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Produktdetails
  • Verlag: VSA
  • Seitenzahl: 285
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 450g
  • ISBN-13: 9783879757848
  • ISBN-10: 3879757844
  • Artikelnr.: 25212826
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.06.2001

Achtung, ich zeig' euch jetzt das Kapital
Theodor Bergmann beschwört sein Leben als ein einziges Stellungsgefecht im Klassenkampf

Staunenswert und unheimlich ist dieses Buch. Es demonstriert ad oculos, wie vorgefaßte und verhärtete Meinungen die Realität nicht oder nur in absurder und fast schon komischer Weise verzerrt wahrnehmen lassen. Nur fast komisch freilich, denn es ist nicht zum Lachen, wenn von einem kenntnisreichen Mann, der viel von der Welt gesehen hat, Massenverbrechen dann nicht wahrgenommen oder beschönigend umschrieben werden, sofern sie aus einer alles in allem gebilligten politischen Richtung kommen. Dabei ist der äußere Lebensweg des Autobiographen teilweise eindrucksvoll. Aus jüdischer bürgerlicher Familie stammend, schließt er sich bald der Arbeiterbewegung an, wird Kommunist, schlägt sich aber gegen Ende der Weimarer Republik auf die Seite der KPO, also der "rechtsabweichlerischen" KPD-Opposition, woraus die Selbstbezeichnung "kritischer Kommunist" herrührt; Brandler und Thalheimer waren die berühmtesten Vertreter dieser Richtung.

Die Emigration führt Bergmann über Palästina und die Tschechoslowakei nach Schweden, wo er den Krieg als Landarbeiter übersteht, und es nötigt schon Hochachtung ab, daß kein Wort der Klage darüber über seine Lippen kommt. Nach dem Krieg kehrt er bald nach Deutschland zurück, nach Westdeutschland freilich, denn ihm war "klar, daß kritische Kommunisten hier mehr politische Bewegungsfreiheit und eine einfachere Position haben würden als in der sowjetisch besetzten Zone". Neben den Versuchen, die KPO wenigstens im bourgeois-kapitalistischen Westen wieder zum Leben zu erwecken - wobei es, so winzig diese Gruppierung ohnehin schon war, nicht ohne Spaltungen abging -, betätigt Bergmann sich in der Gewerkschaftsbewegung. Er ergreift eine akademische Laufbahn an der Landwirtschaftlichen Hochschule, später Universität Hohenheim. Dort wird er schließlich Professor. Zahlreiche Studienreisen und gelegentlich langfristige Programme der Entwicklungshilfe führen ihn als Landwirtschaftsexperten nach Afrika, Australien, Lateinamerika, Indien, Südasien und vor allem nach China. So weit, so gut; sehr gut sogar, wie es scheint.

So farbig dieses Leben ist, so vielfältig, im Bösen wie im Guten, die Erfahrungen waren, die Bergmann gemacht hat - sein politisches Weltbild ist grau, schematisch, dazu nicht ohne Besserwisserei und vom Bewußtsein geprägt, den Schlüssel zu allem zu besitzen. Klassenkampf allüberall, "erfahrene, aufrechte, bewährte Kommunisten" auf der einen, "der Kapitalismus" und "die Bourgeoisie" auf der anderen Seite; man hält es nicht für möglich, heute noch "die deutsche Bourgeoisie, die Bankiers, Industriebarone, Großgrundbesitzer, Militärs und die hohen Beamten" als historisch wirksames Konglomerat bezeichnet zu finden. Brav klassenmäßig fielen im Ersten Weltkrieg nicht Franzosen und Deutsche, sondern "französische und deutsche Arbeiter", und aus Ostdeutschland vertrieben wurden nicht Ostpreußen, Pommern und Schlesier, sondern "Millionen deutscher Arbeiter und Bauern". Bei Kriegsende gab es dann natürlich "Stalins Bemühen, die Kriegsallianz mit den westlichen Demokratien fortzusetzen", aber leider "antwortete Churchill mit der Ausrufung des Kalten Krieges".

Demgemäß war, trotz aller KP-Opposition und kritischen Kommunistseins, die DDR eben doch sozialistisch. Daher die vorsichtige oder, besser, einfach unwahre Formulierung von der größeren Bewegungsfreiheit der KPO im Westen: In der DDR hatte sie überhaupt keine, wurde vielmehr mit Feuer und Schwert, mit Arbeitslager und Zuchthaus verfolgt von den sozialistischen Brüdern, zunächst vom sowjetischen Geheimdienst, dann von der Staatssicherheit. Auch die Wiedervereinigung war für diesen kritischen Geist eine "Okkupation der DDR", und, man traut seinen Augen kaum, die Öffnung der Mauer stellte eine "traurige Nachricht" dar. Warum? Weil Krenz und Schabowski damit eine "widerstandslose Kapitulation vor dem deutschen Kapitalismus" vollzogen hätten. Anderes wiederum wird überhaupt nicht erwähnt; so gab es anscheinend keinen Aufstand vom 17. Juni, und auch die Errichtung der Mauer und die fast tausend Toten, die an ihr starben - die Bergmann ja gerne klassenmäßig hätte verorten dürfen -, sind, im Gegensatz zu dem bedauerlichen Ende dieser Brutalitäten, nicht der Rede wert. Fast kann man sich daher freuen, daß der ungarische Aufstand wenigstens als "kommunistischer Reformversuch" eine bescheidene Rolle spielt.

Menschen gibt es in dieser sektiererischen Welt nicht; sie fristen nur im Zusammenhang einer kommunistischen cost-benefit analysis ein bescheidenes, adjektivisches Klammerdasein, wenn der kritische Kommunist Bergmann von den "sozialen (menschlichen und materiellen) Kosten des beendeten ersten Großversuchs einer sozialen Revolution" spricht und immerhin dankenswerterweise meint, diese Kosten sollten, beim nächsten Mal, möglichst minimiert werden. Möge der zweite Großversuch den dann Lebenden erspart bleiben. Sollten da nicht doch Gäste aus der Volksrepublik China das Richtige getroffen haben, wenn sie Bergmanns politische Weisheiten "für veraltete, kommunistische Propaganda" hielten? Aber natürlich, sie "waren auf den real existierenden Kapitalismus nicht vorbereitet und wurden deshalb vom äußeren Glanz, der sie überraschte, geblendet".

WOLFGANG SCHULLER

Theodor Bergmann: "Im Jahrhundert der Katastrophen". Autobiographie eines kritischen Kommunisten. VSA-Verlag, Hamburg 2000. 286 S., Abb., br., 39,80 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Theodor Bergmann, fast 85-jähriger Agrarwissenschaftler, bleibt optimistisch und hofft auf eine Erneuerung der marxistischen Gesellschaftslehre, schreibt Rezensent Jens Becker. Der Kapitalismus dürfe nicht das letzte Wort haben, hat der Rezensent der Autobiografie von Bergmann entnommen. Viel Privates erfahrt man hier nicht, bedauert Becker. Schade findet er auch, dass sich Bergmann darüber ausschweigt, warum er die kommunistische Karriere Anfang der 50er Jahre zugunsten der wissenschaftlichen aufgegeben hatte. Für aufschlussreich hält der Rezensent hingegen Bergmanns Ausführungen über die Schweizer Verstrickungen in den Nationalsozialismus, denen auch sein Bruder Alfred zum Opfer fiel.

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