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Spätestens seit Einzug der Regierung spielt Berlin verrückt: Medienleute, Politiker, Kulturschickeria. Und so bekommt Raymond Schindler, mit dreißig Frührentner und schwarz arbeitender Privatdetektiv, auf einen Schlag mehr Aufträge, als er verkraften kann. Für seine Kusine Nadine, die von einer Karriere als Schriftstellerin träumt, soll er ein Buch über die wilden Wendejahre schreiben, einen authentischen Bericht über die einstige Party-Generation, die nun mit Macht in die bürgerlich-intellektuellen Zirkel der vereinigten Stadt drängt.

Produktbeschreibung
Spätestens seit Einzug der Regierung spielt Berlin verrückt: Medienleute, Politiker, Kulturschickeria. Und so bekommt Raymond Schindler, mit dreißig Frührentner und schwarz arbeitender Privatdetektiv, auf einen Schlag mehr Aufträge, als er verkraften kann. Für seine Kusine Nadine, die von einer Karriere als Schriftstellerin träumt, soll er ein Buch über die wilden Wendejahre schreiben, einen authentischen Bericht über die einstige Party-Generation, die nun mit Macht in die bürgerlich-intellektuellen Zirkel der vereinigten Stadt drängt.
Autorenporträt
Andre Kubiczek, geb. 1969 in Potsdam, lebt er heute nach seinem Studium der Germanistik in Leipzig und Bonn als freier Autor in Berlin. 1997 erhielt er das Arbeitsstipendium Brandenburg, 1998 das Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.04.2003

Das Wellensittich-Attentat
Andrè Kubiczeks böser Ost-West-Berlin-Roman
Was für eine Verwandlung. Da hat der 1969 in Potsdam geborene André Kubiczek vor gerade mal einem Jahr mit dem Roman „Junge Talente” ein eher typisches, eher nicht originelles, wenn auch recht geläufig geschriebenes und sehr sensibel beobachtendes Generationenbuch vorgelegt. Es handelte von einem jungen Mann, der kurz vor dem Ende der DDR aus seiner Heimatprovinz im Harz nach Berlin flieht; dort sammelt er im Generationengemisch der Szenen in Prenzlauer Berg ein paar Erfahrungen: zwischen alten Dissidenten, jungen Punks und Skins findet er seine erste Liebe. Solche Provinz-Berlin-Bücher las man zuletzt immer häufiger, und jedes machte noch etwas beklommener als das vorangehende: Das Muster war allzu geläufig, und die Furcht, dass nach dem Aufbrauchen des naturgemäß mageren jugendlichen Lebensstoffs auch literarisch nichts mehr kommen würde, allzu naheliegend. Man hat kaum gute zweite Bücher gelesen in den letzten zehn Jahren.
Und nun das. Kubiczek kommt nach nur einem Jahr mit diesem zweiten Buch, und es bleibt nicht nur hinter dem ersten nicht zurück, sondern übertrifft es an Witz und Einfallsreichtum bei weitem. Es ist etwas völlig anderes in Machart, Inhalt und Klima geworden. Wer sich mit so lässiger Geschwindigkeit häuten kann, muss ein Künstler sein. Kubiczeks neuen Roman „Die Guten und die Bösen” mag man am Ende vielleicht nur brillanten Tinneff finden, doch es überrascht mit Rastelli-haften Entertainerqualitäten, es ist grell, spannend, böse und komisch.
Worum geht es? Das ist nicht so leicht zu sagen, denn die Handlung des Romans ist zwar nie unübersichtlich, aber doch kleinteilig, dicht, hoch verwickelt, also ornamental. Das Buch beginnt mit einem Personenverzeichnis, das vorerst abschreckend wirkt, treffen wir dort doch auf Gestalten mit „sprechenden” Namen wie Zampano Dunkel (Chef der Berliner Seiten von „Die Zeitgeist”), Bolèmia Hetschel (Redakteurin des Fernsehmagazins „Flashpixxx”) oder Zigmund Fraud (120 Kilo schwerer Abwäscher). Auweh.
Die „Handlung” dient vor allem dazu, die Leben dieser insgesamt 14 Figuren (darunter ein Wellensittich) zu verweben und durcheinander zu mischen. Sie zieht sich auf einen ganz kurzen Zeitraum in jenen dunklen Tagen zusammen, da einst die östliche Welt der Oktoberrevolution gedachte. Die Geschichte hat einen Ich-Erzähler, den arbeitslosen Sozialhilfeempfänger und Privatdetektiv Raymond Schindler, eine Figur, die sich durch heftigen Konsum schwerer Alkoholica und preziöse Vergleiche („...waren meine Gedanken zerwühlt wie die Betten eines Stundenhotels...”) als Chandler-Parodie ausweist. Alle anderen Gestalten (mit der weiteren bemerkenswerten Ausnahme des Wellensittichs) treten gleichsam „objektiv” unter ihrem Namen auf.
Der Querdenker Kuno Neppes
Das festzuhalten ist nicht unwichtig, denn Detektiv Schindler erklärt gleich zu Beginn: „Schon immer habe ich Bücher, in denen der Held den Mut hat ,Ich‘ zu sagen, und trotzdem alles weiß, jenen vorgezogen, in denen es anders ist.” Und am Ende baut Kubiczek eine metafiktionale Schleife ein, die zumindest den Verdacht keimen lässt, das ganze Buch sei von Schindler. Das sind fast akademische (böse gesagt: etwas streberhafte) Rückversicherungen des Autors, die ihm die uneingeschränkte Lizenz zu Geschmacklosigkeit, Affektenthemmung und Unwahrscheinlichkeit geben sollen.
Auf die Grellheiten aber kommt es an, nicht aufs narratologische Drumherum. Beim Durchmischen seiner 14 Handlungsstränge ist Kubiczek keine Unwahrscheinlichkeit zu groß, kein Effekt zu gesucht. Aber das ästhetische Gesetz fordert ja nur Folgerichtigkeit: Eine einzelne Unwahrscheinlichkeit in einer ansonsten durchschnittlich wahrscheinlichen Erzählung stört gewaltig, ein System von Zufällen macht Spaß. Da bleibt Bolèmia Hetschel, die gut aussehende, dumm-blonde Moderatorin, auf der Autobahn liegen, wo sie von dem aus der SPD ausgetretenen Bundestagsabgeordneten und Querdenker Kuno Neppes gerettet wird; dieser Neppes hat eine Zweitwohnung an der Schönhauser Allee, auf gleicher Höhe, aber direkt gegenüber der Wohnung von Ray Schindler; als Neppes bei einem mysteriösen Brand in seiner Wohnung umkommt, wird Schindler Zeuge; schon längst aber kennt auch er die Hetschel, die ihn über sexuelle Perversionen für ihr Schmuddelmagazin recherchieren lassen will (wozu später der fette Zigmund Fraud Material beisteuern wird). Und das ist nur ein winziger Ausschnitt des Geflechts.
Das meiste spielt sich in ein paar Straßen im „nördlicheren, abgerockteren Teil des Prenzlauer Bergs” im Umkreis einer In-Kneipe namens „Wir-Gefühl” ab – mit wenigen Ausflügen vor allem ins tiefe Charlottenburg. Also ein Berlin-Roman? In Gottes Namen ja. Wichtig ist aber nur, dass die beiden Stadthälften einander mit feindseligen, verständnislosen Augen anblicken. So sieht das Fernsehflittchen die armen Ostler: „Wurstgesichter, Tränensäcke, bonbonfarbene Plastikkleidung aus Ramschläden, die formlos an den grauen Gestalten hing.” Und so nimmt Schindler den Westen wahr: „In diesen Vierteln roch es nicht nach Müll, sondern nach Mülltrennung.” Im Westen gibt es, so sieht es die Hetschel, „Markisen über den Läden und demokratisch gesinnte Menschen auf dem Trottoir, die auch ein anspruchsvolles Outfit zu tolerieren bereit sind”.
Auch die Figuren sortieren sich sehr rasch in Ost und West, wobei die Westler überwiegend Medienmenschen sind, nicht nur Zampano Dunkel und Mademoiselle Hetschel, sondern auch der Stadtkolumnist Börries von Stammler, der sich am Ende zu neuen journalistischen Ufern bei einem Hochglanzmagazin in München aufmacht – Brancheninterna sind gut wiedererkennbar eingearbeitet.
Die Ostler sind Wendeverlierer: ein junger Vietnamese und revolutionärer Computerhacker, Sohn von Vertragsarbeitern der DDR; der an seiner Habilitationsschrift verzweifelnde Afrikawissenschaftler Roberto Schwarzhaupt, trotz seines Namens Albino, und Leit Wolf, einst Günther P., abgewickelter Stasi-Mitarbeiter, der in den Wäldern Brandenburgs eine terroristische Zelle führt, die mit kleinen Anschlägen eine neue revolutionäre Situation herbeizwingen will, aber vorerst unbeachtet bleibt.
Distinktion ist Gewalt
Das ist Comic-Ästhetik. Das Figurengewimmel, die dreiste billige Namengebung, die Eskalation der Ereignisse (am Ende brennt es nicht nur, es gehen auch Bomben hoch, und eine grauenhaft verunstaltete Leiche wird gefunden), all das verweist auf düstere Underground-Bildgeschichten, die den Phantasiemüll der Gesellschaft albtraumartig verzerren. Kubiczek, so ließe sich pointieren, ist der erste echte Popliterat in Deutschland, einer, der mit den dreckigen, proletarischen Urgründen des Pop arbeitet – ganz fern dem matt eleganten Gesäusel der lediglich um Coolness bemühten westlichen Popliteratur. Ihr zollt Kubiczek höhnischen Tribut, indem er seinen westlichen Figuren Produkte mit fingierten Markennamen auf den Leib appliziert: Ricardo-Harmoni- Fummel und Montegeneroso-Füllfederhalter oder ein Lara-Bigotti-Parfüm.
Das ist nicht nur ein literarischer Hinweis. Der Roman zeigt das konsumästhetische Universum der feinen Unterschiede durchgehend aus der Sicht von unten, mit den Augen jener, die es nicht beherrschen und es sich nicht leisten können. Distinktion ist Gewalt, das ist eine der Erfahrungen, die diesem Buch wichtig sind. Geschmack, gute Manieren, die ganze westliche Zivilisiertheit ist nur eine ganz alt-neue Gestalt von Klassendünkel und Einschüchterung. Fernsehen ist eine andere Gestalt solcher Gewalt, vor allem, wenn es über die Unterschichten berichtet: Bolèmia Hetschel schwärzt in Skandalsendungen nachlässige Putzfrauen in Luxushotels an; im Sozialamt tauchen Kamerateams auf, die armseligen „Sozialbetrügern” in die grauen Gesichter leuchten.
Kubiczeks Roman ist allen erzähltechnischen Absicherungen zum Trotz ein Buch starker Affekte. Der Westen ist geschmackvoll, reich und mitleidlos; seine Medien sind albern oder betrügerisch. Und die Freiheit? Ist vor allem eine Freiheit zur Perversion. Vanessa Schwarzhaupt, die Frau des Afrikawissenschaftlers, sucht sexuelle Erfüllung in einer der vielen Berliner Swingerparties, ein Houellebecqsches Inferno von Ledersex, Sadomasochismus und Golden-Shower-Lust.
Kuno Neppes, der biedere Querdenker, erweist sich als Sodomit, der in seiner geheimen Zweitwohnung Hunde und Katzen schändet. Als Bolèmia Hetschel den proletarisch attraktiven Raymond Schindler in ihr Charlottenburger Dachloft abschleppt, scheint der erotische Brückenschlag zu gelingen. Doch weit gefehlt. Bolèmia trägt teure, aber lächerliche Reizwäsche, die Raymonds Lust auf der Stelle tötet: Luxus killt Sex.
Wo das fabula docet dieses Romans mit seinem provozierenden Titel steckt, mag strittig bleiben. Der kleine Vietnamese wird von unbekannten Nazis verprügelt und kommt doch in die Fänge der Polizei; Leit Wolf muss seinen Unterstand aufgeben, weil in seinem Wald ein Freizeitpark entstehen soll; Zigmund Fraud wird zu einem weiteren Opfer Bolèmias, die ihn in ihrer Sendung als perversen Wichser erkennbar zeigt: Die Ostler sind die Opfer.
Karikatur und Klassenhass
Am allgemeinsten formuliert der Roman, worum es ihm geht, in der kinderbuchhaft anrührenden Tierfabel, die Kubiczek in sein Geflecht gepackt hat. Ein Wellensittich entflieht der Gefangenschaft bei einer alten Oma, die ihn abgöttisch liebt. Nelson, so der Name des Vogels, schafft es mit Mühe auf die andere Straßenseite – in die Wohnung von Kuno Neppes, des Tierschänders. Dieser missbraucht daraufhin nicht nur wie gewohnt Hund und Katze, sondern auch den süßen kleinen Vogel zur sexuellen Stimulation. Nelson kennt nun die Freiheit, und er schreitet zu einer letzten Verzweiflungstat: Nachdem er das Whisky-Glas von Neppes mit Schlaftabletten gefüllt hat, opfert er sich in einem Selbstmordattentat, das den Wohnungsbrand auslöst, in dem Neppes umkommt. „Als letztes werde ich von der Stuhlkante springen, eine kurze Schleife fliegen und auf den offen liegenden Propeller der Computerlüftung zuhalten.”
Klassenkampf ist keine Lösung, das sagt der Autor Kubiczek durch seine überraffinierte Konstruktion, die jede Karikatur gleich auch als Karikatur bezeichnet, durch das Scheitern aller seiner einzelkämpferischen Helden. Aber Klassenhass ist doch der Treibstoff seines Erzählens, das, was es schockierend und bewegend, also interessant macht.
GUSTAV SEIBT
ANDRÉ KUBICZEK: Die Guten und die Bösen. Roman. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2003. 320 Seiten, 18,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Wolfgang Schneider hat diesen "verwilderten Berlin-Roman" als kantiges Gegenstück zum Film "Good Bye, Lenin!" gelesen, von Rührung und Versöhnung könne bei Andre Kubiczek keine Rede sein, hier stehen sich noch die armen und die dekadenten Schweine, die Imbissbuden und Schuhboutiquen, der Müll und die Mülltrennung unversöhnlich gegenüber, feixt Schneider. Geschmackssicher geschmacklos inszeniert, findet er diese Parodie, über weite Strecken sehr vergnüglich und die Figuren treffend überzeichnet. Was ihn allerdings verwundert, ist, dass sich unter all den Chargen, die diesen Roman bevölkern, eine der "zartesten Liebesgeschichten der jüngeren deutschen Literatur" anbahnt. Und machmal will dem Rezensenten sogar scheinen, dass hier einer die bürgerliche Unmoral anprangert, wie es "seit Heinrich Böll" keiner mehr getan hat.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.06.2003

Berlin ist eine Bombe wert
Blutrünstig bis gleichnishaft: André Kubiczek klärt auf

An Vormittagen im Frühling macht Berlin einen beschaulichen Eindruck. Die Bäume sind beruhigend grün, die Straßencafés so gut gefüllt, als müßte niemand arbeiten, der Verkehr fließt träge, niemand scheint es eilig zu haben. Da schlafen sie noch, die Chaoten und Haßkappenträger, die Autoanzünder und Bombenleger, die vergnügungssüchtigen Partygänger und die ganze Halbwelt. Auch der Detektiv hat sich noch nicht erhoben, denn um diese Zeit gibt es für ihn nichts zu beobachten. Das verrückte und kriminelle Berlin wird erst sichtbar, wenn es dunkel wird.

In seinem zweiten Roman faltet André Kubiczek die Topographie der wiedervereinigten Hauptstadt virtuell auf wie den Falk-Plan "Berlin und Umgebung". Darauf verzeichnet er die Orte, an denen die Nerven der kranken Stadt sich vernetzen: die Bars und Restaurants, die Sexclubs und die Anarchistenkneipen, die Treffpunkte der Kulturschickeria, die verrottenden Hochschulen und die schicken oder schäbigen Altbauwohnungen, in denen kleine Ränke oder große Verschwörungen geschmiedet werden.

Die Wege seiner Figuren zeichnet er ein, bis sich alle Linien miteinander vernetzen. In der Mitte der trinkfeste Frührentner und Privatdetektiv Raymond Schindler, Alter ego des Erzählers; drum herum Zampano Dunkel, Chefredakteur eines Zeitgeist-Magazins, seine junge Frau Nadine und sein Kolumnist Börries von Stammler; Kuno Neppes, querdenkender Politiker; Roberto Schwarzhaupt, Afrikanist, und seine Frau Vanessa, Rassistin und Liebhaberin alternativer Sexualbetätigungen; Bolèmia Hetschel, Redakteurin eines boulevardesken Fernsehmagazins; Leit Wolf, ehemaliger Stasi-Offizier, und sein verfetteter kleinkrimineller Sohn Zigmund Fraud; der Hacker Zeus, Kind ehemaliger vietnamesischer Vertragsarbeiter in der DDR, und seine Freundin Nike Müller und weitere Personen mit sprechenden Namen nebst Lord Nelson, einem Wellensittich.

Wie nun aus dieser Figurenkonstellation eine Handlung wird, erläutert der Detektiv selbst: "Ich notierte für Nadine, daß die vordergründige Handlung von einer zweiten durchkreuzt werden müsse - in Klammern setzte ich dritte, vierte, fünfte usf. - (...) Ich lieferte auch gleich ein paar Themenbereiche für solche Nebenhandlungen mit: Mythologisches (blutrünstig bis gleichnishaft), Geschichtliches (blutrünstig bis gedenkenfördernd), Kriminalistisches (sehr blutrünstig, neue Umbringmethoden ersinnen!) und vor allem Sexuelles und dabei vor allem abnorm Sexuelles (Praktiken am Rande des Nervenzusammenbruchs, aber ohne allzuviel Blut). Der Effekt, den ich mir davon erhoffte, war nicht mehr und nicht weniger als eine Verwirrung des Lesers ..."

Die gelingt. Die vordergründige Handlung: Schindler arbeitet an zwei Fällen zugleich. Er soll ein Buch über Nadines wilde Berliner Jahre nach der Wende schreiben und im Auftrag der Fernsehredakteurin ermitteln, was es mit einer Horde Buschmänner auf sich hat, die nächtens beim Durchstöbern der Mülleimer der universitären Mensa beobachtet worden sind. Beide Fälle löst er mit Hilfe zahlreicher Drinks auf die gleiche Weise, nämlich durch Erfindung. Aufklärung findet dagegen im Bereich der Nebenhandlungen statt. Sie reicht bis in die koloniale Vergangenheit von Nikes Großvater Holm von Prinz und ihrem Zusammenhang mit aktuellen blutrünstigen Vorgängen in Afrika. Der Leser erfährt aber auch viel über die Eheprobleme der Schwarzhaupts, über alltägliche Gewalt in allen Spielarten, über politische Durchstechereien, den Schwindel der Medien, Kriminalität im Internet und die subversiven Aktionen abgehalfterter Agenten. Blut, Alkohol, Urin und Kotze fließen in Strömen, es platzen Bomben der realen und der metaphorischen Art, und Informationen mischen sich zum gigantischen Schlamassel. Mitten im Chaos aber blüht die zarte Liebe zwischen Zeus und Nike.

André Kubiczek ist ein begnadeter Stilparodist und Sprachjongleur. Er beherrscht den urbanen Stil und die Technik Chandlers samt den geschliffenen Dialogen, den coolen Ton des zeitgenössischen Pop-Romans nebst Cyberpunk und Splatter, und er fingiert wie mühelos die Sprache eines Reiseberichts aus dem neunzehnten Jahrhundert. Er ist literarisch und philosophisch beschlagen, kennt sich im Internet aus wie im heimischen Kiez, und vor allem ist er mit den Verschwörungstheorien dieser Welt vertraut. Dieser allmächtige Erzähler hat vor nichts Respekt, er schaltet und waltet, wie er will, und kann allen seinen Geschöpfen in den Kopf schauen. Selbst im kleinen Hirn des Wellensittichs fühlt er sich zu Hause, und siehe da: Der Vogel ist auch ein philosophisch gewitzter Dampfplauderer von hohen Graden: "Ich ganz allein kann mich aus dieser selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien. Ich hatte die Freiheit gewollt, und die Freiheit hat mir ihre häßliche Fratze gezeigt und obendrein ihr noch häßlicheres Genital. Nun ist es an mir, zu handeln."

Kubiczek kann alles, und das verführt ihn zum Mutwillen. So tut er des Guten und des Bösen zuviel. Da ist zu viel barocke Sprachartistik, zu viel schräge Metaphorik, zu viel abgedrehtes Milieu, zu viel Medienirrsinn und zu viel Verschwörungswahn und auch zu viel Sexualzirkus und Psychopathologie und hintergründig auch zu viel Haß und Neid. Die Matrix, in der die Figuren im Netz zappeln, ist zu heillos komplex, um etwas zu bedeuten. Deshalb wird sie am Ende gelöscht wie eine nicht mehr benötigte Datei. Der Roman, den Chandler in Berlin geschrieben hätte, könnte dann beginnen: "Es war einer dieser Tage, die wie Ziegelsteine auf dem Gemüt liegen. (...) Ich, Raymond Schindler, lag auf dem Bett, rauchte und betrachtete die Lichtspiele, die der Verkehr der Schönhauser Allee an meine Decke warf." Vielleicht wäre das der Berlin-Roman geworden, auf den viele warten. Zu hoffen bleibt einstweilen, daß dieser begabte Erzähler bei seinem bombastischen Berliner Feuerwerk nicht seinen Zündstoff aufgebraucht hat.

André Kubiczek: "Die Guten und die Bösen". Roman. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2003. 320 S., geb., 18,90 [Euro].

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"Kubiczek kommt nach nur einem Jahr mit diesem zweiten Buch, und es es bleibt nicht nur hinter dem ersten nicht zurück, sondern übertrifft es an Witz und Einfallsreichtum bei weitem. Es ist etwas völlig anderes in Machart, Inhalt und Klima geworden. Wer sich mit so lässiger Geschwindigkeit häuten kann, muss ein Künstler sein. Kubiceks neuen Roman Die Guten und die Bösen mag man am Ende vielleicht nur brillanten Tinneff finden, doch es überrascht mti Rastelli-haften Entertainer-Qualitäten, es ist grell, spannend, böse und komisch."
(Gustav Seibt in der SZ vom 01.03.2003)