Produktdetails
  • Verlag: Jung und Jung
  • Seitenzahl: 178
  • Deutsch
  • Abmessung: 20mm x 120mm x 190mm
  • Gewicht: 256g
  • ISBN-13: 9783902144119
  • ISBN-10: 3902144114
  • Artikelnr.: 09795914
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.06.2002

Sehende Blindheit
Elfriede Kerns märchenhafte
Erzählung „Schwarze Lämmer”
Es ist, als senkte sich die Dämmerung über die Welt, und es würde nie wieder Tag. Langsam verschwinden die Dinge im Grau und werden eins, ununterscheidbar, unbenennbar, unsichtbar. Dem hilflos Tastenden, dem argwöhnischen zumal, werden sie indes zu verborgenen Messern. In Elfriede Kerns Erzählung „Schwarze Lämmer” ist die Dämmerung ein fließender Übergang der Welt in eine Märchenwelt, in der sich das, was eben noch vertraut schien, als immer geheimnisvoller entpuppt. In zunächst einwandfreier Zuordnung steht die Stadt für die Welt und der Wald für die Märchen. Die Flucht des Helden aus der Stadt in den Wald ist die Grenzüberschreitung, die den Alltag aus dem Gleichgewicht bringt und umkippen lässt.
Ein Junge erzählt, Arthur. Zusammen mit seiner resoluten Schwester Ada, die ihn streng überwacht, lebt er in der Stadt. Seine Mutter ist tot. Vom Vater ist nie die Rede. Arthur langweilt sich, unternimmt lange Spaziergänge durch den Stadtwald. Eines Tages entdeckt er ein unheimliches Arrangement auf einer Lichtung: planvoll ausgelegte Knochen auf einem schwarzen Tuch. Arthur kommt wieder, verändert die Anordnung und findet sie am Tag darauf in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt. Ein Mann taucht auf. Arthur spricht von Anfang an von seinem „Freund”, und nach wenigen Tagen gewährt er ihm auf dessen Drängen hin Einlass in seine Wohnung. Als Ada nach Hause kommt und der Mann sich zu gehen weigert, ergreift Arthur die Flucht. Am nächsten Tag sieht er, wie der Mann Ada zu seiner Hütte im Wald führt. Arthur stößt zu ihnen. Auf Geheiß der Hexenfrau Maja verschleppt er zusammen mit dem Mann die Schwester tiefer in den Wald. Von da an steuert alles auf den Höhepunkt zu, Majas Opferfest. Die entscheidende Frage wird bleiben, wie hoch er liegen wird.
Eine durch und durch seltsame Geschichte. Seltsam nicht nur durch die Ereignisse, von denen die Rede ist. Auch durch die Wahl ihrer Mittel versteht es die Autorin, ein sanftes Befremden hervorzurufen. Der Erzähler spricht mit sterbensruhiger Stimme, und sterbensruhig bleibt sie, den zunehmend seltsamen Ereignissen zum Trotz, bis zum Schluss. Ganz im Perfekt gehalten, lullt sie den Leser in einen Halbschlaf, in dem das Absonderliche zur leicht hingenommenen Bagatelle wird, weil es, stets verbunden mit dem unvermeidlichen „hat”, im Gefolge des Zwangsläufigen auftritt. Über bemoosten Waldboden schlafwandelnd, bemerkt der Leser nicht, dass Knochen unter seinen Füßen knacken.
Triumph der Ambivalenz
Meisterhaft inszeniert Kern das Täuschungsmanöver als sehende Blindheit des Protagonisten. Denn zu Arthurs ambivalenter Persönlichkeit gehört nicht nur eine Souveränität, die sich auf überlegenes Wissen ebenso zurückführen ließe wie auf vollkommene Unkenntnis, sondern auch eine beschränkte Außenwahrnehmung, die der Erklärung durch die Autorin entbehrt und sich jederzeit als mangelnde Mitteilsamkeit entpuppen könnte. Vor allem in Majas Lager bleiben Arthur die hässlichen Details scheinbar verborgen. Während des abschließenden Fests, bei dem er und zwei andere Gefangene geopfert werden sollen, erkennen alle, nur nicht er selbst, dass ihnen nach der Feier die Zunge fehlen wird.
Dem Leser ergeht es ähnlich. Als Arthur, der als sympathischer, wenn auch trotziger Junge aus der Stadt zieht, seine Schwester mit einem Ast bewusstlos schlägt, nuss der Leser gestehen, sich in ihm getäuscht zu haben. Schon sieht er Blut, wo keines ist. „Schwarze Lämmer” ist der gelungene Versuch, den Leser dem Helden zu keiner Zeit der Lektüre gerecht werden zu lassen.
Zeit zum Ausruhen und Abstandnehmen bekommt er nicht. Es gibt keine Einteilung in Kapitel. Einzig die alle paar Seiten eingesprengte wörtliche Rede, jede nur eine Zeile lang, durchbricht das glatte Schriftbild und wirkt wie Fenster zu einem Text, der bei klarster Diktion neblig bleibt, unzuverlässig, vielleicht auch unaufrichtig. Arthur sagt womöglich nicht, was er weiß, und Arthur hat das Wort.
„Schwarze Lämmer” ist ein modernes Märchen, in doppelter Hinsicht. Zum einen teilt Kern eine Lebenssituation der Gegenwart auf in eine gute und ihre böse Hälfte. Zudem gewährt sie dem Phantastischen Einlass, ganz nach den Regeln der Gattung. Allerdings beides in negativer Absicht: um die Grenzen zwischen gut und böse, wahr und falsch gleich wieder zu verwischen. Denn dieses Märchen lebt von der Ambivalenz. Wissen und Ahnungslosigkeit, böser Wille und kindlicher Unverstand sind die unvereinbaren Gegensätze, die Elfriede Kern in ihren Sätzen gleichsam auf einen Stecknadelkopf zwingt. Zum anderen greift sie, ohne Klischees zu bedienen, die Mystery-Launen der TV- und Kinokultur auf. Leise, doch vernehmbar raschelt die Hexe von Blair im Gebüsch.
Am Ende geht dann alles ganz schnell. Arthur findet einen Durchschlupf. Er flieht. Die Flucht misslingt. Doch wird er überraschend frei gelassen. Seine Schwester, die er im Lager nicht wiedererkannte, hat sich für ihn eingesetzt. Indem sie eine Feindschaft aufkündigt, deren Wurzeln man in den Abgründen ihrer Seele vermutete, verwirrt sich ihre psychologische Glaubwürdigkeit. Elfriede Kerns Wille zur Ambivalenz triumphiert auch über ihre stärksten Gestalten.
KAI MARTIN WIEGANDT
ELFRIEDE KERN: Schwarze Lämmer. Roman. Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien 2001. 178 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ein auf sich selbst gestellter Junge entdeckt im Stadtwald ein unheimliches Knochenarrangement. Indem er die Lage der Knochen verändert, scheint er die Grenze zwischen Wirklichkeit und Märchen aufzuheben, und es kann sich eine seltsame, bedrohlich wirkende Geschichte entwickeln, die den Rezensenten Kai Martin Wiegandt in ihrer Ambivalenz verunsichert und offensichtlich am Ende "verwirrt" zurücklässt. Diese Mystery-Story nach TV- und Kinovorbild führt auf "meisterhafte" Weise in die Irre, schreibt Wiegandt: alles ist "sterbensruhig", das Erzählte unabänderbar bereits geschehen, während sich tatsächlich im unvorhersehbaren Handeln der Protagonisten gut und böse verwischen und Unvereinbarkeiten zur Wirkung kommen. Der Rezensent ist unermüdlich am Psychologisieren, doch "der Text bleibt neblig".

© Perlentaucher Medien GmbH