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Noten an den Rand des Lebens ist der Versuch, Literatur als Medium der Existenzerkundung zu nutzen. Die Analysen der Werke von Max Frisch oder Alexander Kluge, die luziden Portraits von Siegfried Kracauer, Claude Simon, Roland Barthes, Hans Magnus Enzensberger oder Peter Weiss, die großen freundschaftlichen Gespräche mit Jürgen Becker, Wolfgang Koeppen oder Michael Ende, die Rekonstruktionen der Träume vom Aufbruch, wie sie Ryszard Kapuscinski, Bruce Chatwin oder Alfred Andersch in ihre Bücher hineingeschrieben haben, sowie als "Betriebsprüfungen" deklarierte Lektüren von Martin Walser, Botho…mehr

Produktbeschreibung
Noten an den Rand des Lebens ist der Versuch, Literatur als Medium der Existenzerkundung zu nutzen. Die Analysen der Werke von Max Frisch oder Alexander Kluge, die luziden Portraits von Siegfried Kracauer, Claude Simon, Roland Barthes, Hans Magnus Enzensberger oder Peter Weiss, die großen freundschaftlichen Gespräche mit Jürgen Becker, Wolfgang Koeppen oder Michael Ende, die Rekonstruktionen der Träume vom Aufbruch, wie sie Ryszard Kapuscinski, Bruce Chatwin oder Alfred Andersch in ihre Bücher hineingeschrieben haben, sowie als "Betriebsprüfungen" deklarierte Lektüren von Martin Walser, Botho Strauss, Marguerite Duras, Albert Camus, Dieter Wellershoff, Uwe Johnson oder John Berger.
Autorenporträt
Linder, Christian§Christian Linder, 1949 in Lüdenscheid geboren, studierte in Bonn Philosophie und Literaturwissenschaft. Seit 1974 Autor des Deutschlandfunks, arbeitete er von Köln aus auch für das Feuilleton der »Süddeutschen Zeitung«, schrieb Reisereportagen für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« und Hörspiele für den WDR. Er lebt zur Zeit in der Eifel.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.02.2010

Die Kaufhausmädchen kichern über ihren Chef
„Schwarzmarkt. Entnazifizierung. Währungsreform. Deutsches Gemüt” – Christian Linder präsentiert eine Biographie über Heinrich Böll
Mit Heinrich Böll hat es eine merkwürdige Bewandtnis: Über Jahrzehnte hin galt dieser Schriftsteller als der geistige Vertreter der Bundesrepublik schlechthin – und als er 1985 starb, war er weg, fort, aus wie eine ausgeknipste Glühbirne. Dass literarische Werke, wenn ihr Autor schon zu Lebzeiten berühmt war, nach seinem Tod erst einmal in eine Latenzphase treten, die Öffentlichkeit ihnen und sie der Öffentlichkeit eine Verschnaufpause gönnen, ist an sich nicht ungewöhnlich, das ließ sich auch bei Heiner Müller beobachten. Aber bei Böll zeigt es sich extrem. Außerhalb der Schullektüre, einem für jeden Autor nachlebensgefährlichen Gärbecken der Unlust, kam er eigentlich überhaupt nicht mehr vor.
Jetzt steht sein 25., sein sozusagen silberner Todestag bevor, und einiges beginnt sich doch zu regen. Bloß scheint das Gedenken, soweit es sich bislang abzeichnet, weniger auf die Belebung seiner Schriften als in Richtung der historischen Dokumentation zu zielen, nostalgisch nicht ohne ironischen Einschlag, eine Art von „Das waren die Fünfziger” mit angeschlossener Käferparade (die alten, mit Brezelfenster). Notwendig in diesem Umfeld platziert sich das Buch von Christian Linder.
Eine „Biographie” hätte er sein umfängliches Werk nicht nennen sollen, denn das ist es nicht. Wer unter dieser Voraussetzung herangeht, wird eine Enttäuschung erleben. Der äußere Lebenslauf interessiert Linder nur in Maßen, und an die lineare Folge der Zeit hält er sich überhaupt nicht. Im Dunklen bleibt etwa die Ehefrau Annemarie, mit der Böll sein ganzes erwachsenes Leben verbracht hat, der für ihn wichtigste Mensch und Gesprächspartner überhaupt. „Porträt” wäre eine angemessenere Gattungsbezeichnung gewesen, noch besser hätte „Essay” gepasst, denn dies, einen formal nicht festgelegten, wenig untergliederten, immer neu ansetzenden Versuch hat er letzten Endes vorgelegt, auch wenn das Buch mit rund sechshundert Seiten die textsortentypische Schmalheit weit überschreitet.
Vieles wiederholt sich oder wird überbreit ausgebaut, und man fragt sich, ob Linder nicht mit der Hälfte oder einem Drittel des Raums das ihm Wichtige auch hätte sagen können, und deutlicher. Essayistisch ist auch die optische Anmutung; absatzlos dehnen sich die Seiten, die zahlreichen, teils sehr ausführlichen Zitate (sie machen vermutlich rund die Hälfte des Gesamtvolumens aus) wurden nahezu ununterscheidbar in den Text hineingezogen und nicht etwa als Fuß-, sondern als Endnoten ausgewiesen, was die Lektüre, wenn man es genau wissen will, erheblich erschwert.
Am Anfang des Buchs, obschon am Ende des fertigen Bandes steht die persönliche Begegnung mit Heinrich Böll. 1975, als Böll auf dem Höhepunkt seines internationalen Ruhmes stand und Linder selbst etwa Mitte zwanzig war, hat er mit dem so Gefeierten wie Umstrittenen ein mehrere Tage währendes Gespräch geführt, das unter dem Titel „Drei Tage im März” erschien. Böll und er finden zwanglos in ein Vater-Sohn-Verhältnis hinein, was dem Gespräch zugutekommt, aber für Linder langfristig eine Hypothek bedeutet haben dürfte. Wie alle, die ihm begegnet sind, ist Linder bezaubert von der unprätentiösen, freundlichen, offenen Art Bölls. Auch er hält die völlige Identität von Werk und Person fest. Für einen Schriftsteller stellt das ein zwiespältiges Kompliment dar, kann es doch heißen, dass sein Werk erst von der physischen Präsenz des Autors profitiert, seinem sterblichen Teil also, um von diesem dann mit ins Grab gezogen zu werden.
Die Lektüre des Buches vermittelt den Eindruck, als sei Linder, in seiner Anstrengung, von der übermächtigen Figur des erinnerten Böll loszukommen, zu einem allzu harten Urteil über den Schriftsteller gelangt. Er lässt letztlich nur das Frühwerk von 1946 bis Anfang der fünfziger Jahre gelten – „während sein späteres, um komplexere Strukturen bemühtes Œuvre keine große formale Begabung erkennen lässt, sondern oft gebastelt und manieristisch wirkt”. Auch dem Frühwerk attestiert er, dass es vor allem um seiner wenig reflektiert gehandhabten Stoffe auf solch lebhaftes Interesse gestoßen sei, als da wären: „Schwarzmarkt. Entnazifizierung. Währungsreform. Deutsches Gemüt. Wohnungsbau. Konrad Adenauer. Soziale Marktwirtschaft” – und etwa fünfzig weitere. Und: „Es ist zu vermuten, dass das politische Engagement Heinrich Bölls von der großen Öffentlichkeit nicht zuletzt deshalb zunächst akzeptiert worden ist, weil er die Dinge mit zeitlicher Verspätung behandelte”, sehr im Unterschied zu Wolfgang Koeppen, der sich mit dem „Treibhaus” in die Wiederbewaffnungsdebatte einschaltete, als sie stattfand, und nicht wie Böll, als es schon zu spät war.
So wäre also Koeppen der wahre Zeitgenosse gewesen und Böll einer, der, vielleicht in aller Unschuld, die bequeme Ausweichlösung bot? Aber warum hat Linder dann seine beträchtliche Mühe an Böll und nicht an Koeppen gewendet? Oder wenigstens seinen Ansatz ins Sozial- und Rezeptionsgeschichtliche verschoben? Offenbar ist hier mehr Privates im Spiel, als es einem Buch von allgemeinem Anspruch guttun kann.
Man nimmt es verblüfft und auch ein wenig bekümmert zur Kenntnis, wie Linder mit Böll umgeht. Zum Glück jedoch bietet das Buch eine solche Menge langer Zitate auf, dass man es geradezu als eine Böll-Fibel für die heutige Zeit bezeichnen könnte, geeignet, ein allzu umfängliches Werk in kleineren, unerwarteten Portionen neu zugänglich zu machen. So liest man:
„Der Markt gehörte den Frauen; Männer wurden dort nur in unseriösen Ausgaben geduldet: als Marktschreier, halb Clown, halb Schwindler, oder als Polizisten, die zu schnurrbärtig waren, um ernst genommen zu werden; sie glichen zu sehr den Polizisten aus Rüpelspielen, konnten nicht wahr sein, diese Nussknacker, die am frühen Morgen schon nach Bratkartoffeln rochen. (…) Das Kaufhaus Tietz bot wieder Erholung; Gewimmel, von Frauen beherrscht, die zwar schneidigen Männern untergeordnet und ihnen doch überlegen waren; was nützt es, kläffend über eine ganze Abteilung zu regieren, wenn man, ohne kläffen zu müssen, über Lippenstift und Puderquasten regieren kann? Ein lächelnder Untertan ist einem gereizten Herrscher immer überlegen; wie kicherten die Mädchen hinter ihren galoppierenden Chefs her.” Ist das, wie Linder will, „ästhetisch altbacken”, liest es sich „wie Pennälerprosa”, ist der Inhalt „dürftig und harmlos und gar kitschig im tradierten Sinne einer ,alten‘ und altmodischen Heimatliteratur”, äußert sich hier ein „höchstens traditioneller Milieurealist?”
Nein, es ist voll Humor, mit soziologischer Scharfsicht begabt und dabei doch entspannt; das persönlich Humane einer Haltung wächst ohne Krampf ins Literarische hinein. Diese Zitate unterlaufen den Zitierenden wie die Kaufhausmädchen ihren Chef. Linder bringt es fertig, Bölls präzise Analyse, weshalb sich die Figur des Generalfeldmarschalls und Wüstenfuchses Erwin Rommel in den Fünfzigern so großer Beliebtheit erfreute, ausführlich wiederzugeben – und ihm doch zu bescheinigen, er sei kein Intellektueller gewesen. Warum?
Spät erst sondiert Linder, unter Zuhilfenahme von Bloch und Marcuse, was es bei Böll mit Heimat und Humor, jenseits der „Schlacken von Regression und Sentimentalität”, wirklich auf sich hat; wenig überraschend findet er, dass das scheinbar Altmodisch-Beschränkte von Stoff und Duktus bei diesem Autor für die Unverjährtheit eines nie eingelösten Glücksanspruchs steht. „Und so stellen am Ende die Bücher, zusammengenommen, doch auch noch etwas anderes dar, nämlich sehr deutlich (eben dann doch auch politisch gemeinten) Protest gegen das, was Adorno in dem Wort Kälte zusammengezogen hat.” Dieses „zusammengenommen” und „zusammengezogen”, gesprochen gewissermaßen mit zusammengebissenen Zähnen und assistiert von einem ebenso widerwilligen geklammerten „eben dann doch auch”, meint: einzeln gerade nicht. Es stößt den mit dem Nobelpreis geehrten Literaten ins bloß Persönliche zurück. Es ist unfair.
Böll war in der zweiten Hälfte seines literarisch aktiven Lebens zusehends in eine Rolle hineingerutscht, die ihm, dem Familienmenschen und Wohnkücheninsassen, gar nicht lag, die des Repräsentanten. In dieser Rolle gab er manches Unkluge von sich; doch immer wirkte es erfrischend, und gerechtfertigt spätestens aus den hasserfüllten Reaktionen, in denen seine Gegner mehr über sich verrieten, als ihnen lieb sein konnte. Er führte sein Dasein als wandelnder Prüfstein.
Das ist heute vorbei. Heute wäre es an der Zeit, ihn selbst zu prüfen, so offen, wie er es immer für die Anderen war, um aus seinem schon in Teilen verschollenen Riesenwerk die Stücke ans Tageslicht zu holen, denen man Dauer wünscht. Das war vielleicht nicht, oder jedenfalls nicht vorwiegend, was Linder im Sinn hatte. Einen wertvollen Beitrag dazu geleistet hat er dennoch. BURKHARD MÜLLER
CHRISTIAN LINDER: Das Schwirren des heranfliegenden Pfeils. Heinrich Böll – Eine Biographie. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2009. 617 Seiten, Euro
„Der Markt gehörte den Frauen; Männer wurden dort nur in unseriösen Ausgaben geduldet ...”
In der zweiten Hälfte seines Lebens war er in eine Rolle gerutscht, die ihm im Grunde gar nicht lag.
Die unvermeidliche, oft verheerende Seite des Nachlebens: Heinrich-Böll-Gesamtschule in Oberhausen, Juni 1988. Foto: Manfred Vollmer/Das Fotoarchiv
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Rupert Neudeck ist angetan von diesem "dicken Buch" über den großen Autor und Moralisten Heinrich Böll. Obgleich er in Christian Linders Biografie nichts Hagiografisches erkennt, sondern eine durchaus kritische Sicht, liest er Bewunderung heraus für den rheinischen Katholiken mit dem Faible für Kaffee und Tabak und Alkohol und dem untrüglichen Gespür für moralische Verkommenheit, besonders in Bezug auf die Schrecken des Krieges und ihr unerträgliches Nachleben in Gestalt von Nazis wie Kurt Georg Kiesinger, wie sich hier nachlesen lässt. Obwohl Neudeck dem Buch mit seinen raumgreifenden "liebevollen Recherchen" etwas Unzeitgemäßes attestiert, nein, gerade deshalb - schätzt er es hoch.

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