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  • Buch mit Leinen-Einband

Produktdetails
  • Verlag: Stutz, Passau
  • Seitenzahl: 224
  • Erscheinungstermin: Januar 2007
  • Deutsch, Französisch
  • Abmessung: 235mm
  • Gewicht: 538g
  • ISBN-13: 9783888491245
  • ISBN-10: 388849124X
  • Artikelnr.: 20927183
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.2008

Poesie des leichten Schritts

Der gehende Mensch kennt keine Verzweiflung: Jacques Réda streift durch die Ruinen von Paris und durchmisst die Metropole vom Sternenhimmel bis zum Rinnstein.

Wer die Maison Balzac im vornehmen sechzehnten Pariser Arrondissement besucht und danach die schmale Rue Berton, die dort wie ein letzter Rest des alten Passy versteckt liegt, hinunter zur Seine geht, stößt unweigerlich auf die Avenue Marcel Proust. Hätte Proust nicht noch seine Allee auf den Champs-Élysées, man müsste ihn ob solcher Namensgebung bedauern: ausgerechnet diese gesichtslose kurze Straße unterhalb der aufragenden bürgerlichen Wohnfestungen, dieses "Ksars mit seinen Lüftungsschächten für die Wäsche der Leute aus dem Keller, seiner arroganten Festungsmauer, deren höchste Fenster auf dem linken Seineufer die Errichtung des urbanen Florida anderer Emporkömmlinge registrieren".

Diese bürgerlichen Residenzen, ein "urbanes Florida" am anderen Seineufer, stehen schon lange: Der zitierte Text von Jacques Réda stammt aus den siebziger Jahren, als die Neubauten gerade hochgezogen wurden. Und etwas weiter flussabwärts streift sein Autor durch die aufgelassenen Hallen der Citroën-Werke. Er weiß, dass "morgen der unerbittliche Vormarsch der Prachtgrabmäler des Front de Seine das alles zermalmen wird". Ruinen haben keine Dauer in der Stadt, und gerade deshalb sind ihm die Abbruchhäuser und Baustellen, die toten Bahngleise und "leeren Gelände" Orte, zu denen es ihn immer wieder zieht.

Jacques Réda, heute fast achtzig Jahre alt, ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen französischen Dichter. Die 1977 erschienenen "Ruinen von Paris", ein Zyklus von Prosagedichten, ist wohl herausragend unter den Büchern, die aus seinen Streifzügen durch Paris und durch die - gleich hinter Paris beginnende - französische Provinz hervorgegangen sind. Es schließt an eine Tradition an, in der die Aufmerksamkeit für den Wandel der Stadt, für die Ungleichzeitigkeiten von gerade noch sichtbarem Alten und dem sich Bahn brechenden Neuen poetisch geschärft wurde. Baudelaire kommt einem unweigerlich in den Sinn und die Stadterkundungen der Surrealisten, Aragons "Pariser Bauer" und Bretons "Nadja", am Rande vielleicht auch ein passionierter Flaneur wie Léon-Paul Fargue, der "Fußgänger von Paris".

Doch so deutlich auch von den ersten Seiten an ist, dass Rédas Evokationen mit hohen poetischen Einsätzen umgehen: Die allegorische Wucht Baudelaires ist seine Sache nicht, und die surrealistische Suche nach dem Merkwürdigen und Wunderbaren ist bei ihm abgelöst durch eine Praktik und Poetik des Herumstreifens, die davon ausgeht, dass die poetische Transfiguration in jedem Moment Platz greifen kann. Gewisse Vorlieben schließt das gewiss nicht aus, doch bleiben sie im Horizont eines alltäglichen Umgangs mit der Stadt, in der Réda seit 1953 lebt.

Auf faszinierende Art vereinen die "Ruinen von Paris" zwei Momente, die in der Tradition des Schreibens von Paris meist auseinanderfallen: Sie sind Dichtung hohen Rangs, deren Faszinationskraft durchaus an der Sprache, nicht an den evozierten Realien hängt. Zumal das ikonisierte Paris fast ganz fehlt, die Texte das Zentrum nur streifen und dann schnell einer Bewegung zur Peripherie folgen, bis zu den Vorstädten und im letzten Teil über Paris hinaus. Doch verbindet sich dieser Charakter ganz mühelos mit der äußersten Konkretion der Stadtbeschreibungen, mit den Evokationen bestimmter Straßen, Plätze und Viertel.

"Die Verzweiflung existiert nicht für einen gehenden Menschen, unter der Bedingung, dass er wirklich geht und sich nicht unaufhörlich umdreht, um mit dem anderen zu palavern, bei ihm Mitleid zu heischen, sich ihm gegenüber hervorzutun." So hält es gleich das erste Stück fest, und es verwundert nicht, dass auch für die Poetik Rédas der zügige und doch leichte Schritt von Bedeutung ist. Die Leichtigkeit verdankt sich einer Balance der verschiedenen Register, mit denen Réda souverän umzugehen weiß. Wenige Zeilen nur braucht der furiose Beginn, der den Einbruch der Nacht über einem Park beschreibt, um bei der "unüberwindlichen Sternenhülle" anzulangen. Doch genau in diesem Moment stolpert der Autor über die Raseneinfassung: eine Einstimmung auf die Übergänge zwischen den verschiedenen Tonlagen, die der Zyklus zu bieten hat, von der Elevation angesichts der Überfülle der Welt bis zur Schimpfkanonade auf die Autofahrer.

Der Leser der "Ruinen" steht vor unerwarteten Verwandlungen der Stadt, die ihm dadurch fremder und vertrauter in einem Zug wird. So wie es Réda selbst vorführt, wenn unter seinem Blick von der Metrostation Passy aus das wohlbekannte Terrain auf der anderen Seite der Seine "zum Vorposten eines kaum vorstellbaren, geradezu chinesischen Territoriums" wird. Die in die Flanke des Hügels geschmiegte Metrostation selbst aber erscheint als Übergangsort "zwischen dem Sockel eines Berges und dem Raum des erneuerten Himmels". Dort sieht der Dichter dem Verkehr der Züge zu, die drüben aus dem Untergrund auftauchen oder in ihm verschwinden, liest in einem Buch und wartet auf nichts Bestimmtes.

Man kann es ihm noch nachtun, vielleicht mit Rédas Text in der Hand, der nun in einer vorzüglichen Übersetzung und zweisprachigen Ausgabe vorliegt. Ein faszinierendes Buch ist zu entdecken. In einer Sammlung neuerer französischer Literatur darf es nicht fehlen, und Pariser Spaziergänger, die sich abseits ausgetretener Pfade zu bewegen wissen, sollten an ihm nicht vorbeigehen.

HELMUT MAYER

Jacques Réda: "Die Ruinen von Paris. Les Ruines de Paris". Aus dem Französischen übersetzt von der Gruppe "Transports". Herausgegeben von Wolfram Nitsch. Verlag Karl Stutz, Passau 2007. 224 S., geb., 22,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Fasziniert ist Rezensent Helmut Mayer von Jacques Redas Prosazyklus "Die Ruinen von Paris", der, ursprünglich 1977 erschienen, nun in einer deutsch-französischen Ausgabe vorliegt. Unter den Büchern Redas, die aus seinen Streifzügen durch Paris hervorgegangen sind, scheint ihm dies das bedeutendste zu sein. Er stellt das Werk in die Tradition einer Dichtung, die mit präzisen und poetischen Blick den "Wandel der Stadt" beobachtet. An Baudelaire fühlt er sich erinnert oder auch die Stadterkundungen der Surrealisten, sieht aber auch gravierende Unterschiede: Redas teilt in seinen Augen weder die "allegorischeWucht" Baudelaires noch die surrealistische Suche nach dem "Merkwürdigen und Wunderbaren". Vielmehr konstatiert Mayer bei ihm eine "Praktik und Poetik des Herumstreifens". Er hebt den "zügigen", aber "leichten" Schritt hervor, mit dem Reda durch die Stadt schweift, der sich auch in der Poetik des Dichters widerspiegle und in der Leichtigkeit seiner Gedichte, die sich einem virtuosen Umgang mit den poetischen Mitteln verdankt. Mit Lob bedenkt er auch die auch die ausgezeichnete Übersetzung des Werk, das in einer Sammlung neuerer französischer Literatur nicht fehlen dürfe.

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