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Sandeep ist zehn und verbringt jedes Jahr die Ferien bei Onkel und Tante in Kalkutta. Die schier unzähligen Räume in dem alten Haus, all die kleinen und großen Ereignisse in der weit verzweigten Familie und nicht zuletzt eine unerwartete Begegnung mit der Sterblichkeit des Menschen beginnen ihn zu verändern...

Produktbeschreibung
Sandeep ist zehn und verbringt jedes Jahr die Ferien bei Onkel und Tante in Kalkutta. Die schier unzähligen Räume in dem alten Haus, all die kleinen und großen Ereignisse in der weit verzweigten Familie und nicht zuletzt eine unerwartete Begegnung mit der Sterblichkeit des Menschen beginnen ihn zu verändern...
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2002

Alles fließt, die Familie strömt
Amit Chaudhuri setzt der indischen Großsippe ein Denkmal

Amit Chaudhuri ist ein Phänomen. Geboren in Kalkutta und aufgewachsen in Bombay, wohnte er ein gutes Jahrzehnt als Student und Schriftsteller in England. Seit zwei Jahren lebt er mit seiner Großfamilie in einem gutsituierten Wohnviertel von Kalkutta. In England begann er zu schreiben und brachte vier Romane zu Papier. Die ersten drei, im vorliegenden Band vereinigt, fangen die drei Etappen seines bisherigen Lebens - Kindheit in Kalkutta, Jugend in Bombay, Studium in Oxford - atmosphärisch ein. Durch sie drang der noch nicht Vierzigjährige zum harten Kern jener indischen Autoren vor, die in englischer Sprache schreiben und als die moderne Stimme Indiens international bekannt wurden.

Die meisten dieser Autoren wohnen in England oder Nordamerika. Chaudhuri ist der einzige, der in seine indische Heimat zurückgekehrt ist. Darin liegt seine Außergewöhnlichkeit, das macht ihn zum Phänomen. Liest man seine Romane aufmerksam, glaubt man auch zu wissen, warum er sich wieder in Indien angesiedelt hat: Er hatte Heimweh. Er beschreibt das Leben in seinem mittelständischen Milieu Kalkuttas und Bombays mit solch vornehmer Zartheit und freundlicher Anteilnahme, daß beim deutschen Leser sämtliche Klischees vom Moloch der indischen Großstadt ins Rutschen geraten.

Im ersten Roman, "Eine seltsame und erhabene Adresse", 1991 erschienen, beobachtet der Autor aus der Perspektive der Schüler Sandeep und Abhi das behagliche Leben in einer Großfamilie. Die Poesie des gewöhnlichen Lebens entfaltet sich in den kleinsten Dingen des Alltags. Der Mikrokosmos der Familie weitet sich zum Makrokosmos aus, denn Kalkutta ist allenfalls die Folie für das Familienleben. Die sozialen Spannungen, die nicht nur Ausländer mit Kalkutta assoziieren, finden nicht einmal einen Widerhall, so geborgen empfinden sich die Personen in ihrem Familienkosmos.

Der zweite Roman, "Raga des Nachmittags" (1993), erweitert die Perspektive. Ein indischer Student in Oxford berichtet von seinen zaghaften Versuchen, Bekanntschaften zu schließen und sich in seinem begrenzten Umfeld wohl zu fühlen. Diese Beschreibung unterbricht der Ich-Erzähler mit Erinnerungen an sein Leben am Rande von Bombay, wohin die Familie kurz zuvor gezogen war. Die Liebe zur klassischen indischen Musik - der Autor ist selbst ein erfahrener Sänger - nimmt einen breiten Raum ein. Der dritte Roman, "Die Melodie der Freiheit" (1998), kehrt nach Kalkutta als Ort des Geschehens zurück und ist weniger offenkundig autobiographisch als die beiden früheren. Die Großfamilie wird komplexer und spannungsreicher als früher geschildert. Da ist die Rede von einem Parteigänger der Kommunisten, von der Mühsal, in der konservativen Gesellschaftsstruktur Bengalens eine Ehepartnerin zu finden, von maroden Fabriken und Geschäftshäusern und den Anstrengungen ihrer Besitzer und Angestellten, vor der Gesellschaft das Gesicht zu wahren, obwohl sie kaum noch Arbeit haben.

Mosaikartig setzt der Autor den weitverzweigten Organismus der Großfamilie zusammen und spart dabei durchaus nicht ihre symbiotischen Anhängsel aus, die Diener und Waschfrauen und jene, die ein Gnadenbrot erhalten, etwa die alten, kaum beschäftigten Frauen, die in Würde alt werden dürfen. In genauer, ruhig fließender Sprache setzt Amit Chaudhuri der indischen Großfamilie ein liebevolles Denkmal. Dieser amorphe, seltsam leidenschafts- und konturenlos wirkende Lebensstrom, den keine übergreifenden Handlungsstränge zu einer Geschichte bündeln, der weder durch Sozialkritik noch durch anekdotenhafte Stilisierungen in den modernen Diskurs einbezogen sein will, wirkt auf sympathische und doch auch auf befremdliche Weise "indisch". Sympathisch, weil das mythische Bewußtsein des Inders hier einen zeitgenössischen Ausdruck findet. Befremdlich, weil die Empörung über bestehende Verhältnisse und der Drang zur Veränderung, die sich in den englischen Romanen anderer indischer Schriftsteller regen, hier ganz von diesem ruhigen Strömen absorbiert zu sein scheint.

Amit Chaudhuri ist nicht nur Romancier, er schreibt auch als Kritiker für einige führende Kulturzeitschriften der angelsächsischen Welt und ist dort als Vermittler der indischen Moderne in den Westen nicht mehr unbekannt. Im letzten Jahr erschien außerdem seine bedeutende, über sechshundert Seiten starke Anthologie "The Picador Book of Modern Indian Literature", die ebendiesen hundertjährigen Prozeß des Übergangs in die Moderne dokumentiert. Sie wurde von der indischen Kritik einmütig gelobt und wird bald als Standardwerk gelten. Zwar geht ihm die erzählerische Phantasie eines Amitav Ghosh, Shashi Tharoor, Rohinton Mistry oder einer Arundhati Roy ab, doch betrachtet man sein Werk insgesamt, ist Amit Chaudhuri auf dem Weg, ein verläßliches Bindeglied zwischen den beiden Kulturkreisen Indiens und Europas zu werden.

MARTIN KÄMPCHEN

Amit Chaudhuri: "Die Melodie der Freiheit". Drei Romane. Aus dem Englischen übersetzt von Gisela Stege. Karl Blessing Verlag, München 2001. 416 S., geb., 24,- .

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Drei Romane des 1962 in Bombay geborenen Schriftstellers Amit Chaudhuri, der lange in England gelebt hat und sich nun in Kalkutta niedergelassen hat, veröffentlicht der Karl Blessing Verlag nun auf Deutsch in diesem Band, berichtet Claudia Wenner. In "A Strange and Sublime Address" aus dem Jahr 1991 erkundet ein zehnjähriger in den Sommerferien in einem alten Haus "eine Welt der Phantasien und Empfindungen", in "Afternoon Raag", zuerst 1993 veröffentlicht, führt der Ich-Erzähler dem Leser "traumhafte Unwirklichkeiten" des Oxforter Studentenlebens vor Augen und in "Freedom Song", im Original 1998 erschienen, geht es um das Leben zweier Familien im Kalkutta der neunziger Jahre, fasst die Rezensentin die Inhalte der drei Werke knapp zusammen. Chaudhuris Erzählkunst weiß sie wohl zu schätzen, verspricht dem Leser sogar, dass seine Prosa "wie ein Raag" in "andere Bewusstseinszustände" versetzen könne, wäre da nur nicht, seufzt Wenner, die Übersetzung. An der lässt die Rezensentin kein gutes Haar. Sichtbar enttäuscht listet sie eine ganze Reihe ungünstiger Übertragungen vom indischen Englisch ins Deutsche auf. Auch mit dem Glossar ist Wenner in höchstem Maße unzufrieden. Zu schade, denkt die Rezensentin, dass diese Romane "auf dem Weg in den deutschen Sprachraum" an Schönheit und Einmaligkeit viel verloren haben.

© Perlentaucher Medien GmbH
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