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Ein ungeheuer waches Mädchen wächst in den 60er Jahren zwischen Ostseeküste und Spreewald heran. Die Mutter, mit dreizehn Jahren schwanger geworden, läßt ihre Hilflosigkeit an der Tochter aus, pausenlos und brutal. So beginnt für das Mädchen eine Odyssee durch diverse Heime, allesamt kleine Mikrokosmen der Diktatur. Sie probt den Aufstand und wird von Kindheit an als Rebellin auffallen, durch gnadenlosen Witz und konsequente Verweigerung - zur Freude ihrer Mitschüler und Kommilitonen, doch zum Verdruß staatlicher Instanzen. Bald heftet sich sogar die Stasi an die Fersen der jungen Ausreißerin,…mehr

Produktbeschreibung
Ein ungeheuer waches Mädchen wächst in den 60er Jahren zwischen Ostseeküste und Spreewald heran. Die Mutter, mit dreizehn Jahren schwanger geworden, läßt ihre Hilflosigkeit an der Tochter aus, pausenlos und brutal. So beginnt für das Mädchen eine Odyssee durch diverse Heime, allesamt kleine Mikrokosmen der Diktatur. Sie probt den Aufstand und wird von Kindheit an als Rebellin auffallen, durch gnadenlosen Witz und konsequente Verweigerung - zur Freude ihrer Mitschüler und Kommilitonen, doch zum Verdruß staatlicher Instanzen.
Bald heftet sich sogar die Stasi an die Fersen der jungen Ausreißerin, die sich am liebsten mit wilden Pferden beschäftigt - wenn sie nicht gerade ihre Sinnlichkeit auslebt, zügellos, doch ohne sich je zu binden. Weil sie aber sehr begabt ist, trifft sie immer wieder auf Gönner, die ihr den richtigen Weg aufzeigen wollen: fast wird sie das Patenkind von Walter Ulbricht; später beginnt sie ein Studium, das sie bald wieder schmeißen muß, wegen politischer Unzuverlässigkeit. Schließlich landet sie in Berlin, wo sie am absurden Treiben des Künstlervölkchens teilnimmt. Sie selbst fotografiert inzwischen meisterlich, doch da ihre Porträts nicht gerade staatstragend sind, jagt man sie aus dem Labor.
Nachdem die Republikflucht mißlingt, sucht sie in der Lausitz nach ihren sorbischen Wurzeln und muß feststellen, daß die Sorben keineswegs bessere Menschen sind. Beim Mauerfall ist die innere Freiheit längst errungen. Die äußere nutzt sie, um ihr Fernweh zu stillen.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Hans-Peter Kunisch hält das Debüt von Kerstin Mlynkec für eins der gelungensten und überraschendsten der letzten Jahre. Eine höchst eigenwillige und sprachmächtige Autorin hat er entdeckt, die ihre teils autobiografische Geschichte einer Außenseiterjugend in der DDR erzählt. Ihr Ton sei schnoddrig und sehr direkt, dabei frisch und sprachlich innovativ: nicht als Realismus, sondern als Hyperrealismus möchte Kunisch diesen Prosastil bezeichnen. Sowohl inhaltlich wie literarisch rückt der Rezensent die Autorin in die Nachfolge von Arno Schmidt: die Vorliebe für das sprachliche Experiment zählt er dazu, die wie bei Schmidt die "Aktivierung der Substantive" suche. In der Ich-Erzählerin sieht er wiederum auf undogmatische Weise "die klassische Schmidt'sche Perspektive" umgekehrt: kein Sonderling spricht hier, so Kunisch, sondern das "älter gewordene Zigeunermädchen", das sich Raum und Worte greift. Nur die Schilderung des Alternativlebens am Prenzlauer Berg im zweiten Teil des Romans ist Kunisch etwas zu lang geraten, ansonsten hat er am Debütroman der keineswegs mehr ganz jungen Autorin (Mlynkec ist Jahrgang 1959) nichts auszusetzen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.07.2004

Sprachmächtige Rotznase
Kerstin Mlynkec’ kraftvolles Debut „Drachentochter”
Die Ich-Erzählerin steigt in der „Halbdämmerung” aus dem Bett und zieht mit einer Feldflasche los: „Da ich schon unterwegs war, wusste sich die Sonne verspätet, zügig ging sie auf. Im Gehen nahm ich einen Zug aus der Flasche. Als ich sie absetzte, blieb ich erschrocken stehen. Der Schluck Milch tunnelte sich einen Weg aus beiden Nasenlöchern und beregnete Hornissen, die auf dem Feldweg meine nackten Füße umkrochen. Auf Zehenspitzen schlich ich aus der noch nicht entfachten Stechwut heraus. Der Wald machte einem Häuschen Platz, von dem ich gar nicht wusste, dass es die Wohnhülle meiner neuen Spielkameraden war.”
Nichts Besonderes, nur der Gang eines kleinen Mädchens, das noch nicht trinken kann, über die Felder. Doch das Gewöhnliche bringt hier neue Sätze hervor, Sprachspiele, detaillierte Beobachtungen. Realismus wäre falsch. In nicht wenigen Passagen des ersten Romans von Kerstin Mlynkec kann man einen die Welt zerpflückenden und dadurch sichtbar machenden „Hyperrealismus” verfolgen, dessen auffällige Neugier „Drachentochter” eine sprachliche Frische verleiht, die keines der Debuts der letzten Jahre hatte. Und Frische hat hier gar nichts mit Fräuleinwunder zu tun: die Debutantin ist 1959 geboren.
Die Blechtrommlerin
Doch es wäre auch falsch, den Eindruck zu erwecken, als sei „Drachentochter” eine Sprachbeobachtungsübung für an Ästhetik interessierte Leser. Vor allem hat das Buch Direktheit: „Als mein Vater, eine dreißigjährige sorbische Rotznase, sich die Hosen hochzog, wusste er noch nicht, dass es aus seinem Ejakulat eine Überlebende geben würde. Ich begann einen körperlichen Raubbau an der Dreizehnjährigen, in die er mich leidenschaftlich hineingespritzt hatte. Meiner Mutter wurde bald täglich übel von mir. Sie kotzte überallhin und sah nach, ob ich im Ausgewürgten schon dabei wäre. Zum selben Zeitpunkt hörte sie auf zu wachsen und überließ das mir.”
Man kann sich fragen, ob es geschickt ist, gleich im ersten Satz eines Romans „Ejakulat” zu schreiben und von hochgezogenen Hosen zu erzählen. Aber um das Schickliche und Passende haben sich Mlynkec und ihre Ich-Erzählerin selten geschert. Das macht nichts. Weil es zur Figur der außenseiterisch schnoddrigen Ich-Erzählerin und Drachentochter passt. Sie gibt der Welt, die ihr oft eins ausgewischt hat, kräftig zurück.
Nicht jede Einzelheit wird geschehen sein, aber die Geschichte ist offenkundig autobiografisch. Und so sollte man sich nicht wundern, dass der Roman die Zimmerlautstärke üblicher Debuts überschreitet, bis hin zum genüsslichen Sarkasmus bei der Beerdigung der Mutter. Mlynkecs’ „Ich” ist am ehesten mit Leuten wie Oskar Matzerath zu vergleichen, weniger surreal angelegt, aber die Energie der beiden Blechtrommler wirkt doch ähnlich.
Bei Mlynkec trifft sie auf einen verschwundenen Staat, der für seine Spießigkeit bekannt war: Die DDR ist eine uniforme Gesellschaft. Diesem Satz setzt Mlynkec ihre Außenseiterinnensicht entgegen. Das Schicksal des Mädchens, das zwischen überforderter Mutter, verantwortungsschwachem Vater, bissiger, aber vergleichsweise geliebter sorbischer Großmutter, einem „Auffanglager für Danebengeborene” und ähnlichen Institutionen hin- und hergeschoben wird, führt eine Vielzahl von Varianten vor, wie der Einheitsstaat mit Abweichlern umzugehen versuchte.
Wo immer ein ordentlicher Vorgesetzter auftritt, versucht er, die Querulantin auszusondern: „Zu individualistisch”, heißt es. Aber das trifft nicht nur für die Heldin zu. Einige der Funktionärinnen zeigen Sympathien und schaffen Anzahl Schlupflöcher. Helferfiguren tauchen auf, die von der Rotznase manchmal wie Göttinnen angeglotzt werden. Erla Mia, eine Pionierleiterin, biblioman, die die halbwilde Ich-Erzählerin nicht nur zur Sozialverträglichkeit führt, sondern auch zur Literatur. Über sie lernt die junge Frau Musil, Bukowski, Nietzsche, Arno Schmidt kennen. Und der Namen von letzterem ist mehr als nur Koketterie. Selbstbewusst zeigt er auf die sprachliche Herkunft des Romans.
Denn es ist nicht immer nur das viel gepriesene „Eigene”, das Kerstin Mlynkec von anderen Debütanten unterscheidet. Es ist der Anschluss an die Tradition des Experiments. Schon der „bassflötende Herrenbesuch” der Mutter nimmt mit der „Aktivierung der Substantive” eine der liebsten Formfiguren Schmidts auf. „Wind wehte herein, schlaufte um die Wachslichter und trug sie zum nachtschwarzen Himmel” ist in seiner spielerischen Anschaulichkeit der berühmten Schmidtschen Landschaftsprosa verpflichtet, so gut wie „zwei Haflinger nüsterten vor einer nie gesehenen Grashaumaschine”. Doch lange nicht alles sprachlich Innovative ist Schmidt, wer würde nicht gern die „murmeläugige Frau” eines Bauern sehen?
Noch interessanter wird der Bezug zu Schmidt auf inhaltlicher Ebene. Denn dieses junge, misshandelte, scheue, pferdefanatische und ausgezeichnet schwimmende Ding, als das sich die Ich-Erzählerin beschreibt, liest sich wie die Protagonistin einer undogmatischen Umkehrung der klassischen Schmidt’schen Perspektive: des mehr oder weniger lüsternen Blicks eines einzelgängerischen Misanthropen, der so gerne Faun gewesen wäre, auf kratzbürstige Zigeunermädchen. Ohne hier etwas zurecht zu biegen, lässt sich behaupten, dass das Zigeunermädchen älter geworden ist und, neben eigenen, auch die sprachlichen Mittel des alten Herrn benutzt - für eine Perspektive, die nicht sonderlingshaft eng, sondern üppig ausufernd ist.
Der Welt verbunden
Die Schranken, denen die Erzählerin sich dann doch unterwerfen muss, setzen zuerst die Mutter, dann die DDR, die alle Trampgelüste an klar umrissenen Punkten enden lässt. Deswegen will das Mädchen über Bulgarien in den Westen und erzählt Pionierleiterin Erla Mia vom „Siebzehnmillionenkäfig, in den unsere Regierung zu Weihnachten Orangen wirft (. . .) eine Fressfalle für Sicherheitsbedürftige wie dich.” Kein Wunder, dass das Visum abgelehnt wird, weil die Freundin sie verraten hat. Besonders ungemütlich wird es, als die Erzählerin, inzwischen in einem Fotolabor angestellt, ihre privaten Arbeiten dem Laborbesitzer zeigt: „Eine Punkerin, die ihr Baby auf dem Bordstein stillt; ein Transvestitenpärchen, das sich auf einer Vorstadtfete schnäbelt; einen Briefkasten, auf den jemand Freiheit geschrieben hatte.” Die Ich-Erzählerin verliert ihre Wohnung, beginnt zu vagabundieren, doch bald verliert die DDR ihr Dach.
Bis auf die lang geratenen Schilderungen des alternativen Prenzlauer Bergs im zweiten Teil ist dieser Roman eines der überraschendsten und eigenwilligsten deutschsprachigen Erzähl-Debuts der letzten Jahre. Seine einfallsreiche Sprache bleibt der Welt verbunden.
HANS-PETER KUNISCH
KERSTIN MLYNKEC: Drachentochter. Roman. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2004. 288 Seiten, 17,90 Euro.
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