struktur" - den "Wahnsinn mit Methode" - literarisch zu verarbeiten, sodass die Verwandtschaft zwischen künstlerischer "Erkenntnis" und "Irresein" klar zutage trete.

© Perlentaucher Medien GmbH