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Produktdetails
  • Verlag: Transit Berlin
  • 1999.
  • Seitenzahl: 294
  • Deutsch
  • Abmessung: 240mm
  • Gewicht: 490g
  • ISBN-13: 9783887471415
  • ISBN-10: 3887471415
  • Artikelnr.: 07932502
Autorenporträt
Ines Geipel, geb. 1960 in Dresden, sechs Jahre DDR-Hochleistungssport mit Zwangsdoping und Weltrekord über 4 x 100 Meter. Nach dem Germanistik-Studium in Jena 1989 Flucht nach Westdeutschland und Studium der Philosophie und Soziologie in Darmstadt. 1996 gibt sie Gedichte und Prosa von Inge Müller heraus; daneben u.a. eigene Texte (ein Roman, eine Gedichtsammlung). Heute ist sie Professorin an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und Mitarbeiterin des Hannah-Arendt-Instituts.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.04.2000

Die Norm in den Köpfen
Ines Geipel erinnert an vergessene Autorinnen der frühen DDR

Wenn von Kunst und Literatur der DDR die Rede ist, wird in der Regel über das gesprochen, was seinerzeit veröffentlicht wurde oder im Parteiauftrag entstanden ist. Die Magazine der ostdeutschen Museen enthalten freilich auch zahlreiche Kunstwerke, die noch nie auf einer großen Ausstellung zu sehen waren. Manche Texte, die das SED-Regime ins Nichts verbannt hatte, werden nun gedruckt und feiern einen späten Triumph über ihre Zensoren.

Ines Geipel stellt in ihrer herausragenden Untersuchung vier vergessene Dichterinnen der frühen DDR vor: Susanne Kerckhoff, Eveline Kuffel, Jutta Petzold und Hannelore Becker. Präsentiert werden ausgewählte Schriften, Kurzbiografien, Fotografien, bibliografische Angaben und profund recherchierte Werkanalysen. Ein westdeutscher Zeitgeisthistoriker pries vor einigen Jahren die DDR einmal als das weiblichste Land Europas. Die vier weiblichen Biografien, die Ines Geipel ins Gedächtnis hebt, spielen in einer anderen DDR.

Susanne Kerckhoff, Jahrgang 1918, Halbschwester Wolfgang Harichs, 1945 zunächst SPD-, seit 1948 SED-Mitglied, Feuilleton-Redakteurin der "Berliner Zeitung", beging am 15. März 1950 Selbstmord. Vorausgegangen waren politische Auseinandersetzungen mit Walter Ulbricht, Paul Wandel und Stephan Hermlin um die Machenschaften kommunistischer Kapos in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Ausgebrochen war der Konflikt durch eine hintergründige Polemik Susanne Kerckhoffs über das Buch des holländischen Kommunisten Nico Rost, "Goethe in Dachau". Sie hatte sich kritisch zu den dort geschilderten antisemitischen polnischen Kapos geäußert. Hermlin beschimpfte sie daraufhin im Blatt der sowjetischen Militäradministration "Tägliche Rundschau" als "Berliner Redaktrice mit tantenhaftem Ton" und stellte die Frage, "was Frau Kerckhoff bewogen haben mag, ihr miserables Produkt in einem denkbar günstigen Moment an die Öffentlichkeit zu bringen". Hintergrund dieser Reaktion Hermlins waren westliche Veröffentlichungen über die roten Kapos von Buchenwald und SED-interne Funktionärsüberprüfungen von Westemigranten, denen zionistische Abweichungen und Kontakte zu angeblichen amerikanischen Agenten angelastet wurden.

Susanne Kerckhoff, eine Berliner Tochter aus gutem Hause, "trifft auf eine Realität des Ostens, in der ihre Haltung zunehmend unvereinbar und dementsprechend existentiell wird", kommentiert Ines Geipel. Die engagierte Redakteurin hatte vermutlich, ohne es zu wissen, in ein politisches Wespennest gestochen und war über Nacht zur Parteifeindin geworden. Sie hielt dem Druck und den politischen Verdächtigungen nicht Stand. Vier Tage vor ihrem Freitod erschien in der "Berliner Zeitung" ihr letztes Gedicht: "War es im Walde, / waren die Wege verschneit, / gingen die Kinder, / gingen im Walde zu weit./ (. . .) Bin wie die Kinder im Wald/ Sie sind erfroren / folg' ihnen bald."

Eveline Kuffel, ein Kriegskind Jahrgang 1935, Dichterin und diplomierte bildende Künstlerin, ist in der DDR regelrecht verstummt. Ines Geipel setzt ihre zerstobene Biografie aus Stasi- und Kaderakten wieder zusammen. Heraus kommt das Bild einer Frau, die den Mauerbau und die DDR ablehnte, sich aus der Gesellschaft in ein Zigeunerleben flüchtete, durch Kneipen zog, trank und zur Nichtsesshaften wurde. Eveline Kuffel stirbt 43-jährig an den Folgen eines Schwelbrandes in ihrem Bett. Einem ihrer Gedichte ist der Titel des Buches entnommen. "Die Welt ist eine Schachtel. Ich lach den aus, den ersten, der behauptete, sie sei rund und daß sie sich bewegt. (. . .) Was ist denn das - Australien, China, Afrika, Amerika? In einer Schachtel liegend, seh' ich auf Briefmarken."

Jutta Petzold, Jahrgang 1933, Tochter einer späteren SED-Aktivistin und Parteihochschuldozentin, ist die einzige noch Lebende unter den vier Autorinnen. Sie wohnt heute in einem Berliner Seniorenheim. Von Jutta Petzold erschien unter dem Pseudonym Ruth Corduan in der DDR 1958 lediglich die Erzählung "Zola". In Westdeutschland kamen zwei Bücher unter ihrem eigenen Namen heraus. Erich Arendt und Peter Huchel schätzten ihre Gedichte, Arnold Zweig nannte sie anerkennend "Poetessa". Doch nach einem missglückten Fluchtversuch aus der DDR im November 1961 war für sie kein Platz mehr im "Leseland DDR". Ines Geipel listet fünfundzwanzig bislang unveröffentlichte Werke Jutta Petzolds auf, die zwischen 1958 und 1966 entstanden sind.

Hannelore Becker, Jahrgang 1951, beging am 12. Februar 1976 Selbstmord. Sie begann schon als Sechzehnjährige zu schreiben, wurde Mitglied des Kulturbundes. Später studierte sie Kunstwissenschaften an der Humboldt-Universität und wurde in den Literaturclub des Berliner "Hauses der Jungen Talente" aufgenommen. 1971 unterschrieb sie eine Verpflichtungserklärung als Inoffizielle Mitarbeiterin der Staatssicherheit. Die Stasi wollte die junge Autorin zunächst in Jena an Jürgen Fuchs heranspielen. Als dieser kein Interesse an ihr zeigte, erhielt sie den Auftrag, aus Ost-Berliner Künstlerkreisen zu berichten. An der Doppelexistenz als Schriftstellerin und Spitzel zerbrach die junge Frau. Nach vier Jahren bat sie desillusioniert und tablettenabhängig um Entpflichtung aus dem Teufelspakt. Es kommt zur "Stillegung" ihrer inoffiziellen Mitarbeit. In den Monaten vor ihrem Freitod arbeitete sie intensiv an einem Kassandra-Stück. Von ihr stammen die Zeilen: "Beamte setzen die norm Kunst wie sie sein soll ist so / wie ihre köpfe Die lösung? Studiert nur das spiel."

JOCHEN STAADT.

Ines Geipel: "Die Welt ist eine Schachtel". Vier Autorinnen in der frühen DDR. Transit Buchverlag, Berlin 1999. 296 Seiten, br., Abb., 38,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Jochen Staadt ist begeistert von Ines Geipels Darstellung von Leben und Werk der vier DDR-Autorinnen, die heute kaum noch einer kennt. In ihrer "herausragenden Untersuchung" würden Schriftstellerinnen präsent, die eine andere - systemkritische - Seite zeigten, als die offizielle Literatur der frühen DDR. Staadt lobt die "profund recherchierten Werkanalysen" Geipels und zeigt sich erschüttert von dem dargestellten Schicksal der vier Frauen, von denen zwei Selbstmord begingen und eine durch einen Unfalltod umkam.

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