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Auf der Grundlage des Begriffs Experimentalsystem entwirft Hans-Jörg Rheinberger eine Epistemologie des modernen Experimentierens.Neue Zugänge zur Geschichte der modernen Wissenschaften erkundet Hans-Jörg Rheinberger in seinem Buch. Im Zentrum steht eine Beschreibung der materiellen Anordnungen, die Laborwissenschaftler im 20. Jahrhundert als ihre »Experimentalsysteme« bezeichnen. Seit einiger Zeit wird von Theoretikern und Historikern der Naturwissenschaften dem Experiment größere Aufmerksamkeit geschenkt. Rheinberger unternimmt den Versuch, auf der Grundlage des Begriffs Experimentalsystem…mehr

Produktbeschreibung
Auf der Grundlage des Begriffs Experimentalsystem entwirft Hans-Jörg Rheinberger eine Epistemologie des modernen Experimentierens.Neue Zugänge zur Geschichte der modernen Wissenschaften erkundet Hans-Jörg Rheinberger in seinem Buch. Im Zentrum steht eine Beschreibung der materiellen Anordnungen, die Laborwissenschaftler im 20. Jahrhundert als ihre »Experimentalsysteme« bezeichnen. Seit einiger Zeit wird von Theoretikern und Historikern der Naturwissenschaften dem Experiment größere Aufmerksamkeit geschenkt. Rheinberger unternimmt den Versuch, auf der Grundlage des Begriffs Experimentalsystem eine Epistemologie des modernen Experimentierens zu entwerfen. Die Dynamik der Forschung erweist sich dabei als Prozeß der Herausbildung »epistemischer Dinge«: Die empirischen Wissenschaften entwickeln sich in der Auseinandersetzung mit ihren Gegenständen. Es geht also um eine Verschiebung der Perspektive weg von den Ideen und den Absichten der Handelnden und hin zu den Objekten, auf die sichihr Handeln und ihr Begehren richtet. Die mit dieser Wende zusammenhängenden epistemologischen und historiographischen Fragen werden an einer konkreten Fallstudie vorgestellt. Es wird ein einzelnes Labor mikroskopisch in den Blick genommen, das mit der Entwicklung eines Experimentalsystems zur Untersuchung der Proteinsynthese im Reagenzglas einen wesentlichen Beitrag zur Geschichte der Molekularbiologie leistete.Zur Reihe:Die Wissenschaftsgeschichte verstand sich lange Zeit als eine Art Gedächtnis der Wissenschaften. Heute sucht sie ihren Platz in der Kulturgeschichte und sieht ihre Aufgabe nicht zuletzt darin, Brücken zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften zu bauen. Die Formen, in denen dies geschieht, sind keineswegs ausgemacht. Sie sind Gegenstand eines großen, gegenwärtig im Gange befindlichen Experiments. Die historische Einbettung der wissenschaftlichen Erkenntnis, der Blick auf die materielle Kultur der Wissenschaften, auf ihre Objekte und auf die Räume ihrer Darstellung verlangt nach neuen Formen der Reflexion, des Erzählens und der Präsentation. Die von Michael Hagner und Hans-Jörg Rheinberger herausgegebene Reihe »Wissenschaftsgeschichte« versteht sich als ein Forum, auf dem solche Versuche vorgestellt werden.
Autorenporträt
Hans-Jörg Rheinberger, geb. 1946, studierte Philosophie in Tübingen und Berlin sowie Biologie in Berlin. Der Molekularbiologe und Wissenschaftshistoriker ist seit 1997 Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Er wurde ausgezeichnet mit dem cogito-Preis 2006. Veröffentlichungen u.a.: »Räume des Wissens« (Hg. mit Michael Hagner und Bettina Wahrig-Schmidt, 1997); »The Concept of the Gene in Development and Evolution« (Hg. mit Peter Beurton und Raphael Falk, 2000).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.07.2001

Was ist ein Experiment?
Hans-Jörg Rheinbergers Gegenentwurf zur "Logik der Forschung"

"Der Theoretiker ist es, der dem Experimentator den Weg weist", stellte Karl Popper in seiner "Logik der Forschung" fest. Diese Aussage müßte eigentlich schon längst als falsifiziert gelten, doch das einsichtige Schema von kühner Hypothese, Deduktion und experimentellem Tribunal übt eine ungewöhnliche Anziehungskraft aus. Unglücklicherweise verführt dieses Wissenschaftsbild aber auch dazu, die Geschichte der Wissenschaft als reine Abfolge von verworfenen oder noch zu verwerfenden Theorien zu betrachten: Die Geschichte der Forschung wird in sogenannten "rationalen Rekonstruktionen" rücksichtslos einer angeblichen Logik der Forschung gefügig gemacht. Nur wie Rechtfertigungen logisch abgesichert werden, zählt, nicht wie neues Wissen in alltäglicher Kleinarbeit geschaffen wird.

Der lange vernachlässigte Ludwik Fleck, ein Zeitgenosse Poppers, hatte jedoch schon 1935 auf den Werkstattcharakter der experimentellen biomedizinischen Forschung hingewiesen. Wissenschaftler testen in ihren Experimenten nicht einzelne von Theoretikern gestellte Fragen, sondern bauen sich in langwieriger Arbeit materielle Systeme auf, die neues und unerwartetes Wissen produzieren können. In Hans-Jörg Rheinbergers Studie über die Eiweißsynthese im Reagenzglas wird dieser Aspekt noch weiter ausgebaut und bildet die Grundlage einer Epistemologie des Experiments. Der Molekularbiologe, Philosoph, Übersetzer von Derridas "Grammatologie", Historiker und Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, stellt sich auch einer historiographischen Herausforderung. Rheinberger zitiert Gaston Bachelard, "Die Vergangenheit einer heutigen Wissenschaft ist nicht identisch mit derselben Wissenschaft in ihrer Vergangenheit", um die Schwierigkeit einer Geschichtsschreibung unvorwegnehmbarer wissenschaftlicher Ereignisse zu illustrieren - Ereignisse, die nach ihrem Auftritt wie das notwendige Ziel der gesamten geschichtlichen Bewegung erscheinen.

Die Eiweißsynthese im Reagenzglas ist keine obskure Episode in der Geschichte der Biochemie, sondern Teil einer Erzählung, die mit enormen kulturellen Resonanzen versehen wurde. Die Geschichte der Molekularbiologie wird häufig wie folgt knapp wiedergegeben: James Watson und Francis Crick entdeckten 1953 die Struktur der DNA. Es wurde schnell deutlich, daß die DNA in irgendeiner Weise den Aufbau von Eiweißen kodierte. Wie jedoch die Information von der Erbmasse zu den Eiweißen floß, blieb zunächst unklar.

Es wurde bald deutlich, daß zwei Formen von Ribonukleinsäuren entscheidende Rollen bei der Eiweißsynthese spielen. Eine instabile Form, die messenger-RNA, schien ein Zwischenträger der Erbinformation zu sein. Die transfer-RNA war hingegen am Einbau der Aminosäuren in das wachsende Eiweißmolekül beteiligt. Marshall Nirenberg und Heinrich Matthaei gelang es schließlich Anfang der sechziger Jahre, den genetischen Code zu knacken. Der Informationsfluß von der DNA zu den Eiweißen war vollständig aufgeklärt. Alles, was in der folgenden gentechnologischen Revolution geschah, baut auf diesen Entdeckungen auf. Hans-Jörg Rheinberger verfolgt in einer dichten Darstellung die Arbeiten von Paul Zamecnik und seinen Mitarbeitern an der Harvard Medical School und am Huntington Memorial Hospital. Deutlich wird dabei, wie irreführend die obengenannte vollständig auf der Metapher des molekularen Informationsflusses aufbauende Schilderung ist.

In den ersten Jahren nach dem Weltkrieg untersuchte Zamecnik zunächst im Rahmen eines Krebsforschungsprogramms die Wachstumsprozesse maligner Zellen der Rattenleber. Ein Angriffspunkt war dabei die beschleunigte Eiweißsynthese dieser Zellen und die energetische Steuerung dieser Vorgänge. Nach 1947 verschob sich der Forschungsprozeß stetig in großen und kleinen Sprüngen. Der Krebs geriet immer mehr aus dem Blickfeld, und die Aufmerksamkeit richtete sich auf den zellfreien Einbau von Aminosäuren in Eiweiße. Neue Techniken wie die Ultrazentrifugation, eine Abwendung von der Energetik und schließlich und immer wieder neue, unvorhergesehene Ergebnisse führten dazu, daß Zamecnik und sein Mitarbeiter Mahlon Hoagland ein lösliches RNA-Molekül fanden, das sich mit Aminosäuren verband, die dann in Eiweiße eingebaut wurden. Hoagland und Francis Crick hofften, in dieser RNA einen "Rosetta-Stein" zur Entzifferung des genetischen Codes gefunden zu haben, doch dieses Versprechen führte in eine Sackgasse. Erst Ende der fünfziger Jahre, als die messenger-RNA in zwei verschiedenen Experimentalsystemen unabhängig voneinander charaktisiert wurde, begann sich das Rätsel der Eiweißsynthese zu lösen.

Die transfer-RNA wurde von Zamecnik und seinen Mitarbeitern gefunden, ohne daß danach gesucht worden war. Krebsentstehung und nicht der molekulare Informationsfluß waren Zamecniks Interesse. Nicht die Pläne oder Absichten der Wissenschaftler, sondern das experimentelle System und sein Eigenleben und seine Eigenzeit sorgte, so Rheinberger, für das Entstehen von neuartigen epistemischen Dingen, zunächst instabilen, überraschenden Erscheinungen, die Experimentalsystemen eine neue Richtung geben und das Erkenntnisinteresse leiten.

Und genau dieser unvorwegnehmbare, ungeplante Fund der transfer-RNA bildete die Brücke zur Molekulargenetik, in deren Licht die Geschichte der Entdeckung dann umgedeutet wurde. Zamecniks System konnte erfolgreich Varianten produzieren und mit anderen Systemen hybridisieren und später, nach der Entzifferung des genetischen Codes, rückwirkend neu beschrieben werden. Transfer-RNA, messenger-RNA und andere Moleküle waren nun so stabilisiert, daß sie sich von epistemischen zu technischen Dingen wandelten. Heute sind diese Moleküle Teile der experimentellen Apparatur, die andere Objekte, neue epistemische Dinge, manipulieren.

Rheinbergers epistemologische Kategorien und ihre Beziehung untereinander ähneln dem Verhältnis von Zeichen zu Objekten in der Semiotik und Literaturtheorie. Experimentalsysteme mit ihren epistemischen und technischen Dingen öffnen nicht einen Durchblick auf eine unverfälschte Natur, auf eine unwandelbare materielle Referenz. Ein Experimentalsystem ist ein dynamisches Zeichensystem, in dem epistemische Dinge auf eine bestimmte Weise repräsentiert werden und Bedeutung gewinnen: In Francois Jacobs und Jacques Monods bakteriellem System war die messenger-RNA ein Zwischenschritt bei der Genregulation, im viralen System von Sidney Brenner, Matthew Meselson und Jacob ein Informationsträger.

Weder Natur noch soziale Interessen bestimmen die Erkenntnisse der Wissenschaft. Rheinberger kann somit leicht dem Vorwurf der sozialen Konstruktion entfliehen, vermag aber keine einfache Antwort darauf zu geben, wie "wirklich" die epistemischen Dinge, ob nun transfer- oder messenger-RNA, sind. Sie erhalten ihre Bedeutung aus dem experimentellen Kontext und nicht aus ihrer unvermittelten Natürlichkeit. Die Leichtigkeit, mit der ein epistemisches Objekt verschiedene bedeutsame Rollen in mehreren Experimentalsystemen spielen kann, ist womöglich eine Antwort.

Rheinberger klammert auch bewußt das Soziale und Politische aus, ignoriert es aber nicht. Es geht ihm in erster Linie um wissenschaftliche Praxis als materielle Kultur und nur am Rande um Wissenschaft in der Kultur. Dieses schwierige und anspruchsvolle, aber sehr lesenswerte Buch bietet ein einzigartiges Bild von der Entwicklung der experimentellen Wissenschaft, von den Objekten der Forschung, die vielleicht wichtiger sind als körperlose Ideen.

THOMAS WEBER

Hans-Jörg Rheinberger: "Experimentalsysteme und epistemische Dinge". Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Die deutsche Bearbeitung basiert auf einer Übersetzung aus dem Englischen von Gerhard Herrgott. Wallstein Verlag, Göttingen 2001. 344 S., br., 58,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Hans-Jörg Rheinberger ist heute der Leiter des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte. Seine doppelte Ausbildung als Philosoph - als der er einst mit Hanns Zischler Derridas "Grammatologie" übersetzte - und als Biologe prädestiniert ihn dafür. In diesem Buch beschreibt er am konkreten Beispiel, aber mit theoretischem Hintergrund, was eine Labor- und Experimentalanordnung erfolgreich macht. Zur Anschauung stellt er den Biochemiker Paul C. Zamecnik vor, der als Laborleiter die Eigenständigkeit seiner Mitarbeiter forderte und unterstützte und so über Jahrzehnte hinweg die Entwicklung "neuer Aufgaben und Kompetenzen" vorantrieb. Rheinbergers Studie versteht sich als Beitrag zu einer "Ökonomie der epistemischen Dinge" - einzig, dass der Bezug zur "umgebenden Kultur" ausgeblendet bleibt, scheint dem Rezensenten Nils Röller ein kleines Manko des Buches.

© Perlentaucher Medien GmbH