Marktplatzangebote
11 Angebote ab € 2,00 €
  • Gebundenes Buch

Raymond Federman erzählt von seiner Kindheit in Frankreich, seinem Leben als Erwachsener in den USA, seiner jüdischen Herkunft, seiner Karriere als Schriftsteller und unterscheidet in den großartig leicht und humorvoll erzählten Geschichten nicht zwischen Wahrheit und Lüge, Erfundenem und Erinnerung.Dieses Buch ist eine übermütige Achterbahnfahrt durch Federmans Leben und durch die Geschichte. Immer wieder weitet sich der Blick auf das große Ganze, das erst durch seine einzelnen Teile zu verstehen ist. Die Körperteile dienen Federman als Ausgangspunkte für Überlegungen, die ihn von vier…mehr

Produktbeschreibung
Raymond Federman erzählt von seiner Kindheit in Frankreich, seinem Leben als Erwachsener in den USA, seiner jüdischen Herkunft, seiner Karriere als Schriftsteller und unterscheidet in den großartig leicht und humorvoll erzählten Geschichten nicht zwischen Wahrheit und Lüge, Erfundenem und Erinnerung.Dieses Buch ist eine übermütige Achterbahnfahrt durch Federmans Leben und durch die Geschichte. Immer wieder weitet sich der Blick auf das große Ganze, das erst durch seine einzelnen Teile zu verstehen ist. Die Körperteile dienen Federman als Ausgangspunkte für Überlegungen, die ihn von vier verlorenen Haaren zu den 68er Unruhen in Paris führen, vom Läuse-Zerdrücken zu den Haartrachten der vom jüdischen Flüchtling beneideten jungen Männer im Amerika der 40er Jahre. Oder von der Betrachtung des dritten Zehs, dem »Gelehrten«, der ihn über die Gemeinsamkeiten von Freud und Hitler aufklärt...»Im höheren poetischen Gelächter wird die eigene Geschichte ausgelöscht und damit unauslöschlich. Die Lachteratur hat also eine doppelte Funktion, sie ist Droge des Vergessens und Denkmal zugleich.« Frank Schäfer in der »taz«, 13.3.2008
Autorenporträt
Raymond Federman (192-2009) überlebte als einziger seiner Familie den Holocaust und emigrierte 1947 in die USA. Nach seiner Teilnahme am Koreakrieg hatte er Lehraufträge an der New York University. 1971 erschien sein erster Roman. Seither entstand ein großes Werk, das in über 20 Sprachen übersetzt wurde.

Falk Nordmann, Zeichner und Illustrator, lebt und arbeitet in Berlin. Ab 2007 Umschlaggestaltungen und Autorenportraits, seit 2013 Tierillustrationen der Reihe Naturkunden für Matthes & Seitz Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.05.2008

Der Verlust von 72100 Haaren

Da habt ihr meinen Körper: Raymond Federman, der heute seinen achtzigsten Geburtstag begeht, hat eine charmante Meditation ohne jeden Hokuspokus vorgelegt.

Der Körper kehrt zurück, der echte, durchblutete, lust- und schmerzempfindliche Hoc-est-corpus-Körper. Seit sich der zweite, der öffentliche Körper vom sterblichen Ich des Königs abgespalten und zu großer Karriere angesetzt hat, war Letzterer mehr und mehr in die Defensive geraten. Die Metapher adelte ihn nicht, sie wurde zur Bürde für den Namensgeber, drängte ihn ab ins Intime. Der Leviathan kennt keinen Muskelkater.

Seit dem siebzehnten Jahrhundert interpretierte man nahezu jede Form von Gemeinwesen nach dem organischen Haupt-und-Glieder-Modell. Dem wurde erst spät der genaue Blick auf den eigenen Körper entgegengesetzt. Erst die literarische Avantgarde erweckte dessen Teile zu eigenem Leben, die, um den Preis der Dissoziation, mit- und gegeneinander existierten. Damit weitete sich der Körper in die Welt, statt dass sich die Welt in einen Körper verengte.

In jüngerer Zeit mehren sich die Körperbücher: Zu nennen wäre George-Arthur Goldschmidts "Absonderung" (1991), die eigenen KZ-Erfahrungen reflektierend, Jean-Luc Nancys "Eindringling" (2000), eine Herztransplantation überdenkend, Sabine Grubers um eine Nierentransplantation kreisende Romane, aber auch Charlotte Roches Kutschfahrt durch die innere Flora und Fauna.

Der amerikanische Autor und Literaturkritiker Raymond Federman, der heute achtzig Jahre alt wird, hat im Jahre 2005 eine weitere sich weitende Körpererkundung vorgelegt, die jetzt auf Deutsch erschienen ist: "Mein Körper in neun Teilen". Federman, dessen Spezialgebiet die Selbstbespiegelung ist, seit er, nach einer Dissertation über Samuel Beckett, um 1970 zu schreiben begonnen hat ("Double or Nothing"), steht sich nackt im Spiegel gegenüber: Haare, Nase, Zehen, Stimme, Geschlechtsteil, Backenzahn, Ohren, Augen, Hände und Narben sind die Partes, die alle in kleiner Konkurrenz für das Totum stehen möchten und dürfen. Alle Teile bemühen sich, und der Autor müht sich liebevoll um die Teile.

Wer nachzählt, wird allerdings zehn Teile zählen: Die Ohren sind zwar nur als "Nachtrag" deklariert, aber soll man sie etwa nicht mitrechnen, zumal Frauen dem Erzähler oft versicherten, er hätte "sexy Ohren"? Teuer ist ihm auch seine vielbelächelte, weil schiefe und stets rote Nase, eine "historische Nase", eine "jüdische Nase": "Meine Nase ist mutig und frech. Ich halte sie für ein topologisches Denkmal zur Erinnerung an jene, die wegen der Form ihrer Nasen ausgelöscht wurden." Ein ungeheurer Satz, unvermutet an das mit schwebender Leichtigkeit erzählte Privatime angeknüpft. Eine eigene Passionsgeschichte stellt der Zahnarztbesuch dar, nachdem ein Backenzahn ausgerechnet beim Biss in eine zu harte Schokolade abgebrochen ist.

Das gesamte schriftstellerische Werk des aus einer jüdischen Pariser Familie stammenden Autors ist - das wurde oft betont - autobiographisch durchwirkt. Es kreist, im Einzelnen avantgardistisch und surrealistisch vor sich hin mäandernd, stets um die eine Urszene, die doch ewig uneinholbar bleibt: Von seiner Mutter in einem Wandschrank versteckt, entging Raymond Federman am 16. Juli 1942 der Deportation durch die deutsche Gestapo. Seine Eltern und beide Schwestern wurden in Auschwitz ermordet. Auch der weitere, keineswegs geradlinige Lebensweg des Autors ist in den Werken aufgehoben: Im Jahre 1949 ausgewandert nach Amerika, betätigte er sich als Gelegenheitsarbeiter, als (studierter) Jazzmusiker, als Fallschirmspringer bei der amerikanischen Armee, als Literaturwissenschaftsprofessor und als Schriftsteller.

Dabei kokettiert der Autor - eine nicht nur professionelle Deformation - mit dem eigenen Schreibvorgang, nennt seine "literature" gerne "laughterature", die von ihm gepflegte Fiktion zweiter Ordnung "surfiction": Viele Alter-Ego-Figuren, oft mit sprechenden Namen, sind so zusammengekommen: Namredef, Hombre de la Pluma oder Moinous.

In Federmans neuem Buch ist diese Ebene zurückgenommen. "Mein Körper in neun Teilen" ist ein altersweises, charmantes und gutgelauntes Buch voller Anspielungen ("Sie werden es nicht glauben, aber der Arzt, der meinen Arm wieder richtete, war Michel Foucaults Vater"), das auf eine durchgehende Handlung verzichtet. Federman beschreibt sich als Voyeur und "Toucheur", jemand, der die Welt begreifen, ja, begrapschen will wie die schönen Oberschenkel einer Frau. Zwar endet die Selbstbegreifung mit neun Narben, Stellen, an denen die Seele versucht habe, den Körper zu verlassen; aber auch dies gerät nicht zur Elegie, sondern feiert das Leben: "Meine dritte große Narbe habe ich mir zugezogen, als ich dem Exehemann meiner Frau eine auf die Schnauze gehauen habe." Zufriedener habe er sich nie gefühlt, so der Erzähler.

Eine wichtige Freiheit nimmt sich Federman heraus, borgt sie sich bei der Fiktion: Sein Körper altert nicht. Freilich, die Haare sind ergraut, die Ohren im Alter gewachsen, aber die Vanitas hat keine Chance, ganz im Gegenteil: Dieser Körper strotzt vor jugendlicher Energie.

Zwar kommt einmal ein Pendant zu jener Eieruhr ins Spiel, die der alte Schnitter gern mit sich führt: eine lange Berechnung, die sich an des Autors Beobachtung anschließt, vier Haare verloren zu haben ("Federman, du lässt langsam Federn", sagt seine Frau). Als er endlich darauf kommt, bislang mindestens 72 100 Haare verloren zu haben, stößt die Hochrechnung des Verfalls aber plötzlich an die Grenze des Unberechenbaren: "Die Unmöglichkeit, ganz genau zu wissen, wie viele Haare ich auf dem Kopf hatte." Der in der Unmöglichkeit gründenden Möglichkeit des Lebens ist dieses schöne Buch gewidmet.

OLIVER JUNGEN

Raymond Federman: "Mein Körper in neun Teilen". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Peter Torberg. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2008. 128 S., geb., 14,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Oliver Jungen konstatiert nicht nur angesichts Raymond Federmans "Mein Körper in neun Teilen", das 2005 im amerikanischen Original erschien und nun pünktlich zum 80. Geburtstag des Autors auch auf Deutsch vorliegt, eine Rückkehr des Körpers in die Literatur. Der jüdisch-französische Autor, der als einziger seiner Familie der Gestapo entging und mit 21 Jahren nach Amerika auswanderte, nimmt darin neun - eigentlich zehn, wie Jungen akribisch nachrechnet, die Ohren zählt Federman aber mit Absicht nicht mit - seiner Körperteile unter die Lupe und stellt anhand der Narben die Lebensspuren fest. Zugleich nimmt er sich die fiktionale Freiheit, diesen Körper nicht altern zu lassen, erklärt uns der Rezensent. Jungen ist vom Charme, der Altersweisheit und der Leichtigkeit dieses, wie alle Werke Federmans, autobiografischen Buches hingerissen und feiert es als auf eine durchgehende Handlung souverän verzichtende Liebeserklärung an die "in der Unmöglichkeit gründende Möglichkeit des Lebens".

© Perlentaucher Medien GmbH