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Produktdetails
  • Verlag: iudicium
  • Seitenzahl: 236
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 325g
  • ISBN-13: 9783891291184
  • ISBN-10: 3891291183
  • Artikelnr.: 12213400
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2003

Rückseiten der Zivilisation

Victor Segalen gehörte zur Pioniergeneration jener französischen Dichter, die zugleich Ethnologen wurden. Es war das Kolonialreich, das den Blick nach Afrika, nach Indochina oder auf die Inseln der Südsee lenkte. Paul Gauguin war auf Tahiti gestorben, kurz bevor Segalen als Marinearzt dort eintraf. Der europäische Primitivismus begann - in Deutschland erfanden sich Karl Schmidt-Rottluff und Ernst Fuhrmann ferne Stammeswelten, Carl Einstein entdeckte die "Negerplastik" als kunstphilosophischen Gegenstand, und in Frankreich widmete sich Jean Paulhan den madegassischen Sprichwörtern. Später kamen die literarisch-philosophischen Reisen im engeren oder ferneren Umkreis des Surrealismus: von Michel Leiris, von Henri Michaux und von Antonin Artaud.

Victor Segalen war der erste, der eine "Ästhetik des Diversen" entwarf. Man entdeckte die Völker und ihre Traditionen gerade in dem Moment, da ihr Zerfall begann. Es mag sein, daß Segalen durch seine Herkunft für solche dichterische Ethnologie prädestiniert war. Maria Zinfert bemerkt in ihrer Dissertation, daß er, in Finisterre geboren, sich ausdrücklich als Bretone fühlte und deshalb den Akzent im Namen fortließ, den noch sein Vater geführt hatte, der sich "Ségalen" schrieb (Maria Zinfert: "Über eine Poetik der Inversion". Die Romane von Victor Segalen. Iudicium-Verlag, München 2003. 226 S., br., 21,- [Euro]).

Heute gilt es als ausgemacht, daß die Liebe zu den Gebräuchen und Traditionen fremder, noch dazu, im Fall von Segalen, so weit entfernter Völker wie den Südseeinsulanern, den Chinesen oder den Tibetern mit einer "antirassistischen" Grundhaltung einhergehen müsse. Für die Generation derer, die um 1900 als Schriftsteller begannen, war dies jedoch keineswegs selbstverständlich; überhaupt muß man annehmen, daß es sich beim Antirassismus-Dogma im wesentlichen um die Rückprojektionen einer Haltung handelt, die sich nach 1945 in Europa empfahl. Segalen jedenfalls scheint die Abhandlung des Grafen Gobineau über die Ungleichheit der Rassen angeregt gelesen zu haben. Allerdings gab er ihr eine prononciert europakritische Pointe, wenn er den Tanz und das rhythmische Gefühl der Maori als Naturanlage deutete.

Neben Richard Wagner und den Erforschern der mittelalterlichen Epik scheint besonders Friedrich Nietzsche auf Segalen gewirkt zu haben. Maria Zinfert spricht von einem starken antikatholischen Affekt des Schriftstellers. Wenn man ihrer Analyse folgt, dann war es sogar ein umgewendeter Katholizismus, der Segalens Romanen mit ihrem manifesten Paganismus die tragende Struktur gab. Der erste dieser Romane, "Les Immemoriaux" (deutsch: "Die Unvordenklichen", 1986), schildert den Weg des tahitianischen Priesterzöglings Terii, der die Ursprungssagen memoriert, dabei einmal scheitert und nach seiner Bekehrung durch die Methodisten den biblischen Namen Iakoba, Jakob, annimmt. Aber zunächst kündigt er ein Wunder an: Er wird sich in einen Baum verwandeln. Mit ausgebreiteten Armen steht er da. Dann flieht er; die Getreuen glauben, daß der Gott Oro ihn zu sich genommen habe; Beweis dafür sind Abdrücke in einem Felsbrocken, die wie Füße aussehen.

Teriis Geste, so führt Maria Zinfert aus, erinnere an die Kreuzigung, und der Fels an den Stein vor dem leeren Grab. Die Szene von Teriis Taufe, in der er den Namen Iakoba annimmt, wird als genaue Umkehrung der Geschichte von Jakobs Kampf mit dem Engel entziffert: Während der biblische Jakob in der Nacht auf den Engel trifft, beginnt Teriis Taufe bei Morgengrauen; er hat keinen Kampf zu bestehen; nicht der Engel gibt ihm den Namen, sondern er sich selbst; und während Jakob fortan mit ausgerenkter Hüfte hinkt, betastet sich Iakoba und stellt fest, daß sein Körper intakt geblieben ist.

"Inversion" ist das Formgesetz, das Maria Zinfert für die Romane Segalens behauptet. Der Dichter kehrt die Ordnung um, er schlägt den Rückweg ein, auch im Verhältnis zu seinem Vorläufer, dem von ihm bewunderten Joris-Karl Huysmans: Dieser hatte sich in seinen Büchern auf den Katholizismus zubewegt, während Segalen sich mehr und mehr an dessen Frühschriften hielt. Christlich-antichristlich motiviert ist schließlich die große Rolle, die Opfer und Selbstopfer bei Segalen spielen. Diese Deutung überzeugt, auch wenn dabei der feine Humor, mit dem in den "Unvordenklichen" die Zumutungen der Methodisten an die Stammesgesellschaft beschrieben werden, ein wenig zu kurz kommt. In seinem Herzen, so schrieb Segalen einmal, schlafe trotz seines Antikatholizismus ein stolzer Mystiker, der sich von den geheimen Korridoren in den Schlössern der Seele angezogen fühle - eine Anspielung auf die "Seelenburg" der heiligen Therese, deren Werke Segalen gut gekannt haben muß.

Das Wort "Inversion" hat nicht nur eine rhetorische und literaturwissenschaftliche Bedeutung, sie meint bei Segalen nicht nur die Umkehrung der Wortstellung oder des Zeitverlaufes. Wahrscheinlich gibt es keine Völkerkunde, die nicht auch eine Landschaft des Begehrens entwerfen würde. In Segalens China-Romanen erkennt Maria Zinfert eine "Umkehrung" der sexuellen Attraktionen. Die Frauen haben eine dekorative Rolle, die wirklichen Anziehungen spielen sich an anderen Orten ab. Vielleicht hätte man die Phantasmagorie des chinesischen Kaisertums bei Segalen noch genauer als Gegenbild der Französischen Republik entschlüsseln können, zumal sich Anspielungen auf Napoleon finden. Erfreulich jedenfalls ist es, eine Dissertation zu lesen, in der nicht zum hundertunddrittenmal fertige Theoriestücke von der Stange genommen werden, sondern einmal die Sache selbst entfaltet wird.

LORENZ JÄGER

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ziel dieser Dissertation von Maria Zinfert ist es, so berichtet Lorenz Jäger, als das "Formgesetz" der Romane von Victor Segalen die "Inversion" zu beweisen, die Umkehrung, Umwendung oder Umstülpung vorgefundener Ordnungsprinzipien also. Und im Falle der Romane Segalens handelt es sich bei den dort umgewendeten Versatzstücken Zinfert zufolge vor allem um solche des Katholizismus, wie der Rezensent weiter berichtet. Dies zeigt die Autorin etwa an einem Roman Segalens, der den Weg eines tahitianischen Priesterzöglings schildert. "Inversion" erhalte bei Zinfert aber, berichtet Jäger weiter, nicht allein die übliche literaturwissenschaftliche Bedeutung, es gehe vielmehr auch um die Umkehrung von Zeitverläufen und Wortstellungen etwa, was den Rezensenten dazu angeregt hat, die Idee Zinferts am Beispiel der behandelten Romane noch weiter zu treiben. Jedenfalls findet es Lorenz Jäger erfreulich, mit dieser Schrift von Maria Zinfert einmal eine Dissertation zu lesen, in der "nicht zum hundertunddrittenmal" fertige Theoriestücke "von der Stange" genommen würden, sondern "die Sache selbst entfaltet wird".

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