Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 13,50 €
  • Gebundenes Buch

Sie sind Künstler. Sie haben kein Geld, aber viele Flausen im Kopf. Sie sind Bohemiens - ein Menschenschlag, den so wohl nur Paris hervorbringen konnte. Alexander Schaunard, der Musiker, Marcel der Maler, Gustav Colline, der Philosoph und Rudolf, der Dichter, sind künstlerisches Proletariat und daher gesellig. Sie gründen einen Boheme-Bund, denn einer nimmt doch hier und da ein wenig Geld ein, das sogleich verjubelt wird. Murgers 'Boheme' erschien 1851. Der witzige Roman lebt von der Darstellung eines Milieus, das sich die Lebensfreude vom schnöden Alltag nicht verderben läßt, und von den…mehr

Produktbeschreibung
Sie sind Künstler. Sie haben kein Geld, aber viele Flausen im Kopf. Sie sind Bohemiens - ein Menschenschlag, den so wohl nur Paris hervorbringen konnte. Alexander Schaunard, der Musiker, Marcel der Maler, Gustav Colline, der Philosoph und Rudolf, der Dichter, sind künstlerisches Proletariat und daher gesellig. Sie gründen einen Boheme-Bund, denn einer nimmt doch hier und da ein wenig Geld ein, das sogleich verjubelt wird.
Murgers 'Boheme' erschien 1851. Der witzige Roman lebt von der Darstellung eines Milieus, das sich die Lebensfreude vom schnöden Alltag nicht verderben läßt, und von den versponnenen Typen, die das schwere Leben leicht nehmen. Das Buch gilt als Urtext der europäischen Boheme-Literatur und inspiriert bis heute zu Nachahmungen und Bearbeitungen: Puccinis Oper 'La Boheme' geht ebenso auf Murger zurück wie 'Das Leben der Boheme' des Filmregisseurs Aki Kaurismäki.
Autorenporträt
Henri Murger (1822-1861) studierte Malerei und verdiente seinen Lebensunterhalt als Journalist und Schriftsteller in Paris. Das Leben der Boheme kannte er aus eigenem entbehrungsreichen Erleben. 'Boheme' macht ihn berühmt, sein weiteres Werk - Lyrik, Dramatik, Erzählungen - ist heute vergessen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2001

Die Matratze der tausend Mimis
Wir leben so an keinem Tage: Henri Murger und das Lotterleben der Pariser Boheme / Von Heinz Schlaffer

La Bohème . . . Unsterblicher Puccini!" rufen die kleinen Leute aus Horváths Wiener Wald, als eine Melodie ertönt; sie kennen die Oper und den Namen des Komponisten, aber gewiß nicht jenen Roman, dem Puccinis Libretto den Stoff verdankt: Henri Murgers 1851 erschienene "Scènes de la vie de bohème". Hätten sie ihn gelesen, so wären sie enttäuscht gewesen. Die Fin-de-siècle-Stimmung von "La Bohème", die herzrührende Geschichte von Liebe, Krankheit, Leidenschaft, Tod und Erinnerung findet sich in Murgers Roman noch nicht. In ihm geht es vielmehr lustig zu, etwa so: Rodolphe - so nennt Murger einen jungen, erfolglosen Pariser Schriftsteller (und nicht "Rudolf" wie in dieser sehr deutschen Übersetzung von 1928) - wird von seinem Onkel in eine Dachkammer eingesperrt, um für ihn einen Traktat über die Kunst des Ofensetzens zu schreiben. Auf dem Balkon darunter hört und sieht der mißbrauchte Dichter die schöne Sängerin Sidonie. Er tröstet sich über seine Gefangenschaft hinweg, indem er zunächst an einem Faden seine ominöse Pfeife zu der Dame hinab- und von ihr stopfen läßt, dann ein nicht weniger ominöses Loch im Fußboden öffnet, um mit ihr zu dinieren und zu parlieren, ehe er schließlich in voller Person an einem Seil auf den Balkon, in die Arme und nach diesen Heldentaten verdientermaßen ins Bett der Dame gelangt. An solcher Findigkeit erweist sich das Genie. "So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage", singen die vier Bohemiens, zu denen Rodolphe gehört.

Jünglinge um die Zwanzig, die sich für Künstler halten, aber sich wie Schulknaben aufführen, die Indianer spielen, nobilitiert Murgers Roman zur Boheme. Es heißt zwar von den Freunden, der eine sei Maler, der andere Komponist, der dritte Schriftsteller, der vierte Philosoph, doch erfährt man von dieser kleinen Académie française weder etwas über Kunst noch über die Tätigkeit von Künstlern. Sogar der Autor selbst verwechselt die Professionen und läßt den Musiker, Schaunard, plötzlich als Maler auftreten. Nicht auf die Kunstart, auf Lebensart kommt es diesen austauschbaren Figuren an. Sie zeigt sich bei Murgers Lebenskünstlern an drei Begabungen: an der Geschicklichkeit, Geld zu borgen, das man nicht mehr zurückzahlt; an der Bereitschaft, rauschende Feste aus dem Augenblick entstehen zu lassen; an der Überzeugung, daß sämtliche Sidonien, Lauren, Mimis, Musettes und so weiter unverzüglich ihrer erotischen Bestimmung zugeführt werden müssen.

Die prompte Erfüllung aller sinnlichen Wünsche im unentwegten Müßiggang verrät, daß es der sozialhistorische Auftrag der Boheme ist, den Lebensstil der Aristokratie ins bürgerliche Zeitalter zu retten. Die Bürger vertun ihr Leben damit, Ersparnisse für ein Glück zu sammeln, zu dessen Genuß sie nie kommen. Es liegt also ein tieferer Sinn darin, daß ihnen die Künstler und Künstlerdarsteller das Geld aus der Tasche ziehen: Sie sind dazu auserkoren, die Früchte der Arbeit (freilich nicht ihrer eigenen) zu verzehren.

Die Taugenichtse der Boheme demonstrieren ihre intellektuelle Souveränität, indem sie aus dem Nichts die Gelegenheit zum - nicht selten groben - Spaß hervorzuzaubern vermögen. Die Geistesgegenwart dieser "Künstler" zeigt sich, auch wenn gerade kein großes oder kleines Abenteuer zu bestehen ist, in unablässigen witzigen Repliken, Bonmots und Paradoxen. Fest und Beischlaf setzen solche Schlagfertigkeit in Handlung um. Werden einer Halbweltdame die Möbel gepfändet, so ergibt sie sich triumphierend in ihr Schicksal: "Die Möbel waren alt. Ich hatte sie fast drei Monate!" Hat Rodolphe ausnahmsweise einmal Geld, so weist er das Ansinnen, damit seine Schulden zu bezahlen, mit heroischer Ironie von sich: Er sei "fest entschlossen, sich der Sparsamkeit hinzugeben und keine Extraausgaben zu machen". Nach drei Tagen ist das Geld auf echt künstlerische Weise ausgegeben, nämlich verschwendet. Aperçus verschaffen den ökonomischen Verlierern wenigstens sprachliche Siege. Sie genügten den staunenden Lesern, um von der Superiorität der Pariser Künstlerhelden überzeugt zu sein.

Leider verzichtet die wiederaufgelegte Übersetzung auf Murgers Vorwort. Darin hatte er den Zweck seiner "Szenen aus dem Leben der Boheme" als "literarische Physiologie" bestimmt. Die der Zoologie halb ernsthaft, halb scherzhaft entlehnten "physiologies" waren seit den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts eine literarische Mode. Wie in Balzacs frühen Studien, seiner "Physiologie der Ehe" oder der "Physiologie des Rentiers", wollten die Schriftsteller mit - freilich nur gespielter - naturwissenschaftlicher Exaktheit und Leidenschaftslosigkeit die Lebensformen kleiner sozialer Gruppen beschreiben, um die Leser mit der unüberschaubaren Vielfalt des großstädtischen Lebens vertraut zu machen. Auch wenn die Namen der auftretenden Personen fiktiv sind, sollen dennoch ihre Verhältnisse und Verhaltensweisen als typisch, als wahr gelten. Die Reihung kleiner folgenlosen "Szenen", die das Leben der Boheme illustrieren und nicht das Schicksal eines einzelnen Bohemiens voranbringen, ist eine stilistische Folge der soziologischen Neugierde, die diese "petites physiologies" zu befriedigen versprechen.

Die flotte und gerade dadurch platte Darstellung Murgers - der man nicht ansieht, daß ihr Autor selbst lange Jahre in vergleichbaren Umständen lebte - hat verhindert, daß sein Roman sich im Gedächtnis der Literatur so ausdauernd gehalten hätte wie die reale und zugleich imaginäre Welt, von der er handelt, die er geradezu erfunden hat: die Boheme. Vielleicht besteht das literarhistorische Verdienst dieser wilden und dennoch banalen "Scènes" darin, daß Flaubert daranging, in der "Éducation sentimentale" den billigen Rausch von Murgers Boheme durch eine überlegte Prosa auszunüchtern. Seine strenge Analyse des Dilettantismus, der Liebe zur Kunst aus der Enttäuschung über das Leben, der Peinlichkeiten und Verlegenheiten des untätigen Daseins hat die Boheme aus dem Schlaraffenland eines romantischen Traums vertrieben. Durch die "Éducation sentimentale" wurde die Boheme sachlich widerlegt und schriftstellerisch überholt. Doch lebt sie in der zumindest touristisch erfolgreichen Trivialgeschichte der bürgerlichen Sehnsucht weiter: als die gloriose Verbindung von Paris, Jugend, Genie, Kunst, Liebe und wenig Geld. So leben wir, so leben wir, so leben wir an keinem Tage.

Henri Murger: "Boheme. Szenen aus dem Pariser Leben". Aus dem Französischen übersetzt von Inge Linden. Steidl Verlag, Göttingen 2001. 330 S., geb., 28,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Das 1851 veröffentlichte Buch des Journalisten und Malers Henri Murger über die Bohème, jenes Pariser Künstlerproletariat, um das sich die Legenden meterlang ranken, ist für Martin Mosebach ein kulturhistorischer Schatz. Viele Klischees - beispielsweise das über den genialen, aber armen und verkannten künstlerischen Avantgardisten - sind in jener Zeit entstanden, als Paris einerseits die Metropole der Kunst schlechthin war, andererseits es um die Förderung vieler Künstler nicht allzu gut bestellt war, erzählt der Rezensent. Eine ganze Reihe von Bohème-Motiven hat der Autor jedenfalls beobachtet und in seinem Band sehr anschaulich beschrieben, auch wenn seine Darlegung für den Rezensenten in starker Konkurrenz zu Puccinis Oper "La Bohème" steht. Was den Rezensenten am meisten an Murgers Bohème überrascht hat, ist das Dauerthema Geld: "Wenn der Leser sich alle Rechenoperationen des Buches ins Gedächtnis ruft, könnte er glauben, eine gigantische Textaufgabe gelesen zu haben", stellt Mosebach mit leicht amüsiertem Unterton fest. Eines bedauert der Rezensent aber zutiefst. In den von Murger romantisierend beschriebenen Pariser Absteigen hätte er auch gern mal genächtigt.

© Perlentaucher Medien GmbH