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Seitdem das Gehirn als Residenz kognitiver Leistung erkannt wurde, vergleicht man es in der medialen Historiographie mit den komplexesten technischen Apparaten sei es Fließband oder Telegraph, Radiostation oder Computer. Während die technischen Funktionsprozesse jedoch zu Denkschablonen werden, die das Gehirn anschaulich machen sollen, entsteht aus der glibbrigen Masse eine fiktionale Konstruktion, deren Strukturen es für die Wissensproduktion nachzuahmen gilt. Diese Interferenz aus medialen Verfahren lässt gerade in der Gründungsphase der Sowjetunion unmittelbare Anwendungsfelder mit den…mehr

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Produktbeschreibung
Seitdem das Gehirn als Residenz kognitiver Leistung erkannt wurde, vergleicht man es in der medialen Historiographie mit den komplexesten technischen Apparaten sei es Fließband oder Telegraph, Radiostation oder Computer. Während die technischen Funktionsprozesse jedoch zu Denkschablonen werden, die das Gehirn anschaulich machen sollen, entsteht aus der glibbrigen Masse eine fiktionale Konstruktion, deren Strukturen es für die Wissensproduktion nachzuahmen gilt. Diese Interferenz aus medialen Verfahren lässt gerade in der Gründungsphase der Sowjetunion unmittelbare Anwendungsfelder mit den ihnen anhängenden Machtstrategien und Überwachungsmethoden entstehen. Die politisierte Verschaltung von der Wissenschaft über die Poetologie führt somit einerseits zurück zum Menschen, der in der Gestalt des Rezipienten das zerebrale Fundament des Neuen Menschen durch die ästhetischen Narrative verstehen und sich aneignen soll. Andererseits führt gerade die Rückkoppelung zu den postulierten Thesen, mit denen die Wissenschaft argumentiert und die sie zu verwirklichen strebt.
Autorenporträt
Wladimir Velminski ( 1976), Kunst- und Medienhistoriker, lehrt und arbeitet in Zürich und Berlin.[www.poetologien.de]
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Was genau gemeint ist mit dem Titel erklärt Michael Adrian dem Leser. Es geht um kybernetische Versuche zwecks ideologischer Gleichschaltung in der Sowjetunion. Wie das vor sich ging, welche Wissenschaftler und Pseudowissenschaftler die Fäden zogen und was dabei herauskam, dokumentiert aus Ost- und Westquellen schöpfend der Wissenschaftsforscher Wladimir Velminski in diesem Band. Für Adrian ist nicht nur das Grenzgängertum des an der ETH Zürich lehrenden Velminski ein Glücksfall. Die Berichte über telepathische Versuche mit sägenden Arbeitern, mit Radio und Fernsehtechnik und Strahlenenergie zeigen dem Rezensenten auf anregende Weise, was sich die Sowjetmacht gesellschaftspolitisch so erträumte und was mit Gehirnprothesen abgesehen von Möglichkeiten zur Steigerung der geistigen Potenz noch gemeint sein kann.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2014

Wenn die Wellenlänge stimmt, sind der Kraft der Gedanken keine Grenzen gesetzt
Wladimir Velminski widmet sich sowjetischen Psychotechniken und versammelt Studien zu alten und neuen Hirngespinsten auf dem Terrain der Neurowissenschaften

Am Vorabend des 9. Oktober 1989, an dem in Leipzig mit geschätzten 70 000 bis über 100 000 Teilnehmern die größte Massenkundgebung gegen das DDR-Regime stattfinden würde, ging im Ersten Kanal des sowjetischen Staatsfernsehens Anatolij Kaspirovskij auf Sendung. Millionen von Sowjetbürgern fanden sich vor den Bildschirmen ein, um sich von dem Psychotherapeuten und ehemaligen Betreuer der erfolgreichen Gewichtheber-Nationalmannschaft in Trance versetzen zu lassen. Zweck der sechs Folgen umfassenden Übung: Die Bevölkerung des angeschlagenen kommunistischen Reiches sollte wieder zum Glauben an alte Stärke zurückfinden - durch mediale Séancen und die Einnahme heilkräftig aufgeladenen Wassers.

Für den Wissenschaftsforscher Wladimir Velminski bildet diese Episode gleichsam den Kulminationspunkt der sowjetischen Bemühungen um eine immaterielle Kommunikation und die Beeinflussung von Menschen durch schiere Gedankenkraft. Er schildert sie in einem Bändchen, das die Umrisse der sowjetischen Kybernetik nachzeichnet. Der studierte Physiker, Mathematiker und Slawist, der an der ETH Zürich lehrt, ist dabei nicht nur als rühriger Grenzgänger zwischen Ost und West ein idealer Führer durch ein wenig bekanntes Terrain. Er kann zumal aus den Quellen schöpfen.

Aus dem Nachlass des sowjetischen Kybernetikers Pavel Guljaev präsentiert er eine Zeichnung von 1965, die eine programmatische Folie für die von ihm geschilderten Bestrebungen abgibt. Über das gemeinsame Sägen eines Baumstamms sollten verschiedene "Verschaltungen" zweier Arbeiter von der manuellen Interaktion über das akustische und dann das elektromagnetische Feld hinaus zu einer "hypothetisch-telepathischen" Ebene der Kommunikation führen. Die hiermit anvisierten Regelkreise versteht Velminski als "Gehirnprothesen", womit nicht nur Vorrichtungen zur technischen Steigerung der geistigen Potenz gemeint sind, sondern zugleich die Praktiken, die einer solche Vision überhaupt hinreichende Suggestivkraft verleihen, damit ihr Lehrstühle und Forschungsinstitute gewidmet werden. Der Kontext, in den diese wissenschaftlichen Phantasien eingebettet sind, heißt natürlich "Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes". Es ging um die kybernetische Arbeit am Neuen Menschen im Zeichen ideologischer Gleichschaltung: Was die Hirne der beiden Arbeiter idealerweise auf telepathischem Wege miteinander austauschen würden, symbolisiert die Zeichnung mit einem roten Stern.

Velminski stellt darüber hinaus Aleksej Gastev vor, einen Biomechaniker und Vertreter des Taylorismus in der UdSSR, der nicht nur Bewegungsabläufe, sondern auch Denkprozesse kulturell neu "einstellen", vulgo auf Selbstregulierung und -disziplinierung hin optimieren wollte; sowie den Neurologen und Psychiater Vladimir Bechterev, der sich der Erforschung der gedanklichen Einwirkung eines Individuums auf ein anderes "mit Hilfe einer Art Strahlenenergie" womöglich noch länger hätte widmen können, wenn er nicht ausgerechnet dem Genossen Stalin in einem Auftragsgutachten Paranoia attestiert hätte. Schließlich wendet sich Velminski den Pionieren der Radio- und Fernsehtechnik zu, bei denen er eine "seltsame Archaik" am Werk sieht, die "das Vortechnische mit den Mitteln der Technik und das Unvermittelte mit Hilfe der Medien" produziert. Als am Endpunkt dieser Entwicklung die letzte Folge der erwähnten TV-Hypnoseshow ausgestrahlt wird, ist die Berliner Mauer bereits geöffnet.

Velminskis Durchleuchtung der gesellschaftspolitischen Aura kybernetischer Verheißungen im Sowjetreich bietet anregenden Lesestoff. Wenn derselbe Autor in einem Sammelband multidisziplinäre und künstlerische Schlaglichter auf "Hirngespinste" im Umfeld der Neurowissenschaften präsentiert, kann es natürlich nicht um eine unmittelbare Historisierung unserer eigenen Gegenwart gehen. Die oft hypertrophen Versprechungen der aktuellen Hirnforschung in ihre Kontexte zu stellen ist aber jedenfalls aufschlussreich. Nur ist das Bild, das sich daraus ergibt, unübersichtlicher als das der zurückblickenden Wissenschaftsgeschichte; zumal wenn ein so großes Feld wie das von "Denkprozessen zwischen Störung, Genialität und Fiktionalität in Künsten und Wissenschaften" abgeschritten werden soll.

Ein Gespräch zwischen Michael Hagner, der in der Historiographie der Hirnforschung Pionierarbeit geleistet hat, und dem Dichter Durs Grünbein schlägt einleitend skeptische Töne an. Hagner verweist dabei auf eine Untersuchung, der zufolge Versuchspersonen abstrus falschen wissenschaftlichen Behauptungen eher Glauben schenken, wenn diese von einem Hirnbild begleitet werden. Kontrapunktisch zu diesem eher abmoderierenden Dialog gibt John-Dylan Haynes, Professor "für Theorie und Analyse weiträumiger Hirnsignale", einen Überblick über den Stand der Bemühungen, Gedanken im Neuroscanner auszulesen (der allerdings vor Drucklegung unbedingt eines Korrektorats bedurft hätte). Zwar glaubt auch Haynes nicht daran, dass man mit den heute bekannten Verfahren jemals beliebige Gedanken wird dekodieren können. Im Bereich einfacher Wahrnehmungen oder Ja/Nein-Entscheidungen sei dies aber sehr wohl möglich. Die Anwendungsfelder dieser Techniken heißen Lügendetektion und Neuromarketing, mithin die "Vorhersage von Konsumentenverhalten auf der Basis der Hirnaktivität". Verhaften und verkaufen: Wie die sowjetische Kybernetik dreht sich offensichtlich auch die zeitgenössische Hirnforschung primär um die Kontrolle des Menschen.

Einen Gegenpol hierzu bilden die historischen Rückblicke auf die Osmose der Künstler- und der Mediziner-Szene im Berliner Fin de Siècle, die Peter Bexte und Sven Dierig vorlegen. Nervenbahnen, Radiowellen, Röntgenbilder hießen die Stichworte, die seinerzeit die künstlerische und wissenschaftliche Phantasie in Wallung versetzten. Fasziniert verfolgt man den Import neurologischer Vorstellungen in das Welt- und Gesellschaftsbild der Künstler-Boheme, bot doch das damalige Modell der Gehirnaktivität als eines dynamischen Wechselspiels zwischen Hemmungs- und Erregungszuständen eine Erklärung dafür, warum das genialisch begabte Individuum unter den Hemmnissen der bürgerlichen Gesellschaft verkümmern, warum es also nervös gegen selbige rebellieren musste. Man reibt sich die Augen: Es gab einmal eine Phase der Neurowissenschaft, da sich mit ihr eine Aura der Freiheit verband.

MICHAEL ADRIAN.

Wladimir Velminski: "Gehirnprothesen". Praktiken des Neuen Denkens.

Merve Verlag, Berlin 2013. 160 S., Abb., br., 16,- [Euro].

Wladimir Velminski (Hrsg.): "Hirngespinste". Denkprozesse zwischen Störung, Genialität und Fiktionalität in Künsten und Wissenschaften.

Wilhelm Fink Verlag, München 2013. 261 S., Abb., br., 29,90 [Euro].

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