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Bilal ist ein Illegaler, unterwegs auf einer der berüchtigtsten Transitrouten von Afrika nach Europa.Bilal ist Fabrizio Gatti, der renommierte italienische Journalist, der sich unter diesem Namen als Migrant unter die anderen gemischt hat, um zu erleben, was sie erleben, und davon zu erzählen. Von Dakar zieht er mit dem Flüchtlingsstrom bis in die Sahara; auf klapprigen Lastwagen durchqueren sie unter unvorstellbaren Entbehrungen die Wüste. Immer wieder werden sie überfallen. Schlepper und korrupte Polizisten wechseln sich darin ab, den Flüchtlingen ihre letzte Habe zu nehmen: Der moderne…mehr

Produktbeschreibung
Bilal ist ein Illegaler, unterwegs auf einer der berüchtigtsten Transitrouten von Afrika nach Europa.Bilal ist Fabrizio Gatti, der renommierte italienische Journalist, der sich unter diesem Namen als Migrant unter die anderen gemischt hat, um zu erleben, was sie erleben, und davon zu erzählen. Von Dakar zieht er mit dem Flüchtlingsstrom bis in die Sahara; auf klapprigen Lastwagen durchqueren sie unter unvorstellbaren Entbehrungen die Wüste. Immer wieder werden sie überfallen. Schlepper und korrupte Polizisten wechseln sich darin ab, den Flüchtlingen ihre letzte Habe zu nehmen: Der moderne Menschenhandel entlang der neuen großen Trecks ist auch ein brutales, hochprofitables Geschäft. Viele stranden, manche Spur verliert sich für immer. Die es schaffen, die mit letzten Mitteln die Grenzen passieren, die gefährliche Überfahrt in viel zu vollen Booten übers Meer überleben, erwarten Auffanglager und brutale Abschiebung. Doch sie werden wiederkommen, solange sich das Elend in ihren Heimatländern nicht ändert.Die moderne Odyssee der neuen Arbeitssklaven hat gerade erst begonnen. Fabrizio Gatti ist, als Augenzeuge und Schriftsteller, ihr Chronist geworden.
Autorenporträt
Gatti, Fabrizio§Fabrizio Gatti, geboren 1966, ist Journalist und Autor. 2007 erhielt er den Europäischen Journalistenpreis. Für sein Buch "Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa" wurde er mit dem Premio Terzani ausgezeichnet (2008).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.02.2010

Auf diesen Lastern verlässt die Zukunft Afrika
Durch die Wüste, übers Meer: Als kurdischer Flüchtling getarnt, reiste der italienische Reporter Fabrizio Gatti auf der „Sklavenpiste” vom Senegal nach Europa
Fast muss man warnen vor diesem Buch, so massiv, so jäh ist das Leseerlebnis. Es erwischt einen wie ein Faustschlag in Zeitlupe, und wenn man, nach all dem Wüstensand, der Hitze, den Lagerbeschreibungen und dem eiskalten Meer, zufällig Nachrichten sieht, könnte man schreien vor Wut, wenn es dort neutral heißt, 74 Illegale seien von Rom aus nach Libyen abgeschoben worden.
Fabrizio Gatti ist Chefreporter des Espresso und er arbeitet, seit er sich für eine Geschichte über die Macht der Mafia als Gasableser und Heroinabhängiger ausgab, meist undercover. Er nahm die Identität eines Rumänen an, um zu sehen, wie Italien mit seinen Illegalen umspringt; er hat unter Obdachlosen gelebt und als angeblicher Kosovare die Abschiebepraktiken der Schweiz dokumentiert. „Bilal” aber war sein härtestes Projekt, Gatti überlebte tagelange Sandstürme, Amöbenruhr, Pannen und entkam einer Geiselnahme durch Al-Qaida-Leute. Schlimmer als all das war aber anscheinend die omnipräsente Grausamkeit, die er auf dieser Reise erlebte; er klingt in Interviews auch dreieinhalb Jahre später noch wie ein Kriegsveteran, der kaum in den zivilen Alltag zurückfinden kann. Dabei wollte Gatti nur in Erfahrung bringen, warum so viele Schwarzafrikaner das Risiko auf sich nehmen und sich Schleppern anvertrauen, durch die Wüste, übers Meer.
Zwei Leute reisen durch dieses Buch, auf zwei Routen. Zunächst macht sich der Italiener Gatti vom Senegal aus auf in Richtung Europa, entlang der sogenannten Sklavenpiste, jener Route, auf der schon vor 2000 Jahren Arbeitskräfte für das Römische Reich besorgt wurden. Auf überfüllten Lastwagen, in Kleinbussen, streckenweise zu Fuß, geht es nach Süden, in Richtung Trockenheit und Hitze. Niamey, Agadez, Dao Timmi, so heißen die Stationen in Niger, Orte, die immer staubiger werden, Vorposten des sandigen Nichts. In Agadez besteigt Gatti zusammen mit 200 Menschen einen der uralten Laster, die nach Libyen aufbrechen, schwer beladen wie Schiffe. „Am Ende der Startbahn endet die Straße. Endet Agadez. Endet die Sahelzone. Endet Schwarzafrika. Endet eine Welt. Vor dem Lkw erstreckt sich eine endlose steinige und sandige Ebene.”
Willkommen in der Sahara, dem Ozean der Einsamkeit, in dem Sie niemand suchen wird, wenn Sie nicht wieder auftauchen, und in dem keine Gesetze mehr gelten: nach fünf Kilometern die erste Straßensperre, bei der Polizisten mit Gummischläuchen und Peitschen auf die Passagiere eindreschen und Geld von ihnen verlangen.
Vier bis fünf Laster fahren täglich von Agadez ab, macht 15 000 Leute pro Monat. Jeder von ihnen zahlt seinem Schlepper alleine für die Durchquerung Nigers 150 Euro. Dazu kommen die Polizeikontrollen zwischen der nigrischen Hauptstadt und der libyschen Grenze. Zwölfmal werden sie angehalten, müssen aussteigen, sich in den Sand knien, hoffen, dass diesmal nicht sie es sind, die verprügelt werden, aber irgendjemanden trifft es immer. Auf diesen Lastern verlässt die Zukunft Afrika, junge Männer, gut ausgebildet, die zu Hause keinerlei Perspektive haben. Gatti lernt Computerfachleute und Mathematiker kennen, Krankenschwestern und Lehrer, er freundet sich mit einem ägyptischen Historiker an und mit zwei Brüdern aus Liberia, die mit ihren Familien in einem Flüchtlingslager in Ghana hausten, Naturwissenschaftlern, die Einladungen zu Kongressen in Slowenien und Kanada in der Tasche haben. Sie alle träumten von Europa und sind entsetzt, als sie merken, wie hart diese Reise ist.
Dirkou schließlich ist eine moderne Sklavenoase, ein Gefängnis, „in dem die Sahara die Gitterstäbe bildet”. Zu Hunderten arbeiten die Schwarzafrikaner hier für etwas Wasser und Brot, in Steinbrüchen, als Hausdiener oder Prostituierte, manchmal Wochen, manchmal Jahre. „Ihr Geist ist noch voller Pläne, Träume und Freiheitsdrang. Nur kommen sie nicht weg von hier, weil ihr Körper im Alltag gefangen ist. Das fehlende Geld, der Hunger, der Staub und der Preis für das Ticket, das immer unerreichbarer ist. Wenn sie je lebend in Europa ankommen, gelten sie höchstens als Desperados. Auch wenn sie in Wirklichkeit zu den wenigen Menschen auf der Welt gehören, die für die Hoffnung noch ihr Leben aufs Spiel setzen.”
Es kann in der Ténéré schon ein tödlicher Fehler sein, pinkeln zu gehen: Die Schlepper setzen die Fahrt nach einer Pause einfach fort, ohne darauf zu achten, ob auch wirklich alle an Bord sind. Wer nicht schnell genug aufspringt, bleibt zurück. Viele setzen ihre menschliche Fracht auch mitten in der Wüste aus, um Benzinkosten zu sparen. Bezahlt haben die Passagiere ja im Voraus. Und diejenigen, die Gatti trifft, sind noch die Bessergestellten. Wer keine Papiere hat, muss abseits der Routen auf einem der Allradwagen querfeldein fahren, ein geplatzter Reifen bedeutet da 32 Tote.
An der libyschen Grenze ist Schluss für Gatti, man lässt ihn als Weißen nicht ins Land. Zurück in Italien, verwandelt er sich in den kurdischen Flüchtling Bilal Ibrahim el Habib und schmuggelt sich in das Lager von Lampedusa ein. Die Idee dazu kommt ihm, als er „Papillon” sieht, den Film mit Steve McQueen und Dustin Hoffman, die Flucht übers Meer aus einem Strafgefangenenlager in Französisch-Guyana. Gatti nimmt den umgekehrten Weg: fliegt nach Lampedusa, dem europäischen Vorposten zwischen Italien und Libyen. Dort verbrennt er seinen Ausweis, zieht sich eine Schwimmweste an, die er vorher mit Altöl eingerieben hat, schmiert sich selbst mit stinkendem Fischöl ein, damit man ihm seine Geschichte glaubt, springt ins novemberkalte Meer und lässt sich Stunden später als kurdischer Türke an Land treiben. So kommt er in das Lager, das von italienischen Politikern der Fremdenhasspartei Lega Nord als „Fünfsternehotel” und „Stolz der italienischen Nation” bezeichnet wurde. Gatti beschreibt es als Schandfleck Europas: Bei seiner Aufnahme wird er gezwungen, sich mit den anderen Neuankömmlingen auf den Boden zu setzen, auf dem knöcheltiefe Fäkaliensuppe schwimmt. Wer sich nicht sofort setzt, wird verprügelt. Einige Wachmannschaften setzen allen Ehrgeiz daran, die Inhaftierten systematisch zu demütigen. Schläge, Tritte, stundenlange Abzählrituale gehören zum Standardrepertoire, sie zwingen aber auch minderjährige Muslime dazu, sich Pornos auf dem Handy anzusehen oder mit dem faschistischen Gruß zu salutieren.
Lampedusa ist die große Lostrommel Europas: Nach undurchsichtigen Kriterien, vielleicht auch einfach nur nach Zufallsprinzip, werden die Flüchtlinge entweder zurückgeschickt nach Afrika oder nach Sizilien gebracht. Dort bekommen sie einen Ausweisungsbescheid in die Hand gedrückt und die Aufforderung, innerhalb von sechs Tagen das Land zu verlassen. So sorgt der italienische Staat für Nachschub für die riesige Schwarzarbeitsmaschine. Denn all die Illegalen werden dringend gebraucht – in Italien hängen die Bau- und die Landwirtschaft von den Schwarzarbeitern ab. Je illegaler, desto besser, so könnte man sagen, denn je weniger Rechte die Immigranten haben, desto besser kann man sie ausbeuten. Und wir Endverbraucher, die wir unsere Kiwis für 29 Cent kaufen, können der Mafia und deren kalabrischem Pendant, der ’Ndrangheta, dafür dankbar sein, dass diese so zuverlässig für niedrige Preise sorgen.
Pannen und Sandstürme, Schläge, Dreck, Gestank und Todesangst – Fabrizio Gatti hat all das am eigenen Leib erfahren. Aber er setzt sich nie in Szene, geriert sich nie als Held. Im Gegenteil, er verschwindet quasi aus seinem eigenen Buch: Schon im ersten Teil erzählt er kaum von sich. Selbst als er sich mit 41 Grad Fieber in Agadez zu einigen Tagen Unterbrechung gezwungen ist, nutzt er diese Zeit eben, um die Stadt zu erkunden – und löst beim Lesen Fernweh aus: „Die ganze Stadt ist rot, die Fassaden, die Flachdächer, die sandigen Gassen, als läge Agadez immer im Licht der untergehenden Sonne.” Dann wird mit der Verwandlung von Gatti in Bilal aus dem Ich ein Er, das kurdische Alter Ego wird wie eine fremde Figur beschrieben. Und auf den letzten Seiten überlässt Gatti James und Joseph das Wort, den zwei jungen Liberianern, die hofften, von Tripolis aus nach Slowenien zu gelangen, wo sie offiziell eingeladen waren.
Aus deren Mails spricht der zweite politische Skandal, den Gatti hier – neben den Zuständen in Lampedusa – aufgedeckt hat: Dass Europa Libyen zum sicheren Drittstaat erklärt hat, um möglichst viele Flüchtlinge dorthin zurückschicken zu können. In den libyschen Lagern wird systematisch gefoltert und vergewaltigt. Immer wieder werden ganze Flüchtlingstrupps einfach in die Wüste geschickt.
Auch James und Joseph werden gefoltert, nach Europa dürfen sie sowieso nicht, obwohl sie offizielle Einladungen und Flugtickets haben. „Die zwei”, so Gatti, „haben einen dramatischen Fehler gemacht: Sie haben auf das Gesetz vertraut. Sie wollten durch den Haupteingang nach Europa reisen, als freie Bürger, und nicht in Lampedusa an Land gehen.” Während sie ihre Folterwunden auskurieren, am 25. August 2005, jubelt Berlusconi, „die italienisch-libysche Zusammenarbeit zur Regulierung der legalen Migrationsströme und zur Bekämpfung der illegalen Zuwanderung soll Europa als Vorbild dienen.” In ihrer allerletzten Mail danken die beiden Brüder Gott dafür, dass sie es geschafft haben, lebend in ihr Flüchtlingslager in Ghana zurückzukehren. ALEX RÜHLE
FABRIZIO GATTI: Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa. Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß. Verlag Antje Kunstmann, München 2009. 475 Seiten, 24,90Euro.
Polizeikontrolle: aussteigen, Geld her, auspeitschen.
Ab in die Wüste: Europa hat die Drecksarbeit an Libyen outgesourct
Dicht gedrängt wie die Trauben einer Weinrebe: Bis zu 320 Menschen sitzen auf den uralten Lkw, die oft einfach weiterfahren, wenn jemand runterfällt. Fotos (2): Fabrizio Gatti/Verlag Antje Kunstmann
Fabrizio Gatti alias Bilal
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.12.2010

Auf der Sklavenroute durch die Wüste

Europa heißt ihr Ziel, doch wenn sie es überhaupt erreichen, warten dort neue Demütigungen auf sie: Fabrizio Gattis aufrüttelnder Bericht über seine Reise mit afrikanischen Migranten.

Die Reise, die der italienische Journalist Fabrizio Gatti für sein Buch "Bilal" unternommen hat, war alles andere als ungefährlich: Er folgte Migranten, die auf der Suche nach einer besseren Zukunft aus Westafrika durch die Sahara in Richtung Europa ziehen. Monatlich fünfzehntausend Menschen, darunter Frauen, Kinder und Alte, machen sich von der Tuareg-Stadt Agadez aus auf den Weg durch die Wüste. Was der Chefreporter des Nachrichtenmagazins "Espresso" mit ihnen erlebt, ist so schockierend, dass man seine Schilderungen gerne für Fiktion halten würde.

Gatti zwängt sich mit den Glückssuchern auf Jeeps und Lastwagen. Fast hundertdreißig Personen zählt er einmal auf der Ladefläche eines Kleintransporters. Eine Reifenpanne in der Wüste kann den Tod aller bedeuten. Wer einschläft und herunterfällt oder erkrankt, wird zurückgelassen. Nicht selten setzen die Schlepper ihre Ware einfach aus, um schneller an neuen Kunden verdienen zu können.

Denn verdienen wollen alle an der Völkerwanderung: Soldaten, Polizisten, Schlepper, Stadtverwalter, Militärbefehlshaber, Banditen. An offiziellen wie inoffiziellen Kontrollstationen, in den Oasen und Siedlungen pflegt man den Reisenden alle Habseligkeiten abzunehmen. Wer nichts hat oder nichts geben möchte, wird misshandelt. Das Geschäft lohnt sich. An einem einsamen Militärposten kommen mit Gatti allein an einem einzigen Tag über 800 Personen an. Während der Journalist durch seinen italienischen Pass geschützt ist, sind seine Mitreisenden der Willkür machtlos ausgeliefert.

Um alle Ersparnisse gebracht, bleibt die Mehrheit der Migranten auf dem Weg stecken. Die "stranded people" verdingen sich als Hausdiener oder Prostituierte, um wenigstens das Geld für die Rückreise aufbringen zu können. Moderne Sklavenrouten nennt Gatti darum die Pisten durch die Sahara ans Mittelmeer.

Gatti beschränkt sich nicht auf die Rolle des passiven Beobachters. Er gewinnt das Vertrauen vieler Mitreisender, schließt Freundschaften und teilt, was er besitzt. Per E-Mail hält er den Kontakt und hilft später von Italien aus finanziell und organisatorisch. Daher weiß er auch, dass keiner seiner neuen Freunde tatsächlich in Europa angekommen ist.

Am Mittelmeer endet Gattis Reise. Er entscheidet sich im letzten Moment dagegen, auf eines der überladenen Boote zu steigen. Als er kein libysches Visum erhält, kehrt Gatti über Tunesien mit dem Flugzeug in seine Heimat zurück. Was Illegale in Libyen erwartet - Verfolgung, Abschiebehaft, Folter -, erfährt der Leser aus E-Mails ehemaliger Reisegefährten.

Diese nüchterne Wiedergabe des Schriftverkehrs ist eines der erschütterndsten Kapitel des Buchs: Die Immigranten sehen sich mit einem Mob konfrontiert, der, aufgehetzt durch die Reden al-Gaddafis, mit Hämmern und Steinen Jagd auf Schwarzafrikaner macht. Einwanderer, die teilweise seit vielen Jahren in Tripolis leben und arbeiten, werden in die Wüste gejagt oder in Lager gesteckt, in denen vergewaltigt und misshandelt wird.

Der Hintergrund ist ein bilaterales Abkommen mit Italien, in dem sich Libyen zur Flüchtlingskontrolle verpflichtet. Dafür erhielt es 4,3 Milliarden Euro. Gleichzeitig verdient das Land weiter am lukrativen Schlepper-Geschäft. Italien hat seinerseits den einstigen Schurkenstaat zum sicheren Dritt- und Freundesstaat erklärt, um der illegalen Zuwandererströme Herr zu werden. Dass die Rechte der Illegalen in Libyen mit Füßen getreten werden, wird dabei in Kauf genommen. Zwei der neuen Freunde Gattis, Akademikern aus Ghana, wird trotz gültiger Pässe und Flugtickets, Visen für Europa und der Einladung einer europäischen Universität die Ausreise aus Libyen verweigert. Sie haben, so Gatti, "einen dramatischen Fehler gemacht: Sie haben auf das Gesetz vertraut". James und George werden grundlos inhaftiert und beinahe zu Tode gefoltert. Als Gatti das erfährt, macht er sich auf den Weg, um den Sohn al-Gaddafis zu treffen, der sich in Italien zu einem Fußballspiel aufhält.

Gatti ist nun endgültig kein Unbeteiligter mehr. Als er sich nun noch einmal in umgekehrter Richtung auf den Weg durch die Wüste macht, ist es nicht mehr die journalistische Recherche, sondern die Sorge um die Freunde, die ihn antreibt. Er reiht sich ein in den Zug, der Libyen nach Süden zu verlässt, und wird Zeuge einer Tragödie. Er erlebt, wie Tausende von Menschen in der Sahara ausgesetzt werden, um die Lastkraftwagen für die nachkommenden Flüchtlingsmassen freizumachen. Apokalyptische Szenen spielen sich hier ab. Als er selbst in der Wüste strandet, kommt auch er in Lebensgefahr.

Der für Italien unbequemste Teil des Buches sind aber wohl Gattis verdeckte Recherchen auf italienischem Boden. Vor der Küste Lampedusas springt er ins eiskalte Meer, lässt sich aufgreifen und als irakischer Kurde Bilal in das Flüchtlingslager stecken. Nun bekommt er zu spüren, wie Europa Migranten ohne Papiere empfängt. Er watet durch knöchelhohen Kot und Urin, schläft auf einem Handtuch, seinem einzigen Besitz. Es gibt keine Türen, keinen Strom, keine Privatsphäre, keine medizinische Versorgung und nur Salzwasser zum Waschen.

Gatti kann verbergen, dass er Italienisch spricht. So erfährt er einiges über die perfiden Verhörmethoden und über die Haltung der Carabinieri, die die Einwanderer verachten. Und auch er wird so Opfer von willkürlicher Gewalt und Demütigung von Seiten seiner Landsleute, bevor er freigelassen wird mit der Auflage, Italien in fünf Tagen zu verlassen. Als sein Buch in Italien erschien, führte es zu einer parlamentarischen Untersuchung der Verhältnisse im Lager von Lampedusa.

An Berichte über Leichen und Gestrandete vor den Kanaren, Griechenland und Lampedusa hat man sich längst gewöhnt. Gattis beeindruckendes Buch hilft, die Menschen hinter diesen Nachrichten zu sehen.

ANNIKA MÜLLER.

Fabrizio Gatti: "Bilal". Als Illegaler auf dem Weg nach Europa.

Aus dem Italienischen von Rita Seuß und Friederike Hausmann. Antje Kunstmann Verlag, München 2010. 457 S., geb., 24,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Höchst eindringlich fand Jonathan Fischer diesen 2005 im Original erschienenen Bericht, für den sich der Reporter Fabrizio Gatti als schiffbrüchiger kurdischer Flüchtling aus dem Meer fischen ließ und der in Italien Fischer zufolge so hohe Wellen schlug, dass eine parlamentarische Untersuchung zu den beschriebenen Umständen eingeleitet wurde. Der Bericht erhelle nicht nur, dass es sich beim Menschenhandel um ein hochprofitables Geschäft handele. Er führe dem Leser auch eindringlich Einzelschicksale vor Augen. Und was der Kritiker am allerwichtigsten findet: Gatti gebe in seinem Buch all den Gestrandeten von Lampedusa oder den Kanaren, den Ertrunkenen und Überlebenden, ein Gesicht. Mache sie als Menschen kenntlich, "die Hunger, Erniedrigungen, den Verlust von Familie und Heimat" auf sich nähmen, nur um "ein wenig an den Privilegien teilzuhaben", die "wir als unsere selbstverständlichen Rechte erachten".

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