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Produktdetails
  • Verlag: Verlag Antje Kunstmann
  • Originaltitel: La question humaine
  • Seitenzahl: 98
  • Abmessung: 13mm x 130mm x 195mm
  • Gewicht: 185g
  • ISBN-13: 9783888972447
  • ISBN-10: 3888972442
  • Artikelnr.: 08893355
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.2000

Der Traktor der Sprache überfährt den menschlichen Faktor
Nach holder Lust und saurem Frust beim kommunikativen Handeln: Ein Roman rüttelt erneut am System des Kapitalismus und nimmt die Konzerne beim Wort

Wenn die Giganten der Wirtschaft tagen, dann formiert sich manchmal, wie in Seattle im April dieses Jahres, ein theoretisch weitgehend unbelasteter antikapitalistischer Widerstand auf der Straße. Tausend Davids kämpfen gegen einen Goliath. Auch Bill Gates ist in dieser Konferenz aus seiner Rolle gefallen und hat zur Überraschung seiner Kollegen aus der Technologie-Branche dem Gedanken heftig widersprochen, daß das Glück der Welt vor allem digital sei. Dem Hunger könne man mit Computer und Internetanschluß nicht beikommen. Der reichste Mann der Welt schlug eine Bresche für die Notleidenden und fiel den Konzernen in die Arme.

Die Literatur ist nun überraschend in die Reihe der Systemkritiker nachgerückt. In Frankreich und in deutscher Übersetzung erschien in diesem Herbst ein nur 99 Seiten langer Roman mit dem Titel "Der Wert des Menschen". Geschrieben wurde er von dem in Belgien lebenden Psychoanalytiker und Psychiater François Emmanuel. Der Roman versucht etwas, was es in der Literatur schon lange nicht mehr gegeben hat: Er möchte den Finger auf ein menschenverachtendes System legen und es an der Seele, vor allem an der Sprache seiner willentlichen und unwillentlichen Förderer und Nutznießer überführen.

Wer heute vom Kapitalismus spricht, der meint ein System, das global agiert, komplex ist sowie für wenige auf Kosten aller anderen und der Umwelt tagtäglich Riesengewinne abwirft. Diese Eigenschaften erfüllen in den Augen der Kapitalismus-Kritiker vor allem auch die Konzerne. An diesen in ihren Funktionen undurchschaubaren und in ihren Aktivitäten unüberschaubaren Giganten entzündet sich die moralische Empörung der Wächter über das richtige ökonomische Maß. Es bestätigt sich erneut: Die Großen fressen die Kleinen. Mit dieser theatralischen Einsicht kann man dem System aber noch nicht wirklich beikommen. Wer keine Begriffe mehr schmiedet und an umfassende Theorien nicht mehr glaubt und dennoch ins Herz des Systems treffen möchte, der stattet den anonymen Kapitalismus mit handelnden Menschen aus. Man pilgert zu der einzigen Quelle des Übels, die sich moralisch dingfest machen läßt: den Mitarbeitern, Dienern und Herren der Konzerne. Doch wie sehen die aus, woran erkennt man sie?

In dem schmalen Buch von François Emmanuel erhält ein Betriebspsychologe - einer von Abertausenden, die diesen Beruf ausüben - den Auftrag, seinem Direktor auf den Zahn zu fühlen. Der Direktor leitet das französische Tochterunternehmen eines deutschen Konzerns, der hinweisstark SC Farb heißt, die Adresse ist: Tiergarten 4. Der Direktor ist seelisch durchgerüttelt, man weiß nicht warum. Das Tochterunternehmen hat eine Umstrukturierung hinter sich, bei der Hunderten von Mitarbeitern gekündigt wurde. An dieser Maßnahme war auch der Psychologe beteiligt gewesen. Er ist ein Experte in der Abteilung "menschliche Ressourcen", der Personalgutachten erstellt und Seminare für Firmenangestellte hält, und dabei hat er, "ohne mit der Wimper zu zucken, hemmungslosen Selbstentblößungen und Gewaltausbrüchen beigewohnt. Es gehörte zu meiner Funktion, diese Impulse auf das einzige Ziel hinzulenken, das man mir gesetzt hatte: aus diesen Angestellten Soldaten, Kämpfer für die Firma" zu machen.

In den sechziger Jahren war ein Kompromiß populär geworden: Man verbändelte Karl Marx und Sigmund Freud miteinander, jubelte einer Wirtschaftsform eine psychische Struktur unter. Federführend war dabei der in Amerika lehrende Soziologen Herbert Marcuse mit seinen Bestsellern "Triebstruktur und Gesellschaft" und "Der eindimensionale Mensch". Diese Liaison von System und Seele war aufregend, und zwar nicht nur für Wissenschaftler, sondern auch für Schriftsteller. Wer von den deutschsprachigen Schriftstellern die Gesellschaft der Nachkriegsordnung nicht rechts liegenließ, der profitierte von der Theorie, daß ein System sich die Menschen heranbildet, die es braucht, um in Schwung zu bleiben. Martin Walser schrieb entsprechende Kleinbürgersonaten vom Bodensee, Peter Handke erging sich in Etüden der Dingvergessenheit in der Warenwelt. Die Schriftsteller nahmen zur Kenntnis, daß den Menschen ihre Eignung für das System offensichtlich als eine Deformation in die Seele gepreßt wurde. Daran erkannte man auch den gängigen "Wert des Menschen".

Der Direktor des französischen Tochterunternehmens der SC Farb, von dem François Emmanuel erzählt, gehörte in psychisch stabileren Zeiten einem betrieblichen Streichquartett an. Einer der vier im bogenführenden Bunde, ein Mann namens Ariel Neumann, wurde ebenfalls von der Kündigungswelle erfaßt. Er sucht Rache und schickt dem Direktor Briefe, die vor allem eines waren: Collagen aus zwei Textsorten, zum einen als "Geheime Reichssache" gekennzeichnete Schreiben aus dem Jahr 1942, zum anderen Fragmente von Mitteilungen neueren Datums, wie sie unter den Abteilungen der SC Farb kursieren. Die technische Sprache scheint, so wird suggeriert, sich in ihren menschenverachtenden Grundzügen nicht verändert zu haben. Nicht nur der Direktor reagiert auf die Briefe mit einer Verstörung, auch den Betriebspsychologen packt bei der Lektüre das Grauen, vor sich selbst, seinem Beruf und der schnöden Welt des Konzerns. Der Direktor versucht einen Selbstmord zu verüben, dem Psychologen wird gekündigt, weil er seine Arbeit schleifen läßt. Er nimmt eine Stelle in einem Heim für autistische Kinder an. "Manchmal denke ich, das ist mein persönlicher Akt des Widerstands gegen Tiergarten 4. Und ich glaube, es gefällt mir inzwischen, an den Rändern der Welt zu existieren." Sieht so in letzter Konsequenz die Opposition gegen die Konzerne und das System aus?

Die gegenwärtige deutschsprachige Literatur findet ihr Zentrum in Freud und Leid, weitab von den Konzernen. Die Triebstruktur kommt - trotz mancher Ausnahmen wie der Schriftsteller Ulrich Peltzer, Heiko Michael Hartmann und Georg M. Oswald - ohne kapitalistisches Korsett aus. Kaum verschwinden die Helden im Büro, vorausgesetzt, daß sie arbeiten gehen müssen, fällt die Tür der Geschichte ins Schloß. Man trifft die Helden andernorts, im Bett, im Restaurant, auf der Couch und auf Reisen, nicht im Geschäft. Sie ernähren sich von Beziehungen, zu sich selbst und zu anderen, sind allesamt Nomaden in einer Welt, die von zwei Stämmen bewohnt wird: Menschen, die man versteht, und Menschen, die man nicht versteht. Man lese nur die Erzählungen von Judith Hermann, Julia Franck oder Peter Stamm. Aus Triebstruktur und Gesellschaft wurden Frust und Lust beim kommunikativen Handeln.

François Emmanul reicht das nicht, er möchte mehr als nur erzählen, was die Davids miteinander zu plaudern haben. Er lauscht an den Türen der Konzerne, hinter denen die Goliathe ihre Gespräche über den "menschlichen Faktor" führen, und weil auch das nicht genügt, um das System zu überführen, kramt er noch in den Archiven des Holocaust. An der technischen Sprache, so behauptet Emmanuel, wird man sie alle erkennen, die zweibeinigen und befehlseinsilbigen Inkarnationen des menschenverachtenden Systems. Schon die Frankfurter Schule hatte in den dreißiger Jahren den Finger auf die Verbindung von Kapitalismus und Faschismus gelegt und einen Klassenzusammenhang ausgemacht. Vom Begriff des Kapitals, der bei diesem Joint Venture die Vorgabe machte, ist bei François Emmanuel nur noch die Funktionssprache der Handelnden übriggeblieben. "Wenn man einen dieser Männer fragt, was er da macht, wird er antworten, daß alles wie vorgesehen abläuft, mit ein bißchen Verspätung gegenüber dem Zeitplan vielleicht, er wird Ihnen in dieser toten, neutralen und technischen Sprache antworten, die aus ihm einen Lastwagenfahrer, Beifahrer, Unterscharführer, Polierer, Wissenschaftler, technischen Leiter, Obersturmbannführer gemacht hat."

Wo sind in den Sätzen, aus denen Menschen werden, die Lücken, durch die die Sprecher aussteigen können? Die Mitarbeiter von Konzernen, die noch eine Seele und feine Ohren haben und weniger an ihr ökonomisches Überleben als an ihr psychisches Heil denken, sollen wahrscheinlich kündigen und soziale Berufe ergreifen, deren Sprache sie nicht in die Nähe der Vernichtung der Juden treibt. Unternehmensberater, denen gerne nachgesagt wird, Totengräber der menschlichen Ressourcen zu sein, sollen offenbar umsatteln, Umweltschützer oder Kindergärtnerinnen werden. Die revolutionäre Strategie aus dieser aberwitzigen Ansicht lautet: Gründet Sprachschulen gegen die Macht! Achtet auf eure Worte! Nur der gezielte Zungenschlag wird vernichtend sein. Der Feind spricht linguistisches Techno.

EBERHARD RATHGEB

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Herbert Marcuse, Gudrun Ensslin und Dolf Sternberger (Das Wörterbuch des Unmenschen) zitierend setzt sich Ulrich Greiner mit der "Provokation", wie er schreibt, dieses Buches auseinander. Für ihn hat der Autor "spannend und plastisch" dargestellt, wie der für den Kapitalismus zugerichtete Mensch - offenbar immer mehr die "Züchtungsfantasien des Nationalsozialismus" mit anderen Mitteln fortsetzend - ungerührt "über Leichen geht", die er gar nicht bemerkt. Chef, Vizechef und Betriebspsychologe eines Unternehmens finden sich in Rollen wieder, die jeweils auf ein Mitmachen hinauslaufen, das vollkommen harmlos nur der Effizienz und nicht etwa finsteren Mächten gehorcht. Aber wie finster gerade diese Macht ist, findet Greiner bei Marcuse vorgedacht, nämlich dass der "beunruhigendste Aspekt" der "fortgeschrittenen industriellen Zivilisation" gerade der vernünftige Charakter ihre Unvernunft ist. In Handlung und Darstellung findet Greiner dies in Emmanuels Roman, den er "mit wachsender Beklommenheit" gelesen hat, aufs Beunruhigendste ausgedrückt.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Dieses Buch ist eine Provokation. Man liest es wie in einem Satz, mit wachsender Beklommenheit, mit angehaltenem Atem." (Die Zeit)