Eine Einführung in die Poetik des wichtigsten Autors der französischsprachigen Karibik. Édouard Glissant hat das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen stets als positiv betrachtet und daraus eine »Poetik der Vielheit« entwickelt, die uns ermöglicht, den Prozeß der Globalisierung auch als kulturelles Phänomen zu begreifen. In vier Essays skizziert er die Argumentation seiner Kulturphilosophie.Den Prozeß der »Globalisierung« der Welt hat der Romancier, Poet und Kulturphilosoph Édouard Glissant frühzeitig als kulturelle Tendenz ausgemacht und beschrieben. Er fand ihn als kreative Kraft im Zusammenleben der verschiedenen Kulturen seiner Heimat Martinique. Glissant konnte mit seiner »Poetik der Vielheit« die fragmentarische Theorie der weltweiten Beziehung entwerfen, die uns das philosophische Werkzeug liefert, um die Globaliserung als kulturelles Phänomen zu begreifen. Eine Poetik, die die Grenzen des Ästhetischen hinter sich läßt und sich aus ethnologischen, psychologischen und soziologischen Erkenntnissen speist. Mit »Kultur und Identität« liegt nun eine Zusammenfassung seines Ansatzes vor. Ein Glossar der Übersetzerin zu den Schlüsselbegriffen des Autors erleichtert den Zugang zum Gesamtwerk Édouard Glissants. Nicht nur für Studierende ein ideales Handbuch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.05.2006Karibik ist überall
Theorie der Kreolisierung: Vorträge von Édouard Glissant
Das Mittelmeer, das in der Antike einfach "unser Meer" genannt wurde, ist allseits von Küsten eingeschlossen und nur an einer schmalen Stelle mit dem weiten Ozean verbunden. Dagegen bietet die Karibik, wie Édouard Glissant sie uns erklärt, ein offenes Gewässer, eine See ohne Beckenrand, zwar voller Inseln, aber ohne Säulen eines Herkules, die sie begrenzen und über Ein- und Ausfahrt wachen. Deshalb sei das Mittelmeer, in dessen Küstenländern einst die monotheistischen Religionen aufkamen, ein Sammelbecken, in dem Kulturen sich jeweils als Konzentrat zusammenfänden, während in der Karibik sich Kulturen stets als bewegliche Konstellationen darstellten, entstanden durch Passagen und Transporte, Verluste und Zerstreuung und benannt oft nur aufgrund von Irrtümern im Logbuch. Dies aber müssen wir uns als einen glücklichen Umstand vorstellen, denn so ist der karibische Archipel seit langem eine Weltgegend der kulturellen Vielheit und Kreolisierung geworden, die ihre vielbeschworene Identität am besten zeigen kann, indem sie auf anderes verweist, das sie aufgenommen, angenommen, umgewandelt oder weitergegeben hat. Davon erzählt uns dieser Autor bildreich und wortstark in seinen Vorträgen, die jetzt protokolliert vorliegen. Auch Binnenländern hat er darin viel zu sagen, denn Küsten- und Konfliktlinien durchziehen heute jede Lebenswelt. Europa verliert sein Geländer und wird selbst zum Archipel. In Zukunft meinen wir den globalisierten Ozean, wenn wir "unser Meer" sagen. (Édouard Glissant: "Kultur und Identität". Ansätze zu einer Poetik der Vielheit. Aus dem Französischen übersetzt von Beate Thill. Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2005. 88 S., br., 15,80 [Euro].)
todö
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Theorie der Kreolisierung: Vorträge von Édouard Glissant
Das Mittelmeer, das in der Antike einfach "unser Meer" genannt wurde, ist allseits von Küsten eingeschlossen und nur an einer schmalen Stelle mit dem weiten Ozean verbunden. Dagegen bietet die Karibik, wie Édouard Glissant sie uns erklärt, ein offenes Gewässer, eine See ohne Beckenrand, zwar voller Inseln, aber ohne Säulen eines Herkules, die sie begrenzen und über Ein- und Ausfahrt wachen. Deshalb sei das Mittelmeer, in dessen Küstenländern einst die monotheistischen Religionen aufkamen, ein Sammelbecken, in dem Kulturen sich jeweils als Konzentrat zusammenfänden, während in der Karibik sich Kulturen stets als bewegliche Konstellationen darstellten, entstanden durch Passagen und Transporte, Verluste und Zerstreuung und benannt oft nur aufgrund von Irrtümern im Logbuch. Dies aber müssen wir uns als einen glücklichen Umstand vorstellen, denn so ist der karibische Archipel seit langem eine Weltgegend der kulturellen Vielheit und Kreolisierung geworden, die ihre vielbeschworene Identität am besten zeigen kann, indem sie auf anderes verweist, das sie aufgenommen, angenommen, umgewandelt oder weitergegeben hat. Davon erzählt uns dieser Autor bildreich und wortstark in seinen Vorträgen, die jetzt protokolliert vorliegen. Auch Binnenländern hat er darin viel zu sagen, denn Küsten- und Konfliktlinien durchziehen heute jede Lebenswelt. Europa verliert sein Geländer und wird selbst zum Archipel. In Zukunft meinen wir den globalisierten Ozean, wenn wir "unser Meer" sagen. (Édouard Glissant: "Kultur und Identität". Ansätze zu einer Poetik der Vielheit. Aus dem Französischen übersetzt von Beate Thill. Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2005. 88 S., br., 15,80 [Euro].)
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.12.2005Nicht-System und All-Welt
Édouard Glissant auf unsteter Suche nach der Identität
Kein älterer Hut als ein neues Buch. Édouard Glissant, von der Antilleninsel Martinique stammender Professor an der City University New York, hat eine gute Hand voll seiner Vorträge zusammengepackt und unter einen Obertitel gesteckt, der deren Inhalt nicht verfehlen kann, da er heutigen Tags so ziemlich auf alles passt, was die Welt zu bieten hat: Kultur und Identität.
„Zu Beginn will ich definieren, was ich mit einigen meiner Kollegen als erstes Merkmal des amerikanischen Kontinents ansehe, nämlich seine Aufteilung je nach dem, wer seine Siedler waren”, holperts im ersten Aufsatz. Ein Satz wie dieser sagt einiges über seinen Autor. Erstens liegt ihm das Denken nicht allzu sehr. Eine Klassifikation ist schließlich kein Merkmal, sondern richtet sich bestenfalls nach solchen. Zweitens liegt dem Autor um so mehr daran, Einwände gar nicht erst aufkommen zu lassen, hat er doch die Kollegen auf seiner Seite. Und drittens ist Letzteres auch gleich ein Grund, die eigene Sache möglichst langweilig, zum Beispiel als Erklärung der Absicht einer Definition, zu vertreten; solches wissen Kollegen als Ausweis von Seriosität zu schätzen: Da revanchiert man sich gern beizeiten mit einem Zitat.
Glissant reklamiert für sich ein „poetisches” Weltverständnis. Dessen Poesie lässt Nominalkaskaden auf den Leser einhageln wie: „die Veranlagung zur Identität der Beziehung zu begründen”. Wer solchem Jargon keinen rechten Sinn abzugewinnen wüsste, den beruhigt der Philosoph zwischendurch immer wieder einmal, er für sein Teil wolle jedenfalls allen wohl und niemandem weh: „Ich denke, alle Völker haben heute eine wichtige Präsenz im Nicht-System der Beziehungen der All-Welt wahrzunehmen”. Alle sind wichtig, aber etwas wichtiger noch als sie nimmt sich ein Autor, der es liebt, seine Sätze mit Phrasen wie „Ich sage immer, . . .” einzuleiten.
Eins liegt Édouard Glissant am Herzen: „Nach der Lektüre sollte der Eindruck einer unsteten Suche vorwiegen, die vielleicht in die Irre geht, nicht aber der eines in sich geschlossenen Systems”. Den gesollten Eindruck zu wünschen, war durchaus überflüssig. Denn wie sollte Argwohn vor geschlossenen Systemen aufkommen, wo weit und breit beim besten Willen nicht einmal eine schlüssige Überlegung auszumachen ist.
ANDREAS DORSCHEL
ÉDOUARD GLISSANT: Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit. Aus dem Französischen von Beate Thill. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2005. 87 Seiten, 15,80 Euro.
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Édouard Glissant auf unsteter Suche nach der Identität
Kein älterer Hut als ein neues Buch. Édouard Glissant, von der Antilleninsel Martinique stammender Professor an der City University New York, hat eine gute Hand voll seiner Vorträge zusammengepackt und unter einen Obertitel gesteckt, der deren Inhalt nicht verfehlen kann, da er heutigen Tags so ziemlich auf alles passt, was die Welt zu bieten hat: Kultur und Identität.
„Zu Beginn will ich definieren, was ich mit einigen meiner Kollegen als erstes Merkmal des amerikanischen Kontinents ansehe, nämlich seine Aufteilung je nach dem, wer seine Siedler waren”, holperts im ersten Aufsatz. Ein Satz wie dieser sagt einiges über seinen Autor. Erstens liegt ihm das Denken nicht allzu sehr. Eine Klassifikation ist schließlich kein Merkmal, sondern richtet sich bestenfalls nach solchen. Zweitens liegt dem Autor um so mehr daran, Einwände gar nicht erst aufkommen zu lassen, hat er doch die Kollegen auf seiner Seite. Und drittens ist Letzteres auch gleich ein Grund, die eigene Sache möglichst langweilig, zum Beispiel als Erklärung der Absicht einer Definition, zu vertreten; solches wissen Kollegen als Ausweis von Seriosität zu schätzen: Da revanchiert man sich gern beizeiten mit einem Zitat.
Glissant reklamiert für sich ein „poetisches” Weltverständnis. Dessen Poesie lässt Nominalkaskaden auf den Leser einhageln wie: „die Veranlagung zur Identität der Beziehung zu begründen”. Wer solchem Jargon keinen rechten Sinn abzugewinnen wüsste, den beruhigt der Philosoph zwischendurch immer wieder einmal, er für sein Teil wolle jedenfalls allen wohl und niemandem weh: „Ich denke, alle Völker haben heute eine wichtige Präsenz im Nicht-System der Beziehungen der All-Welt wahrzunehmen”. Alle sind wichtig, aber etwas wichtiger noch als sie nimmt sich ein Autor, der es liebt, seine Sätze mit Phrasen wie „Ich sage immer, . . .” einzuleiten.
Eins liegt Édouard Glissant am Herzen: „Nach der Lektüre sollte der Eindruck einer unsteten Suche vorwiegen, die vielleicht in die Irre geht, nicht aber der eines in sich geschlossenen Systems”. Den gesollten Eindruck zu wünschen, war durchaus überflüssig. Denn wie sollte Argwohn vor geschlossenen Systemen aufkommen, wo weit und breit beim besten Willen nicht einmal eine schlüssige Überlegung auszumachen ist.
ANDREAS DORSCHEL
ÉDOUARD GLISSANT: Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit. Aus dem Französischen von Beate Thill. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2005. 87 Seiten, 15,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Vielleicht lasen sich die Aufsätze des karibischen Autors Edouard Glissant vor zehn Jahren noch besser, so Rezensent Joseph Hanimann. Aber auch heute scheint die Lektüre noch zu lohnen. Glissant hatte damals die These aufgestellt, die ganze Welt sehe einer "Kreolisierung" entgegen. Damit meinte er, so Hanimann, nicht die Kulturvermischung, die es immer gab, sondern "ein Ereignis jäher Konfrontation bei vollem Bewusstsein". Ein Krieg zum Beispiel, oder das Aufeinandertreffen von Sklaven mit Kolonialherren. Die Frage, die sich für Glissant daraus ergab, war: Wie bewahrt man seine Identität, ohne sich dem Anderen zu verschließen. Glissant gleite dabei gelegentlich ins Unverbindliche ab, doch seine konkreten Anwendungsbeispiele, von denen es leider zu wenige gebe, findet der Rezensent immer noch anregend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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