Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 5,00 €
  • Gebundenes Buch

Rudolf Brunngraber ist mit diesem Roman eine der großen neusachlichen Erzählungen gelungen, ein Roman, der beispielhaft die bereits global wirkenden technischen und wirtschaftlichen Zwänge und Hemmnisse mit dem Leben eines einzelnen noch der alten Zeit entstammenden Menschen verschränkt. Das Buch hat auch in unserer Zeit, angesichts weltweiter Massenarbeitslosigkeit, angesichts global zirkulierender Waren- und Devisenströme, nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Beklemmend ist freilich die Hellsichtigkeit Brunngrabers, der in der Wurzel des Jahrhunderts bereits die Katastrophen späterer Jahrzehnte vorausahnte.…mehr

Produktbeschreibung
Rudolf Brunngraber ist mit diesem Roman eine der großen neusachlichen Erzählungen gelungen, ein Roman, der beispielhaft die bereits global wirkenden technischen und wirtschaftlichen Zwänge und Hemmnisse mit dem Leben eines einzelnen noch der alten Zeit entstammenden Menschen verschränkt. Das Buch hat auch in unserer Zeit, angesichts weltweiter Massenarbeitslosigkeit, angesichts global zirkulierender Waren- und Devisenströme, nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Beklemmend ist freilich die Hellsichtigkeit Brunngrabers, der in der Wurzel des Jahrhunderts bereits die Katastrophen späterer Jahrzehnte vorausahnte.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.1999

Sachlich geht die Welt zu Ende
Rudolf Brunngraber macht dem Jahrhundert eine schlechte Bilanz

Das Ende des Jahrhunderts ist die Zeit der Buchhalter, überall wird Bilanz gezogen. Oft ist die Bereitschaft zu Verlustrechnungen größer als die Neigung, den möglichen Gewinn auszuweisen. Da macht ein Autor keine Ausnahme, der das Jahrhundert schon an seinem ersten Drittel maß: der österreichische Erzähler Rudolf Brunngraber (1901 bis 1960) mit seinem Roman "Karl und das 20. Jahrhundert" von 1933, der jetzt in einem Neudruck vorliegt.

Der Titel kündigt das Jahrhundert als den Mitspieler an, als einen Partner oder als Gegenspieler. Der Roman selbst zeigt das Jahrhundert schon bald als den großen Widersacher des 1893 in Wien geborenen Karl Lakner. Karl ist der Sohn eines Maurergehilfen (später Straßenbahnschaffners) und einer Dienstmagd und Wäscherin, ein Proletarierkind also. Der Junge muss zum Unterhalt der Familie beitragen, als Klassenerster ebnet er sich den Weg zum Lehrerstudium. Aber das Lehrerpodium kann er nicht mehr besteigen, ihn holt der Krieg und schickt ihn auf die Schlachtfelder des Ostens. Er wird Offizier, wechselt von der Artillerie zu den Fliegern, hat bei einem Rundflug den letzten Monarchen der Donaumonarchie, Kaiser Karl, an Bord, wird ein berühmter Luftheld, ausgezeichnet durch viele Verwundungen und viele Orden. Aber kein Dank des Vaterlandes ist ihm gewiss, er wird in den Untergang der Donaumonarchie und in die wirtschaftlichen Krisen der zwanziger Jahre mit hineingerissen.

Brunngraber schreibt nicht, wie Josef Roth mit seinen Romanen "Radetzkymarsch" und "Die Kapuzinergruft", der k. u. k. Monarchie ein kritisch-melancholisches Requiem. (Am nächsten noch kommt er Roths Roman "Die Rebellion", der Geschichte eines Kriegsinvaliden und Empörers.) Und er beschreibt nicht, wie Hans Fallada mit seinem im Jahr zuvor erschienenen erfolgreichen Roman "Kleiner Mann - was nun?" eine durch das Arbeitslosenelend zerstörte kleinbürgerliche Idylle, die nur durch die Tapferkeit der Frau erträglich wird. Brunngrabers Bilanz ist eine Abrechnung, er steuert seinen Roman konsequent in die Anti-Idylle.

Alle Bewerbungen Karls um eine Lehrerstelle scheitern. Er hangelt sich von einer Verlegenheitsbeschäftigung zur anderen, stolpert von einer Demütigung in die nächste, muss sich von ungeliebten Frauen aushalten lassen, sieht aber auch Wien im Taumel eines "Cancans", "den man zur Apokalypse tanzt". Eine zufällige Bekanntschaft mit einem schwedischen Ingenieur bringt ihn in dessen Heimat, wo er sich als Holzfäller, Tagelöhner beim Bahnbau und Kontorist im Sägewerk durchschlägt. Mit der Rückkehr nach Wien fällt er ins Elend zurück. Die Gänge ins Amt für Arbeitslosenunterstützung sind ein Hindernislauf mit Schikanen, eine Dirne bietet ihm die Stelle des Luden an, er übernachtet im Obdachlosenasyl. Das Leben ist zum Labyrinth geworden. Im Haus eines Professors der Malakademie, dem er Modell gestanden hat, rastet er aus und verwüstet die Wohnung.

Am Schluss des Romans melden Zeitungsausschnitte sachlich seinen Selbstmord. Es kommt wahrlich knüppeldick in dieser Geschichte eines Abstiegs. Dass sie sich nicht in Lamentationen auflöst, ist das Verdienst eines sachlichen Erzählens, einer benennenden, Bericht erstattenden Sprache. Aber erst eine Zuspitzung des sachlichen zum referierenden Stil macht "Karl und das 20. Jahrhundert" zu einem Sonderfall des Romans der so genannten "Neuen Sachlichkeit".

Die Lebensgeschichte Lakners ist eingehängt in wirtschafts- und technik-, politik- und sozialgeschichtliche Exkurse, die von einer stupenden Lektüre einschlägiger Literatur zeugen. Immer wieder leistet, inmitten der Lebensgeschichte Karls, der Satz "Zur gleichen Zeit . . ." eine kleine Lehrstunde mit einem Rattenschwanz von Daten und Statistiken ein. Karl zappelt wie ein Insekt im Netz weltumgreifender Systeme, wie eine Puppe an den Fäden des Marionettenspielers Ökonomie, der Weltwirtschaftskrisen verursacht und inszeniert.

Vielleicht revanchiert sich der Leser damit, dass er die Lektionen, sobald er sich geschulmeistert fühlt, nur noch diagonal liest oder gar überschlägt. Da würde er freilich aus dem Zusammenhang von Erzählung und Information ausscheren, der diesen Roman zu einem interessanten "neusachlichen" Experiment macht. Der Prosa- und Filmautor Alexander Kluge collagierte Erfundenes mit Faktischem, ja ersetzte die Erzählung von Ereignissen durch die Sammlung vielfältiger geschichtlicher Dokumente. In "Karl und das 20. Jahrhundert" darf, obwohl von Information und Analyse umstellt, noch das erzählte Leben seine Trümpfe ausspielen.

WALTER HINCK

Rudolf Brunngraber: "Karl und das 20. Jahrhundert". Roman. Herausgegeben von Stefan-Ulrich Meyer. Steidl Verlag, Göttingen 1999. 271 S., geb., 20,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

"Berühmt und trotzdem unbekannt ist dieser Roman", befindet Franz Haas, der die Neuerscheinung ausdrücklich begrüßt. Doch bevor er auf das Buch genauer zu sprechen kommt, erinnert er daran, dass Brunngraber schwer einzuordnen war. Denn er ging nicht ins Exil, sondern veröffentliche in den dreißiger Jahren Bücher wie den vorliegenden Roman, obwohl hier, wie Haas betont, deutlich aufgezeigt wird, "wie die Folgen der Politik den kleinen Mann zerdrücken können". Haas zeigt sich beeindruckt davon, wie der Autor immer wieder (welt-)wirtschaftliche Ereignisse mit der Geschichte des Karl verknüpft. Da ist von der Weltwirtschaftskrise, vom Börsenkrach, von Politik die Rede und auf den anderen Seite "in lakonischen Sätzen" vom persönlichen Elend des Protagonisten und vom Einfluss des Krieges auf den Alltag der Menschen. Dies alles findet Haas ausgesprochen plastisch geschildert. Dass Brunngraber sich jedoch nie zu "proletarischer Rührseligkeit und trivialer Ideologie" hinreißen lässt, gehört für den Rezensenten zur besonderen Stärke des Romans.

© Perlentaucher Medien GmbH