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Uwe Johnson, Anfang zwanzig und Student, wechselt zum Wintersemester 1954 von Rostock nach Leipzig, in die (wie er später schreibt) 'wahre Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik'. Jochen Ziem, zwei Jahre älter als Johnson und ebenfalls Student, wechselt gleichzeitig von Halle nach Leipzig. Beide studieren Germanistik bei dem legendären Hans Mayer, beide stehen dem Studium skeptisch gegenüber, beide wollen Schriftsteller werden - gute Voraussetzungen für eine intensive und durchaus fröhliche Freundschaft.Jochen Ziem aber wechselt schon im Frühjahr 1955 abermals: diesmal verlässt er…mehr

Produktbeschreibung
Uwe Johnson, Anfang zwanzig und Student, wechselt zum Wintersemester 1954 von Rostock nach Leipzig, in die (wie er später schreibt) 'wahre Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik'. Jochen Ziem, zwei Jahre älter als Johnson und ebenfalls Student, wechselt gleichzeitig von Halle nach Leipzig. Beide studieren Germanistik bei dem legendären Hans Mayer, beide stehen dem Studium skeptisch gegenüber, beide wollen Schriftsteller werden - gute Voraussetzungen für eine intensive und durchaus fröhliche Freundschaft.Jochen Ziem aber wechselt schon im Frühjahr 1955 abermals: diesmal verlässt er die DDR, zieht zunächst nach Hannover, dann nach Düsseldorf und West-Berlin. Er arbeitet als Journalist, veröffentlicht Erzählungen, Fernsehspiele und Theaterstücke, bleibt aber trotzdem bis zu seinem Tod 1994 ein 'Erzähler, den keiner kennt' (FAZ).Die Postkarten, manche mit Zeichnungen oder Fotos versehen, und Briefe, die Johnson von Leipzig aus an Ziem schreibt, handeln vom Studium und den Studenten, von den Nöten des Alltags und den Überlegungen eines angehenden Schriftstellers über die Sprache, den Stoff des Erzählens, über Ironie und Sprachkunst - und sind selber Beispiele einer Sprachbegabung, die selbst aus Mitteilungen über das Wetter unterhaltsame, manchmal atemberaubende Kunststücke zaubert.Unveröffentlichte Briefe Uwe Johnsons an Jochen Ziem und Texte von Jochen Ziem über ihre Leipziger Zeit.
Autorenporträt
Erdmut Wizisla, 1958 in Leipzig geboren, Literaturwissenschaftler, Leiter des Bertolt-Brecht-Archivs (Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin). Veröffentlichungen über Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Heiner Müller, Uwe Johnson sowie zu editions- und archivwissenschaftlichen Themen. Er lebt in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.05.2003

Fragen Sie doch Gesine Cresspahl!
Der schwierige Freund: Uwe Johnson, gesehen mit den Augen seiner Gefährten

Als ich Uwe Johnson bei seinem Besuch in Göttingen am 25. Mai 1975, etwa ein Jahr nach seinem Umzug ins englische Sheerness-on-Sea, fragte, wie denn dieses englische Städtchen auf der in der Themsemündung gelegenen Kanalinsel Sheppey sei, in dem er nun lebe, antwortete er: "Keine Ahnung. Fragen Sie meine Frau. Ich sitze im Keller und schreibe."

In einem Brief an Max Frisch findet sich Johnsons eigene Beschreibung seines Arbeitsplatzes: "Unter der Treppe ein ausgebautes Kellergeschoß, tiefer als die Straße liegend, das hat vorn als Ausblick besten Falles Passanten und Autos in merkwürdiger Verkürzung, nach hinten zwar den Garten. Wer da aber ein komplettes Büro unterbringen könnte und beim Schreiben nicht aus dem Fenster sehen will, dem macht das nichts."

Ihm machte das nichts. Das komplette Büro ist karg eingerichtet. Ein Foto von 1984 zeigt auf dem nackten Fliesenboden einen gut zwei Meter langen, sperrigen Schreibtisch, rechts davor ein Klapptischchen mit Stövchen, links davor einen kleinen Tisch mit elektrischer Schreibmaschine und breiter Bürolampe; neben der Schreibmaschine links einen Weltempfänger, rechts die aufgeschlagene Agenda; gegenüber dem Schreibplatz an der Wand eine große Bahnhofsuhr mit römischen Ziffern; auf dem Schreibtisch zwei Pfeifen, Pfeifenstopfer und Aschenbecher, verstreut Papiere, Briefe, ein Päckchen, ein offenes Buch.

So hat Uwe Johnson seinen Schreibplatz hinterlassen, an dem er wohl bis zum 22. Februar 1984 gearbeitet hat, denn die Agenda war bei diesem Tag aufgeschlagen. In dem kleinen Pub, wo er regelmäßig seine Pints trank, wurde er an diesem 22. Februar zum letzten Mal gesehen. Drei Wochen danach, am 13. März, öffnete man das Haus und fand den Schriftsteller tot im Wohnzimmer, vornüber aus dem Ledersessel gefallen, den Kopf am Couchtisch angeschlagen. Er hatte offensichtlich getrunken, wie immer viel getrunken. Er wurde nur 49 Jahre alt.

Im Wohnzimmer hing, neben einer großen Landkarte und alten Stichen von Mecklenburg, ein Gedicht von Thomas Brasch, ausgeschnitten aus dieser Zeitung und gerahmt. Brasch hatte es anderthalb Jahre zuvor, im Herbst 1982, nach einem Besuch bei Johnson geschrieben und ihm gewidmet; darin die Zeilen: "Und wie in dunkle Gänge / mich in mich selbst verrannt, / verhängt in eigne Stränge / mit meiner eignen Hand."

Das Gedicht benennt Uwe Johnsons tiefe Depression der letzten Lebensjahre und einen Verfolgungswahn, in den er sich damals so unbedingt hatte fallen lassen - vor allem mittels der fortwährenden Ineinanderspiegelung seiner jahrelangen Schreibhemmung und des angeblichen Verrats seiner Frau Elisabeth an ihm und dem Projekt "Jahrestage". Es ist durchaus denkbar, darin die Instrumentalisierung eines nur vorgeblichen Verrats zur Erklärung der Schreibhemmung zu sehen. In der letzten seiner Frankfurter Poetikvorlesungen, veröffentlicht unter dem Titel "Begleitumstände", hatte Johnson 1979 mitgeteilt, was er als Grund für seine Schreibhemmung gelten und ansehen lassen wollte: Im Juni 1975, als er den letzten Band habe abschließen wollen, sei ihm nämlich eröffnet worden, seine Frau Elisabeth habe über anderthalb Jahrzehnte, seit 1961, während Johnson schon in West-Berlin lebte und sie in Prag noch studierte, ein Verhältnis mit einem "Vertrauten" des tschechoslowakischen Staatssicherheitsdienstes. Später behauptete er gar, die Tochter Katharina sei nicht von ihm.

Solange niemand von dieser Eröffnung wußte, deren Wahrheitsgehalt mehr als zweifelhaft ist, lebte die Familie Johnson zusammen in Sheerness, unternahm auch noch eine gemeinsame Reise in die Vereinigten Staaten. Erst 1978, als ein Kritiker den privaten Fall zu einem öffentlichen zu machen sich anmaßte, trennte sich Johnson von Frau und Tochter, die fortan, ein paar Blocks entfernt von der Marine Parade, ebenfalls in Sheerness lebten. Sie haben, soviel man weiß, nie wieder miteinander gesprochen.

Das war die Situation, als der Schriftsteller Thomas Brasch Johnson 1982 besuchte. Um Johnson abzulenken von seiner paranoiden Vorstellung, der tschechische Geheimdienst habe an seinen "Jahrestagen" gleichsam mitgeschrieben, hatte er Johnson vorgeschlagen, den vierten Band der "Jahrestage" nicht mehr auszuschreiben, sondern nach den drei komponierten Bänden als reine Sammlung des recherchierten Materials zu veröffentlichen. Johnson, der wohl gespürt hat, daß dieser Vorschlag nicht seriös, sondern eher als "pädagogische Maßnahme" gemeint war, bekam, so Brasch, "einen Wutanfall" und fragte ihn, ob er ihm nicht zutraue, "den Roman zu Ende zu schreiben".

Er hat ihn zu Ende geschrieben. Am 17. April 1983, ein Jahr später, setzte er den letzten Punkt unters Manuskript - Band 4 der "Jahrestage" erschien im Herbst dieses Jahres.

Diese Geschichte hat Thomas Brasch im März 2001, wenige Monate vor seinem Tod, Thomas Wild erzählt, und sie ist, als ausführliches Gespräch, abgedruckt in dem Band "Befreundungen", der Gespräche, Dokumente und Essays über Uwe Johnson sammelt, die von Roland Berbig, Thomas Herold, Gesine Treptow und eben Thomas Wild geführt, beschafft und geschrieben wurden. Er setzt damit die Recherchen über Uwe Johnson fort, die Roland Berbig und Erdmut Wizisla 1993 in dem Band "Wo ich her bin. Uwe Johnson in der D.D.R." begonnen haben.

Über Johnsons Zeit in der DDR gibt auch ein Bändchen mit Briefen von Uwe Johnson an den ehemaligen Freund Jochen ("Schochen") Ziem Auskunft - Ziems Briefe sind leider nicht erhalten. Johnsons Briefe zeigen, wie er schon in der Mitte der fünfziger Jahre in seinen "Briefen jongliert mit Gestelztheiten, Archaismen, Untertänigkeitsfloskeln, synthetischen, kryptischen und offenen Zitaten, Anspielungen, Dialogfetzen, expressiver Syntax und Interpunktion", die, so der Herausgeber Erdmut Wizisla, "Kennzeichen seiner literarischen Sprache sind". Ziem war im Frühjahr 1954 aus Halle nach Leipzig gekommen und hatte sich dort mit Johnson befreundet, der nach seiner Relegation und neuerlichen Zulassung Rostock den Rücken gekehrt hatte, um fortan in Leipzig zu studieren. Doch Ziem hatte die DDR schon 1955 verlassen, und ein Teil der Briefe Johnsons spiegelt die Hoffnung auf Ziems Rückkehr, schließlich sogar die unbedingte Forderung nach ihr. Ziem aber blieb und etablierte sich in den sechziger und siebziger Jahren als Dramatiker, geriet danach in Vergessenheit und starb 1994.

In der Bundesrepublik haben sich die beiden kaum getroffen - und auch diese Freundschaft ging in die Brüche, weil Johnson sich von Ziem verraten glaubte; noch als sich herausstellte, daß Johnson im Unrecht war, hat er seine Beschuldigung nur unter anwaltlichem Druck zurückgenommen. Nein, Uwe Johnson war niemandem ein leichter Freund.

Davon erzählen auch die "Befreundungen". Dieses Buch, ebenso wie das erste, verrät mehr über Uwe Johnson, als alle bisher erschienenen Monographien über Johnson zusammengetragen haben - und wäre deshalb vielleicht sogar von Johnson, hätte er sein Erscheinen erleben können, zurückgewiesen worden: als zu privat, zu persönlich. Denn vor allem erzählt "Befreundungen" seine Geschichten authentisch - keineswegs verklärend, sondern nüchtern und manchmal ziemlich kritisch; denn es berichten alle, die mit ihm befreundet waren, die ihm näherstanden oder unmittelbar mit ihm zu tun hatten. Und manches erzählen die Herausgeber nach auf Grund genauester Recherchen im Johnson-Archiv.

So rekonstruiert Roland Berbig das Verhältnis Johnsons zu Wolfgang Neuss, der über Johnson schrieb: "Ich verliebte mich in diesen Fleischkoloß. Alles ist Ironie. Er ist keine." Berbig erzählt über beider intensive Beziehung in ihrer Berliner Zeit, auch über die Gruppe 47, und beschreibt die Spannung zwischen Neuss, der Johnson damals "für eine operativ wirkende Kunst gewinnen wollte", und Johnson, der sich diesem Ansinnen verweigerte, weil alles, was Neuss mit seinem Öffentlichkeitsdrang bewußt bewirken wollte, Johnson schon als bloß zufälliges Ergebnis seiner Schriftstellerei abstieß. Und lange nach Johnsons Tod hinterließ Neuss die Bemerkung: "Seitdem Uwe tot ist, hab' ich bei ihm gelesen, daß das Ehrliche und die Wahrheit nicht das Letzte sind. Es ist die Genauigkeit." Auch Klaus Wagenbach benennt ausdrücklich Johnsons "Sucht nach Wahrheit", der kaum jemand habe standhalten können, und bezeichnet Johnson als einen sehr deutschen Autor: "gründlich, sauber, wahrheitsbesessen".

Eine andere Recherche Berbigs gilt Johnsons Beziehung zu Hans Werner Richters "Politisch-literarischem Salon" in Berlin, aus dem so manches Gespräch über den Funk und später übers Fernsehen ging. Eines, vom 26. Mai 1964, ist hier abgedruckt, in dem Richter eine Gesprächsrunde von Johnson mit dem Intendanten des NDR Ernst Schnabel, dem Soziologen Theo Pirker und Franz Josef Strauß moderierte zur Frage, ob der Kalte Krieg nun zu Ende gehe oder die Blöcke sich auflösten - ein Lehrbeispiel für die eloquente Sprachlosigkeit zwischen Intellektuellen und Politikern. Und Toni Richter, die Frau des Gruppe-47-Häuptlings, ergänzt Berbigs Bericht um anekdotenhaltige Auskünfte über die Treffen der Gruppe, an denen Johnson regelmäßig teilgenommen hat, und aus der Berliner Zeit, in der ihr Haus ein Zentrum der Berliner Schriftsteller war.

Eines der für Johnsons literarische Bezüge aufschlußreichsten Gespräche hat Reinhard Baumgart geführt, für den Johnson ein "Riese im Nebel" war: ein einsamer Mann und ein ängstlich Liebender, der Angst hatte vor Verrat und auf Treue bestand; darin sei er konservativ, ja altmodisch gewesen. Baumgart hat Johnson und sein Werk von Anfang an kritisch begleitet und ihm 1971 auch die Büchnerpreis-Rede gehalten, nachdem Hannah Arendt Johnsons Wunsch, sie möge ihn laudieren, nicht entsprochen hatte.

Von Baumgart stammt auch der Hinweis auf Johnsons erstaunliche Arbeitsweise "mindestens für die ersten drei Bücher": "Ein Jahr lang sitzt da jemand und denkt seinen Roman aus, ohne eine Notiz, das ist wichtig, und ein Jahr schreibt er." Was erklären würde, wie sehr selbst nach den Niederschriften seiner Bücher Johnson sich noch in ihrer Landschaft bewegte und mit deren Personal umging: als seien seine fiktiven Romanwelten Realität. Dazu hat einer seiner wenigen wirklichen Freunde, Jürgen Becker, gesagt: Johnson sei der rigoroseste Autor gewesen in seiner Methode, die Fiktion für die Wirklichkeit zu nehmen; und er habe seine Figuren mehr geliebt als die Menschen.

Das erfuhr so mancher, der nach 1975 mit Johnson in Berührung kam und mit ihm über die "Jahrestage" sprach. Sie waren seine Lebens-Welt, in der er dachte, mit deren Personen er umging wie mit seinesgleichen. Fragte man ihn nach einem Detail aus Gesine Cresspahls Welt, so antwortete er mit seiner tiefen Stimme: Das weiß ich nicht. Fragen Sie Gesine Cresspahl selbst.

Peter Rühmkorf übrigens lehnte die "Jahrestage" entschieden ab: "Eine Kapitulationsurkunde. Es kommt ja außer Zeitungslektüre nicht sehr viel Weltbewegendes vor, (. . .) und da schleift er dann auch noch diese Cresspahl-Familie wie einen Schlagschatten seiner eigenen Vergangenheit hinter sich her, als ob sich das Plusquamperfekt unendlich verlängern ließe . . ." - aber gesagt hat er es dem guten Bekannten und halben Freunde nicht: "Wir sind immer gutartig miteinander umgegangen." Aber nicht immer ganz ehrlich.

Die "Befreundungen" - der Titel stammt immerhin von Rühmkorf - sind eine Fundgrube überraschender Eröffnungen und Erfahrungen. So berichtet Peter Wapnewski, der sich mit Johnson duzte, daß sie während ihrer Freundschaft nie über Literatur gesprochen haben. Und er charakterisiert des Freundes Welt als eine "Welt der Ordnung, der Geradlinigkeit, der Rechtwinkligkeit . . ."; was sich nicht nur mit Wagenbachs Urteil trifft.

Aber das Buch liefert auch eine Fülle von Beglaubigungen, die sich mit Urteilen über Johnson und sein Werk (Baumgart: Johnsons Werk sei von seiner Person nicht zu trennen) verbinden - und was hier erzählt wird, sind nur ein paar besonders charakterisierende Bruchstückchen aus viel größeren Zusammenhängen. So berichten unter anderen Tankred Dorst und Marianne Frisch über ihre frühe und Johnsons zuweilen heikle Freundschaft mit Max Frisch; Walter Kempowski erzählt, wie er Johnson ein freundlicher, Johnson ihm aber ein heftiger Lektor war; und mit Margret Boveri verband Johnson das große Thema des politischen Verrats.

All diese Geschichten aber handeln von Befreundungen unterschiedlicher Art. Uwe Johnson war all diesen Freunden kein leichter Freund. Denn er nahm sie ernst, manchmal wohl sogar ernster als sie sich selbst.

"Uwe Johnson. Befreundungen. Gespräche, Dokumente und Essays". Hrsg. von Roland Berbig, Thomas Herold, Gesine Treptow und Thomas Wild. KONTEXT Verlag, Berlin 2002. 544 S., geb., 30,- [Euro].

Uwe Johnson: "Leaving Leipsic next week". Briefe an Jochen Ziem . Mit Texten von Jochen Ziem. Hrsg. von Erdmut Wizisla. Transit Buchverlag, Berlin 2002. 126 S., br., 14,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.01.2003

Der Mann, der die Kommas abschaffen wollte
Der Leipziger Student Uwe Johnson in seinen Briefen an Jochen Ziem und der Entfreundungsvirtuose Uwe Johnson in Gesprächen und Erinnerungen seiner Zeitgenossen
In einer studentischen Literatenclique, die auf sich hält, muss es ein wenig zugehen wie in einem konspirativen Geheimdienstzirkel. Die Anspielungen darf nicht jeder verstehen, die Klarnamen hinter den Pseudonymen nicht jeder entschlüsseln können. Als Lessing oder Goethe in Leipzig studierten, war noch Latein das unerschöpfliche Reservoir der Verballhornungen und Blödeleien. Als Uwe Johnson (1934-1984) Anfang 1955 nach Leipzig kam, um hier das nach der Rostocker Exmatrikulation gefährdete Studium doch noch fortzusetzen, trug er maßgeblich dazu bei, das Englische zur Sprache der Eingeweihten zu machen.
Im Zirkel um die Linguisten Manfred Bierwisch und Klaus Baumgärtner hieß er schnell „Ossian”. Wie Parolen funktionierten die Anglizismen in Gespräch und Korrespondenz, zudem als lässige Demonstration der Distanz zur Sprache der heimischen Bürokratie. Aus Johnsons Leipziger Zeit, in deren Zentrum die Seminare und Vorlesungen bei Hans Mayer, die Referate über Kafka, Otway, die Arbeit über Ernst Barlach standen, stammen die jetzt von Erdmut Wizisla aus dem Archiv der Berliner Akademie der Künste herausgegebenen Briefe an Jochen Ziem (1932-1994).
Ziem, auf den im Westen eine bescheidene Karriere als Journalist, Drehbuchschreiber, Erzähler und Romancier wartete, hatte die DDR bereits im Frühjahr 1956 verlassen. Johnsons Briefe gehen zunächst an einen Kommilitonen, von dem nicht recht klar ist, ob er zurückkehrt. Aber nicht nur dieses Schreiben über die Grenze hinweg gibt den 19 Briefen, 17 Postkarten und 5 Ansichtskarten, die Johnson an Ziem geschickt hat, ihren Reiz. Sondern auch ihr Charakter als Chiffrier- und Anspielungsterrain sowohl des politisch unbotmäßigen Studenten wie des Schriftstellers, der an „Ingrid Babendererde” arbeitet. Wenn er mit „Slim” unterschreibt, dann vielleicht nicht nur mit Blick auf den betrunkenen Cowboy aus Amerika, sondern auch im Bewusstsein, einen Namensvetter im Werk von Laurence Sterne zu haben.
Der sorgfältig gestalteten, mustergültig kommentierten Edition sind statt der nicht erhaltenen Briefe Ziems dessen bitterböse Erinnerungen an die zerbrochene Freundschaft mit Johnson beigegeben. Außerdem kleinere Texte, die Ziem unter Pseudonym noch in der DDR veröffentlichte, und sein harter „Brief aus Halle, Juni 1953”, eine Momentaufnahme zum 17. Juni in der Provinz.
Überraschend ist der Titel, den Roland Berbig, eine Bemerkung von Peter Rühmkorf aufgreifend, seiner Sammlung von Dokumenten und Interviews über Uwe Johnson gegeben hat: „Befreundungen”. Wer in dem Band blättert, wird vor allem auf „Entfreundungen” und Irritationen stoßen. Enzensberger und Walser haben es gar abgelehnt, sich überhaupt zu Johnson zu äußern. Marianne Frisch sagt vor allem, dass sie nichts sagen will und von Anekdoten und Beziehungsklatsch über Schriftsteller und ihre Ehefrauen wenig hält. Peter Wapneswki kann sich an den Duz-Freund von einst kaum erinnern. Reinhard Baumgart allzu genau an all die Peinlichkeiten, die ihm Johnson einbrachte, darunter die Laudatio zum Büchner-Preis 1971.
Interessant ist dieser von allzu vielen Details aufgeschwemmte Band vor allem dort, wo die Gesprächspartner nicht noch im nachhinein vor Johnson auf die Knie gehen. So wenn Klaus Wagenbach begründet, warum er den vierten Band der „Jahrestage” nicht publiziert hätte, wenn Peter Rühmkorf sich erinnert, wie „altertümlich” ihm Johnsons „Mutmaßungen über Jakob” vorkamen oder wenn Wolfgang Neuss aus dem Archiv auftaucht und brieflich mit Johnson in den Nahkampf geht.
Das dunkle Glanzstück dieses ungleichmäßigen Buches ist das im März 2001 geführte Gespräch mit Thomas Brasch, der Ende 2001 starb. Nicht nur wegen der Genauigkeit, mit der Brasch die eigene Nähe und Distanz zu Johnson im Gefüge der Generationen formuliert. Sondern zugleich und vor allem wegen der Härte, mit der hier ein Leser dem Autor Johnson Paroli bietet, einer, der radikal weglässt, was er nicht brauchen kann, der außer der „Skizze eines Verunglückten” keines seiner Bücher zu Ende gelesen hat. Und der ihm womöglich doch sehr nahe kommt mit seinen hellsichtigen Beobachtungen zum vierten Band der „Jahrestage” und dem ausgebliebenen „Luftholen”, das ihm hätte folgen können.
LOTHAR MÜLLER
UWE JOHNSON: „Leaving Leipsic next week”. Briefe an Jochen Ziem. Texte von Jochen Ziem. Herausgegeben und eingeleitet von Erdmut Wizisla. Transit Verlag, Berlin 2002. 124 Seiten, 14,80 Euro.
ROLAND BERBIG u.a. (Hrsg): Uwe Johnson. Befreundungen. Gespräche, Dokumente, Essays. Kontextverlag, Berlin und Zepernick 2002. 544 Seiten, 30 Euro.
Uwe Johnson als Leipziger Student und, selbstgezeichnet, als Schnörkel-Schnösel mit Pfeife.
Fotos: Suhrkamp Verlag / Archiv der
Akademie der Künste, Berlin
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Jochen Ziem gehörte einer Zeitlang zu Johnsons Leipziger Freundeskreis, bevor er sich 1955 in den Westen aufmachte. Anschließend schrieben sich die Freunde noch bis Ende des Jahres 1957, erzählt Roland Wiegenstein, wobei leider nur Johnsons Anteil an dieser Korrespondenz erhalten geblieben sei. Die Briefe lagern im Ziem-Archiv der Berliner Akademie der Künste; Erdmut Wizisla vom Berliner Brecht-Archiv hat sie gesichtet und ebenso klug wie diskret kommentiert, findet Wiegenstein, der Transit-Verlag wiederum habe sich um eine sorgfältig Ausstattung des Buches mit Fotos und Faksimiles verdient gemacht. Für die Forschung sind die 37 Schriftstücke nur in Maßen interessant, vermutet Wiegenstein. Zwar sei der unverwechselbare Johnson-Ton aus den "Jahrestagen" und den "Mutmaßungen" schon herauszuhören, dennoch sieht Wiegenstein die Briefe eher als stilistische Erprobungsphase, in der Johnson auch den banalsten Mitteilungen einen interessanten Dreh abzugewinnen versuchte. Das wiederum macht den Reiz dieses Textkonvoluts aus, erklärt der Rezensent. Daneben enthielten die Briefe eine Menge abstruser Formulierungen und Anspielungen, die ihm wie ein studentischer Geheimcode vorkommen.

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