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Wenn Buchstaben eher gesehen statt gelesen werden wollen, handelt es sich um Bildbuchstaben. Ihre typografische Ein- und Verkleidung kann bis in die Inkunabelzeit des späten Mittelalters zurückverfolgt werden. Vor allem in den Initialen wurden Textinhalte visualisiert und damit Einzelbuchstaben als Augenweide herausgehoben und mit allerlei Figurativem verlebendigt. Der Slogan, Mensch sei das Maß aller Dinge, gewann in der Renaissance zunehmend an Bedeutung. So ist es nicht zufällig, dass Anatomie und Typografie zur selben Zeit zur Leitwissenschaft, resp. zum Leithandwerk wurden. Beide…mehr

Produktbeschreibung
Wenn Buchstaben eher gesehen statt gelesen werden wollen, handelt es sich um Bildbuchstaben. Ihre typografische Ein- und Verkleidung kann bis in die Inkunabelzeit des späten Mittelalters zurückverfolgt werden. Vor allem in den Initialen wurden Textinhalte visualisiert und damit Einzelbuchstaben als Augenweide herausgehoben und mit allerlei Figurativem verlebendigt. Der Slogan, Mensch sei das Maß aller Dinge, gewann in der Renaissance zunehmend an Bedeutung. So ist es nicht zufällig, dass Anatomie und Typografie zur selben Zeit zur Leitwissenschaft, resp. zum Leithandwerk wurden. Beide zergliederten ihren Gegenstand, den Körper, resp. den Buchstaben, in ihre Bestandteile, um in neuer Form und Technik Neues zu generieren und damit einer ersten Aufklärung den Weg zu ebnen. In der vorliegenden, chronologisch geordneten Untersuchung werden gegen 100 anthropomorphe Alphabete und Bildwörter, die auf Menschenfiguren basieren, vorgestellt und kulturhistorisch interpretiert von der gotischen Initiale im Gebetbuch über typografische Totentänze und erotische Eskapaden bis hin zu animierten Menschentypen des Internetzes.
Autorenporträt
Prof. Dr. Joseph Kiermeier-Debre ist Leiter des Antoniter-/Strigelmuseums und der MEWO Kunsthalle in Memmingen, Dozent für Neuere deutsche Literatur an der Universität München und Autor und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen.

Fritz Franz Vogel (geb. 1957) Dr. phil., arbeitet seit 1992 produktiv, kooperativ und interdisziplinär in den Medien Text, Fotografie und Buch (Gestaltung, Druckvorstufe und Herausgeberschaft). Forschungen, Lehrtätigkeit, Publikationen und Ausstellungen in den Bereichen inszenierte und dokumentarische Fotografie, populäres und freies Theater, Alphabete und visuelle Kommunikation, Körperbilder und Erotica. Er lebt in Wädenswil in der Schweiz.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Anne Zielke nutzt ihre Besprechung der "Menschenalphabete", bei denen einzelne oder mehrere Körper einen Buchstaben nachbilden, zu einer Abhandlung über das grundlegende Verhältnis von Körper, Bild und Schrift. Das ist zwar nicht uninteressant, manchmal vielleicht etwas verwirrend, man erfährt nur leider überhaupt nicht, ob ihre Erkenntnisse in irgendeinem Zusammenhang zu dem besprochenen Band stehen. Über den schreibt Zielke nur soviel: "Die kleine, liebevoll zusammengestellte, auch augenzwinkernde Anthologie mit vielen Darstellungen und knappen Erläuterungen der jeweiligen Herkunft der Körperalphabete ist vor allem ein historischer Streifzug, der bis in vorkarolingische Zeiten zurückreicht."

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2001

Wer Z sagt, muß auch Zähne zeigen
Leiber, wie sie im Buche stehen: Eine kleine Anthologie verschlingt Körper zu Menschenalphabeten / Von Anne Zielke

Am Anfang war das Paar, und es stehen aufrecht eine nackte Frau und ein nackter Mann. Ihre Münder und Arme haben sich in einer Berührung verschränkt, und nur die Unterleiber sind seltsam abgespreizt gezeichnet. Mit etwas Abstand verändern sich die Dinge: Pixel eines Bildschirms lösen sich in Bilder auf; wo lauter Bäume waren, ist ein Wald zu sehen. Im Falle des dargestellten Paares scheinen sich die Körper schließlich zu einer Wahrheit des Alphabets zu formieren: Am Anfang, so steht es gezeichnet, am Anfang ist das A. Das ist die Form der dargestellten Formen. Der sich zurückziehende Blick erlebt die bildliche Genese eines Zeichens, geformt aus dem menschlichen Körper, und dessen Domestizierung in der Schrift. Wer A schreibt, muß auch B schreiben, und so fort, denn nur vor dem Hintergrund des gesamten Schriftzeichenreservoirs gewinnt der einzelne, jeweils unterschiedliche Buchstabe seine Bedeutung: Der Thurgauer Meister Peter Flötner schuf um 1535 eines jener "Menschenalphabete", die Joseph Kiermeier-Debre und Fritz Franz Vogel in ihrem gleichnamigen schmalen Band versammelt haben.

Mal sind es einzelne Figuren, dann wieder Körperteile oder mehrere Leiber, die die anthropomorphen Buchstaben bilden. Körper sind durchgängig das Material der Schrift. Die kleine, liebevoll zusammengestellte, auch augenzwinkernde Anthologie mit vielen Darstellungen und knappen Erläuterungen der jeweiligen Herkunft der Körperalphabete ist vor allem ein historischer Streifzug, der bis in vorkarolingische Zeiten zurückreicht: "Die Buchstaben sind nicht mehr bloß Träger semantischer Bedeutung", wird im einleitenden Essay erklärt, "sondern auch sinnlich-bildhafter Ausdruck zeitgenössischer Welt- und Körpererfahrung." So werden Schriftbilder zu Weltbildern.

Im achten Jahrhundert kommen erste Figuren im Kontext der Schrift auf. Noch wirken sie wie passiv in das Korsett der Buchstaben gezwängt, hilflos auch dem Walten von Gut und Böse ausgeliefert, das in den ersten Menschenalphabeten seine Darstellung findet - im sogenannten "Berliner Alphabet" um 1400 etwa piesacken Lamien, Harpyien und Manticoren den ausgelieferten Menschen. Die Renaissance macht den Menschen dann tatsächlich zum Maß aller Dinge: Der Franzose Geofroy Tory beispielsweise versucht, alle Buchstaben auf die Maßverhältnisse des menschlichen Gesichts und Körpers zurückzuführen und so die Anatomie als damalige Leitwissenschaft auch der Typographie zugrunde zu legen. Später verliert sich vorübergehend das Interesse am Menschenbuchstaben: Die Klassik konzentriert sich auf den Text als Text, so daß erst im neunzehnten Jahrhundert der Buchstabe wieder als visuelles Medium entdeckt wird. Er spiegelt, und darin gleicht er anderen Illustrationsspielarten, im Lauf der Zeiten die jeweiligen Auffassungen von Sittlichkeit und Frivolität, wird zur Folie auch für Rassismus, wie in einem sogenannten Mohrenalphabet aus der Mitte des vorvergangenen Jahrhunderts. Aber der Bildbuchstabe in Menschenform geht gleichzeitig über seine geschichtlichen Aspekte hinaus: Anthropomorphe Alphabete thematisieren immer auch das grundlegende Verhältnis von Körper, Bild und Schrift.

Wenn Schrift, um es mit einem buchstäblich buchstäblichen Körperbegriff zu sagen, DNS des Geistes ist, dann kann auch der Körper ihr realer Ausdruck sein - indem nämlich der Buchstabe, der als Symbol eine Abstraktion ist, wortwörtlich ein Gesicht und damit einen Charakter, eine Körperlichkeit erhält. Aus der Type wird somit tatsächlich ein Charakter beziehungsweise aus dem Charakter eine Type. Die Form der Schrift, die zwischen bestimmten Buchstabenkombinationen und der jeweiligen Sinnzuschreibung unterscheidet, markiert einen Mediumswechsel der Kommunikation, vom gesprochenen hin zur optischen Wahrnehmung des geschriebenen Wortes. Insofern ist Schrift schon immer Bild und das Schriftbild als Bildbuchstabe nur konsequent: In seiner Dopplung der Repräsentation von Welt suggeriert er mehr noch als der bloße Buchstabe die Lesbarkeit der Welt.

Der Körper ist dem Medium der Schrift gern als Authentizitätsgarant gegenübergestellt worden. Er schien unmittelbar zu sein. Die Menschenalphabete räumen damit auf. In seiner Darstellung als Buchstabe wird der Körper zur Schrift, zu einem Zeichen, das aber erst im Lesen seiner Darstellung als solches entsteht: Das Lesen ist der Welterschaffungsprozeß selbst. Schrift wiederum, das verdeutlicht der Bildbuchstabe in seiner doppelten Metaphorik, ist in Wirklichkeit auch eine Art Körper. Denn sind ihre Grundelemente erst einmal verbunden, ist eine Bedeutung festgelegt, dann hat ein Sinn seine Form gefunden. In ihrer Endlichkeit ist die Schrift zum Spiegelbild des Körpers geworden. Dargestellt im Bild, verweist beides aufeinander, in einem kurzen Moment des Innehaltens, in der Kollision zweier gegensätzlicher Bewegungen, die gleichzeitigem Bremsen und Gasgeben ähneln: Lesen erfordert Bewegung der Augen, Betrachtung dagegen Stillstand. Im Bildbuchstaben kommt beides zusammen. In diesem Moment der Irritation kann der Buchstabe endlich ein Eigenleben entwickeln. Er wird zum Beginn einer eigenen Geschichte und Geschichten somit zum Grundbaustein der Welt.

Nicht umsonst haben die anthropomorphen Buchstaben vor allem auch Schriftsteller und Dichter fasziniert, zum Beispiel Roland Topor und Friederike Mayröcker, die ihren eigenen "ABC Thriller" erfunden hat. Im Grunde stellen Bildbuchstaben so den wahren Charakter eines Zeichens heraus: Am Ende läßt sich nirgendwo eine Bedeutung nachschlagen; auch ein Lexikon besteht nur aus Buchstaben. Man findet immer nur Zeichen und andere Geschichten. Eine zum Beispiel ist festgehalten in der Fotografie eines Mundes beim Aussprechen jenes Buchstaben, der das Alphabet beschließt. Wer Z sagt, so lautet das letzte Wort des scheinbar gezähmten Körpers, zeigt immer die Zähne.

Joseph Kiermeier-Debre, Fritz Franz Vogel: "Menschenalphabete". Nackte Models. Wilde Typen. Modische Charaktere. Jonas Verlag, Marburg 2001. 144 S., zahlreiche Farb- und S/W-Abb., geb., 29,80 DM.

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