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Im Schatten junger Mädchenblüte ist der zweite Band von Prousts monumentalem Romanwerk. Marcel durchlebt die verwirrende Zeit des Heranwachsens und beginnt während der Sommerfrische in dem malerischen Seebad Balbec am gesellschaftlichen Leben mit seinen bizarren Regeln teilzunehmen. Seit mehr als 14 Jahren arbeitet Stéphane Heuet an der Umsetzung von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als Graphic Novel. Dafür wählt er die Schlüsselszenen aus der Recherche aus und vermittelt mit diesen Passagen einen Eindruck von Prousts poetischer Prosa. Bei der zeichnerischen Umsetzung lehnt er sich an…mehr

Produktbeschreibung
Im Schatten junger Mädchenblüte ist der zweite Band von Prousts monumentalem Romanwerk. Marcel durchlebt die verwirrende Zeit des Heranwachsens und beginnt während der Sommerfrische in dem malerischen Seebad Balbec am gesellschaftlichen Leben mit seinen bizarren Regeln teilzunehmen. Seit mehr als 14 Jahren arbeitet Stéphane Heuet an der Umsetzung von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als Graphic Novel. Dafür wählt er die Schlüsselszenen aus der Recherche aus und vermittelt mit diesen Passagen einen Eindruck von Prousts poetischer Prosa. Bei der zeichnerischen Umsetzung lehnt er sich an den von Hergé geprägten Comic- Stil der Ligne claire der 1930er-Jahre an. Ein wunderbarer, neuer Zugang zu diesem großen Klassiker.
Autorenporträt
Marcel Proust, geboren 1871, führte ein Leben als Dandy und Schriftsteller in den höchsten Pariser Kreisen. Aufgrund seines Asthmas musste er sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen. Von da an arbeitete er obsessiv an dem literarischen Großepos, das er unvollendet hinterließ, als er 1922 verstarb.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.01.2014

Was für ein "Ach" im sechsten Band

Seit fünfzehn Jahren arbeitet Stéphane Heuet an der Comicadaption von Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit". Mit dem jetzt erschienenen Album überrascht er selbst die sorgfältigsten Beobachter dieses Mammutvorhabens.

Er hat es wirklich geschafft. Nicht nur, dass Stéphane Heuet zum hundertsten Jahrestag des Erscheinens von Prousts Auftaktbuch zur "Suche nach der verlorenen Zeit" (F.A.Z. vom 13. November 2013) einen weiteren Band seiner Comicadaption des vieltausendseitigen Romanwerks publiziert, er hat damit auch alle diejenigen überrascht, die seit fünfzehn Jahren mit größter Spannung diesem Mammutvorhaben folgen. Denn mit dem, was Heuet tut, wird nicht nur eine Geschichte in Bilder gesetzt, sondern auch Geschichte geschrieben. Comicgeschichte. Doch der Inhalt des sechsten Bandes (jetzt bei Delcourt erschienen, im April dann bei Knesebeck auf Deutsch) ist nicht, was die Beobachter erwartet haben.

Erwartet hatten sie den Beginn eines neuen Teilbands. 1998 hatte Heuet als Erstes "Combray" herausgebracht. Das entsprach dem gleichnamigen ersten Teil von "Unterwegs zu Swann", dem ersten Buch von Prousts Zyklus. Zwei Jahre später folgte aber nicht etwa dessen zweiter Teil, sondern Heuet begann mit der Adaption von "Im Schatten junger Mädchenblüte", dem zweiten Band der "Recherche". Dafür brauchte er zwei Comicalben, bevor er sich 2006 dann doch wieder dem Auftaktbuch zuwandte und dessen zweiten Teil, die berühmte "Liebe Swanns", in Bilder setzte. Auch dafür benötigte er noch einen weiteren Band, und als dieses nun bereits fünfte Album 2008 erschien, war mittlerweile auch dem letzten Sympathisanten des Heuetschen Projekts klargeworden, dass der 1957 geborene Bretone es zu eigenen Lebzeiten nicht schaffen würde, die ganze "Recherche du temps perdu" als Comic zu zeichnen. Was also würde er tun?

Heuet ließ sich seitdem Zeit, viel Zeit, und das nährte die Vermutung, dass er sich nun auf den Schlussband stürzen würde, auf "Die wiedergefundene Zeit". Der in Wien lehrende Literaturwissenschaftler und sowohl Proust- als auch Heuet-Exeget Achim Hölter sah darin geradezu den Königsweg zum Abschluss des Comiczyklus, denn auch Proust selbst hatte 1913 bei der Publikation seines ersten Teils nur zwei weitere angekündigt: "Im Schatten junger Mädchenblüte" und eben "Die wiedergefundene Zeit". Erst in den Folgejahren erweiterte er den Stoff dann derart, dass bei seinem Tod am 18. November 1922 bereits vier Teile erschienen und weitere drei im ausgereiften Manuskriptstadium waren. So kam es schließlich zur sieben-bändigen "Recherche". Und wer weiß, was passiert wäre, wenn Proust länger gelebt hätte?

Doch Heuet hat nicht das arbeitsökonomisch Naheliegende oder philologisch Nachvollziehbare getan, sondern das Konsequente: Er füllt mit seinem neuen Band eine Lücke, die er noch gelassen hatte. Denn "Unterwegs zu Swann" besteht aus drei Abschnitten, und der letzte mit dem eigentümlichen Titel "Namen und Orte: Namen" ist der am meisten vernachlässigte der ganzen "Recherche". Über diese gerade mal vierzig Seiten in der maßgeblichen französischen Pléiade-Ausgabe (in der deutschen Werkausgabe, die Luzius Keller bei Suhrkamp herausgegeben hat, sind es deren sechzig) liest man nach dem furiosen Sittenstück der "Liebe Swanns" gern hinweg. Doch gerade der kleine ominöse Abschnitt versieht in der "Recherche" eine wichtige Scharnierfunktion.

Hier kommt erstmals jene Melancholie zum Ausdruck, die später die "Wiedergefundene Zeit" und damit das Finale des Ganzen bestimmen soll. Dessen Höhepunkt ist ein Ball, in dem sich das Personal der Bücher noch einmal versammelt, nunmehr alt und hässlich, und aus diesem Erlebnis gewinnt der Ich-Erzähler die Motivation, seine Geschichte überhaupt zu beginnen, denn sonst würde alles untergegangen sein, was ihn zu dem gemacht hat, was er ist und was er bewundert. Die "Recherche" führt also mit dem Ende zurück an ihren Anfang. Doch die erste große Reflexion über die Gnadenlosigkeit der Zeit findet sich in "Name und Orte: Namen" mit einem fünffach gestreuten "Ach" (hélas): "Die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist nur ein wehmutsvolles Gedenken an einen bestimmten Augenblick; und die Häuser, Straßen, Avenuen sind flüchtig, ach! wie die Jahre." Nur dass hier der Verfall noch unaufhaltbar scheint, dem schließlich die Literatur ein Ende setzen wird. Was beschrieben wird, bleibt.

Der Schluss von "Namen und Orte: Namen" - und damit auch der des ersten Bandes der "Recherche" - zeigt den Ich-Erzähler in jener unmittelbaren Gegenwart, in der das Buch erschienen ist: im November 1913. Statt Kutschen fahren nun Automobile durch den Bois de Boulogne, die Damenhutmode ist schrill geworden (eine Klage, die in der ersten deutschen Übersetzung von Eva Rechel-Mertens ausgelassen, mittlerweile aber durch Keller wieder ergänzt wurde), die Herren tragen keine Zylinder mehr. Mitten durch solchen Niedergang des Schönen begibt sich der Erzähler noch einmal in seinen viel geliebten Pariser Stadtwald, und diese Ausfahrt schließt unmittelbar an die Schilderung eines Besuchs an, den er dort als verliebter Knabe machte - auf der Suche nach der Mutter der von ihm angebeteten Gilberte, der berühmt-berüchtigten Odette de Crécy, die als Madame Swann ihre Kokottenvergangenheit abzustreifen versucht hat, aber nicht aus ihrer Haut kann.

Der letzte Abschnitt von "Unterwegs zu Swann" ist ein Fest des inneren Blicks. Die doppelt im Titel stehenden Namen lösen Bilder und "wehmutsvolles Gedenken" aus - so wie es am Beginn des Buchs die notorische Madeleine zum Tee gemacht hat, durch deren alt vertrauten Geschmack der Erzähler zurück in seine Kindheit geführt wurde. Nach vielen hundert Seiten kommt er nun dort wieder an, wo er begonnen hatte, doch über die Suche nach der verlorenen Zeit ist er unglücklich mit der Gegenwart geworden. Und man kann es nachvollziehen, wenn er die schwärmerische Liebe des Halbwüchsigen zum Klang von Ortsnamen wie Florenz, Venedig, Bayeux, Parma oder Balbec, dem berühmten Badeort der "Recherche", beschreibt. Sie alle kannte der junge Erzähler aber gar nicht, und als er sie kennenlernte, war die Entzauberung groß. Zu lesen ist das aber erst in Prousts zweitem Band, wo es einen Abschnitt "Namen und Orte: Orte" gibt, wo nunmehr auch das ehedem erträumte Reiseziel Balbec sich als Enttäuschung erweist.

Diese Erfahrung hatte Stéphane Heuet schon in Bilder gefasst, im 2002 erschienenen dritten Album. Dass er nunmehr die notwendige Vorgeschichte dazu nachliefert, leuchtet ein, zumal er damit die ersten beiden Bände der "Recherche" komplett gemacht hat. Dass er auf die diesmal nur vierzig Textseiten genauso viele Comicseiten verwendet, das ist ungewöhnlich. Mit den zuvor publizierten 240 Seiten der fünf Vorgängerbände wurden weit mehr als tausend Seiten Text abgedeckt.

Heuet nutzt diese Großzügigkeit zur Zelebrierung just jenes Sinnes, der beim Comic generell und speziell in diesem Abschnitt auch bei Proust im Mittelpunkt steht: des Sehens. Träumereien sind hier nicht mehr, wie in den früheren Alben Heuets, synästhetisch gezeichnet - mit graphischen Entsprechungen für Düfte oder Klänge -, sondern es ist ganz die optische Phantasie am Zuge, obwohl all die schönen Vorstellungen ja aus dem Wortklang der Ortsnamen erwachsen. Eine Ansammlung von Schneekugeln, in denen sich auf engstem Raum zusammengedrängt die touristischen Sensationen von Venedig, Pisa, London, Athen finden (letztere drei kommen im Text gar nicht vor), wo Proust schreibt: "doch ist die Fassungskraft von Namen nur gering; ich konnte kaum zwei oder drei wichtigste ,Sehenswürdigkeiten' der Stadt in sie hineinbringen, und ganz übergangslos fanden sie sich dann nebeneinander darin" - diese Idee zeigt, dass Heuet viel mehr leistet als bloße Illustration. Er übersetzt in Bilder, hier etwa die "Namen" in eine visuelle Metapher.

Der Höhepunkt dieser Übersetzung ist die Sequenz zum Bois de Boulogne, die allein vierzehn Seiten füllt. Wie Heuet hier den Kontrast von Frühling (beim Besuch des Jugendlichen) und Herbst (bei der Rückkehr des Erwachsenen) inszeniert, ist ein Farbspektakel, das aber nichts Impressionistisches hat. In großen Bildkompositionen wie dem Vogelblick auf eine Wiese sind zahlreiche Objekte zu erkennen, die im erzählten Text vorkommen, Heuet aber nur ins Bild setzt. Hier wiederholen sich als winzige Details die Spiegelungen, die für Prousts ganzes Werk so wichtig sind und die Heuet zu einem Leitmotiv seiner Adaption gemacht hat - neben der Wiederkehr der Augen des Erzählers und den beigefarbenen Textkästen, deren Farbe an die Umschlaggestaltung der Bücher von Proust bei Gallimard denken lässt.

Und ganz zum Schluss liefert Heuet seinen besten Einfall: Er lässt die Bilder der letzten Seite verfärben und verwittern wie Herbstlaub im Bois de Boulogne, ach! wie die Jahre.

ANDREAS PLATTHAUS

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Staunenswert ist das Projekt, an dem der Franzose Stephane Heuet schon ein Weilchen sitzt und, wenn alles gut geht, für mehr oder minder den Rest seines Lebens noch sitzen wird. Er erarbeitet nämlich eine Comic-Version von Marcel Prousts Jahrhundertroman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Im Original sind bereits fünf Bände erschienen, dieser hier ist der dritte in deutscher Übersetzung, nämlich der zweigeteilte Proust-Unterroman "Im Schatten junger Mädchenblüte". Heuet gewinnt, stellt der Rezensent Christian Schlüter fest, im Fortgang seiner Produktion neue Freiheiten. Er lässt souveräner als zu Beginn mehr Text einfach weg und räumt die ligne-claire-Bildflächen öfter mal frei. Das ist nur gut so, findet Schlüter, der auch den Umgang mit den Bildklischees lobt - schließlich sei Erinnerung als Wiederholung beziehungsweise die Frage der Wiederholbarkeit schon Prousts ureigenes Thema.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.11.2013

14. November 1913 Vor 100 Jahren erschien der erste Band von Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“
Die chemische
Reaktion des Leidens
Bernd-Jürgen Fischer bringt Prousts „Recherche“ noch
einmal komplett ins Deutsche – der erste Band liegt vor
VON INA HARTWIG
Mit dem Titel geht es schon los. „Du côté de chez Swann“ – was soll das, bitteschön, bedeuten? Grammatisch ist das ein Clash, ein Zusammenprall zweier Ortsbestimmungen, und keineswegs das vornehme Französisch, das Marcel Proust nachgesagt wird. „Auf der Seite von bei Swann“ wäre die wörtliche Übersetzung, was natürlich weder Rudolf Schottlaender befolgte, der erste Übersetzer Prousts ins Deutsche, noch Eva Rechel-Mertens, die in den Fünfzigerjahren als bisher Einzige die sieben Bände von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ vollständig übertragen hat; sie prägte den bis heute bei deutschsprachigen Proust-Lesern geläufigen Titel „In Swanns Welt“. Schottlaender hatte 1926 „Der Weg zu Swann“ vorgeschlagen. Jetzt, hundert Jahre nach der Originalausgabe, will Bernd-Jürgen Fischer die „Recherche“ noch einmal komplett übertragen; der erste Band liegt vor. Er nennt ihn „Auf dem Weg zu Swann“.
  Man kann lange darüber streiten, ob „côté“ treffend mit „Seite“, „Weg“ oder „Welt“ zu übertragen sei. Wichtig ist, dass ein weiterer Band der „Recherche“ das Wort im Titel führt: „Le côté de Guermantes“. Rechel-Mertens hatte, konsequent, „Die Welt der Guermantes“ daraus gemacht; Fischer kündigt „Der Weg nach Guermantes“ an. Mit „Unterwegs zu Swann“ versus „Guermantes“ hat sich Luzius Keller vorgewagt, als er Rechel-Mertens’ Übersetzung für die kommentierte Frankfurter Proust-Ausgabe bei Suhrkamp (1994-2002) überarbeitete; damit wurde die Titel-Korrespondenz der beiden „côtés“ ausgerechnet von einem der besten Proust-Kenner eliminiert.
  Der arme Rudolf Schottlaender, dessen „Swann“ von dem einflussreichen Romanisten Ernst Robert Curtius brutal verrissen worden war, durfte nicht weitermachen. Walter Benjamin und Franz Hessel haben die Staffel übernommen, aber nur „Im Schatten junger Mädchen“ und „Die Herzogin von Guermantes“ geschafft. Damit war die Ära der deutsch-jüdischen Proust-Übersetzer fürs Erste beendet.
  Das ist ein großer Jammer und nicht nur deshalb von Belang, weil Charles Swann, in dessen „Welt“ Proust uns eben hier einführt, ein Jude ist und damit Gegenpol zur „Welt“ der katholischen Aristokratie, prototypisch vertreten durch das Geschlecht der Guermantes (zu dem neben der Herzogin auch der schwule Charlus zählt). Die ganze „Recherche“, deren Gesellschaftsleben durch die Dreyfus-Affäre die härteste Prüfung erfährt, ist von Gegensätzen, von getrennten Welten oder Seiten, gekennzeichnet. Der tiefste Graben dürfte zwischen einem republikanisch gesinnten Judentum verlaufen und einer Aristokratie, die die Französische Revolution am liebsten rückgängig machte. Proust, erzogen von einer jüdischen Mutter, deren Humor er aufgesogen hat, witterte offenbar schon früh die Illusion vollständiger Integration. Sein jüdisch-katholisches Elternhaus war keineswegs die Regel, vielmehr im Paris der Jahrhundertwende die Ausnahme.
  Im ersten Band der „Recherche“ befinden wir uns in der jüdisch-republikanischen Illusionsphase: Swann, steinreich, gebildet, Mitglied des Jockeyclubs, ist ein anerkanntes Mitglied der Gesellschaft, bis hinein in höchste Regierungskreise. Bei den Eltern des Erzählers in Combray ist er ein gern gesehener Gast (seinetwegen muss Marcel auf den sehnlich erwarteten mütterlichen Gute-Nacht-Kuss verzichten). Swann ist verheiratet mit Odette, einer ehemaligen Kokotte, und hat eine Tochter, Gilberte, in die sich der Erzähler, durch eine Weißdornhecke spähend, verliebt.
  „Du côté de chez Swann“ besteht aus drei Teilen, wovon der mittlere und längste, „Eine Liebe von Swann“, rückblickend aus Sicht eines allwissenden Erzählers berichtet wird, als Roman im Roman. Die Story geht vor die Geburt Marcels zurück, als Swann einer Frau verfiel, die „nicht sein Genre“ war; eben Odette. Von Wagner versteht die Dame etwa so viel „wie der Hund vom Klavierspielen“ (Schottlaender) oder „wie die Kuh vom Zitherspielen“ (Rechel-Mertens) oder: die Wagners Opern anzuhören „so viel interessiert wie eine Kuh das Stricken“ – so übersetzt Fischer und wirft ein gelungenes „na, viel Spaß!“ hinterher. Damit kommt er dem Originaltext durchaus nah: „Entendre du Wagner . . . avec elle qui s’en soucie comme un poisson d’une pomme, ce serait gai!“ Sieh an, bei Proust sind’s Fisch und Apfel, die Odettes musikalischen Stupor anzeigen! Redewendungen sind das Schlaraffenland der Übersetzer. Das Vergnügen sei ihnen gegönnt.
  Empfindlicher muss man auf Eingriffe reagieren, die an die Substanz des Gedankengebäudes rühren. So ist im Original in Bezug auf Swanns notorische Eifersucht vom „chimisme même de son mal“ die Rede. Diesen „Chemismus seines Leidens“ hat bislang lediglich Luzius Keller übernommen; alle anderen stören sich daran. Bei Rechel-Mertens wird eine „merkwürdige Alchemie“ daraus, die im Original aber nicht zu finden ist: „Ainsi, par le chimisme de son mal, après qu’il avait fait de la jalousie avec son amour, il recommencait à fabriquer de la trendresse, de la pitié pour Odette.“ Fischer, dazu neigend, Fremdwörter zu unterdrücken, schreibt: „So also begann er wieder nach dem gleichen Umwandlungsverfahren seines Leidens, mit dem er aus seiner Liebe seine Eifersucht erzeugt hatte, Zärtlichkeit und Mitleid für Odette hervorzubringen.“ Es ist ja nicht so, dass Proust der „Chemismus“ unterlaufen wäre! Er trifft vielmehr den Kern der Sache: Eifersucht folgt chemischen Gesetzen; sie ist zugleich Bedingung der Liebe und eine Krankheit. Diese Sinnlichkeit chemischer Reaktionen hat mit romantischer Hingabe und geteilter Zuneigung nichts, aber auch gar nichts zu tun. Für Prousts böse Liebestheorie, die sich in der Beziehung des Erzählers zu Albertine noch steigern wird, ist Swann das Urmodell.
  Hinzu kommt: Prousts Roman steckt voller Ärzte-Satire, was pikant ist angesichts der medizinischen Großkarriere seines eigenen Vaters (Choleraforscher, Universitätsprofessor, Akademiemitglied), von dessen Wissen er offenkundig profitierte. So sehr, dass die Ärzte der „Recherche“ im Grunde Hochstapler sind, allen voran Doktor Cottard aus dem „kleinen Kreis“ der Salonkönigin Madame Verdurin. Da passt es doch ganz vorzüglich, wenn es über Swanns Liebe resümierend heißt, sie sei, „wie man es in der Chirurgie ausdrückt, nicht mehr operabel“.
  Um Prousts Biss hat sich der lange Zeit unterschätzte Rudolf Schottlaender hochverdient gemacht. So macht er beispielsweise aus „ça ne devrait pas être permis de jouer Wagner comme ça!“ (wörtlich: Es sollte nicht erlaubt sein, Wagner so zu spielen!): „Es ist einfach polizeiwidrig schön, wie er seinen Wagner kann.“ Man vernimmt hier das unverklemmte, gewitzte, das moderne Deutsch der Weimarer Republik, das die Nazis konsequent zu vernichten wussten. Eva Rechel-Mertens’ Übertragung mit ihrer ausgewogenen, stilsicheren Sprache bleibt kanonisch. Luzius Keller liefert den interessantesten, werkgenetisch aufschlussreichen Anmerkungsteil. Auch Bernd-Jürgen Fischers Apparat beeindruckt durch eine schwerpunktmäßig historische Detailfülle.
  Die neue Übersetzung vermag die von Eva Rechel-Mertens dennoch nicht abzulösen, das lässt sich nach dem ersten Band bereits sagen. Zu schwankend sind bei Fischer die Sprachebenen; mal altertümelnd, dann wieder kommt mit einer „Bauernmaid“ (für „paysanne“) eine allzu forsche Färbung herein. Sicher, „Fehler“ lassen sich in jeder Übersetzung nachweisen. Was die Neuübersetzung eines Klassikers aber leisten muss, ist, den Ton zu treffen, den des Werks wie den der Gegenwart. Bei Fischer fehlen Glanz und zeitgenössischer Drive. Das eben war bei Schottlaender, aller „Fehler“ zum Trotz, anders.
Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 1: Auf dem Weg zu Swann. Übersetzung und Anmerkungen von Bernd-Jürgen Fischer. Reclam Verlag, Stuttgart 2013. 693 Seiten, 29,95 Euro.
Wagners Musik interessiert Odette
so viel „wie eine Kuh das Stricken“
    
    
So profan sah sie aus, die Erstausgabe von Band eins des monumentalen Romans:
Marcel Prousts „À la recherche du temps perdu –
Du côté de chez Swann“ erschien 1913 bei Bernard Grasset, Paris. FOTO: OH
Im Schatten junger Männerblüte: Marcel Proust im Kreis
seiner Freunde, Robert de Flers (links) und Lucien Daudet, undatierte kolorierte Aufnahme.
FOTO: RUE DES ARCHIVES / SÜDDEUTSCHE ZEITUNG PHOTO
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»Wann kommt es im Leben eines Menschen dazu, dass er zu Marcel Prousts Riesenwerk greift? Wenn er in einem Buch lesen will wie in sich selbst.« Jochen Schmidt DIE ZEIT 20231127
Er studierte allein sich selbst und die Welt

Die Länge der "Suche nach der verlorenen Zeit" wäre eine Zumutung, wenn sie nicht tiefen Sinn hätte: Über Marcel Proust, das Gesellschaftstier und den phänomenalen Seelenzergliederer, der nie arbeiten musste.

Von Jürgen Kaube

Die Bedeutung eines Werkes erschließt sich meistens nicht durch einmalige Lektüre. Doch was machen wir, wenn der wiederholten Lektüre durch das Werk selbst Grenzen gesetzt sind? Kaum eine Erinnerung an das Romanwerk von Marcel Proust, die nicht zu den vielerlei Gründen, von ihm fasziniert zu sein, den Hinweis auf seine Länge hinzufügt. Der vor einhundertfünfzig Jahren geborene Autor hat mit "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" im Grunde nur ein einziges Buch geschrieben, in sieben Bänden und auf ungefähr viertausendfünfhundert Seiten. Ein Buch über einen Erzähler, das aus seiner Perspektive berichtet, wie er zum Schriftsteller wird, indem er seinen Kindheitserinnerungen nachgeht, den "Sensationen" der Natur und Kunst, der Liebe und der Eifersucht, der Interaktion in den adeligen und bürgerlichen Salons in Paris zwischen Belle Époque und Erstem Weltkrieg sowie der Erfahrung des eigenen Müßiggangs - auch das heißt "temps perdu", vertane Zeit. Viertausendfünfhundert Seiten zur Frage, woran sich geistige Weltwahrnehmung einer Zeit schult.

Alles andere aus Prousts Feder sind Vorarbeiten, Seitenwege, interessante Übungen, diesseits der Forschung aber unwichtig und wichtig allenfalls zum Verständnis der Entstehung des großen Romans. Das eine Werk wiederum, da ist nichts zu machen, erschließt sich allein durch vollständige Lektüre. Es hat keinen Sinn, nur die Kindheitserinnerungen des Erzählers im ersten Band zu lesen, die Beschreibungen der Pariser Partys in Band drei für ein eigenständiges Buch zu halten oder sich ganz den Fanatismen des masochistischen Eros in Band fünf zu widmen. Prousts Figuren kehren wieder, sie altern im Roman, sie haben überraschende Karrieren, oder es wiederholt sich in ihnen, was zuvor geschah.

Die Geliebte des ersten Protagonisten etwa, Charles Swann, zu dem und seiner Tochter der Erzähler in Band eins aufschaut, hält den Maler Vermeer für einen Zeitgenossen und verliert das Interesse an ihm, als sie erfahren muss, man wisse nicht einmal etwas über seine Frau. Drei Bände und zwanzig Jahre später denkt in "Sodom und Gomorrha" die Geliebte des Erzählers, Albertine, als von den Vermeers in Holland die Rede ist, es handele sich um eine dortige Familie, und verneint, sie zu kennen. So geht es ständig. Ein ganzes Kapitel widmet der Erzähler eingangs der These, in Ortsnamen sei die Essenz der Orte aufbewahrt, später himmelt er fast einen ganzen Band lang eine Herzogin nicht zuletzt aufgrund ihres Namens an, noch später tritt ein Professor auf, der die Geselligkeit ständig mit etymologischen Ableitungen von Eigennamen unterhält oder quält. Nichts geht verloren, vieles zeigt erst seine schöne, dann seine groteske oder böse Seite. Die "Recherche" existiert nur in der Einzahl. Das macht sie zu einem der längsten Romane der Literaturgeschichte.

Doch der Anatole France zugeschriebene Satz, das Leben sei zu kurz, Proust hingegen zu lang, bezog sich nicht so sehr auf den Umfang des Werks. Er meinte Prousts Sätze, deren Nebensatzverkettungen dem Dichter die Beschreibung eingetragen haben, er formuliere im Französischen deutsch.

Nehmen wir nur diesen über die bettlägerige Tante des Erzählers: "Sie liebte uns wirklich und wahrhaftig, es hätte ihr Genuß bereitet, uns innig zu beweinen, die etwa in einem Augenblick, da sie sich wohlfühlte und nicht an Schweißausbrüchen litt, eintreffende Nachricht, daß das Haus einer Feuersbrunst zum Opfer gefallen und die ganze Familie dabei umgekommen sei, daß bald kein Stein mehr davon stehen werde, wobei ihr aber noch Zeit bleibe, sich ohne Eile in Sicherheit zu bringen, sofern sie auf der Stelle aufstehe, hat sicher als Möglichkeit in ihren Hoffnungen eine Rolle gespielt, besonders da sich hier zu dem nicht ganz so ins Gewicht fallenden Vorteil, ihre ganze Liebe zu uns in langer Wehmut auszukosten und zum grenzenlosen Staunen des ganzen Dorfes unseren Trauerzug anzuführen - mutig, wenn auch tiefgebeugt, todgeweiht, aber ungebrochen -, noch jene weit verlockendere gesellt hätte, daß sie dann gerade im richtigen Augenblick ohne enervierendes Zaudern den Sommer auf ihrem hübschen Landbesitz Mirougrain hätte verbringen können, wo es einen Wasserfall gab."

An dieser Stelle ist erkennbar, dass die Längen Prousts oft nicht solche der Hingabe an Reflexion sind, die dem Roman zunächst seine kontemplative Atmosphäre geben und später, wenn die Eifersucht mächtig wird, über Hunderte von Seiten zu so unerbittlichem wie sinnlosem Hin- und Herwenden von Verdächtigungen und taktischen Plänen führen. Proust ist vielmehr lang aus Genauigkeit, hier in der Schilderung einer maliziösen Seele. Er häuft ihre scheinheiligen Motive, um sie am Ende in die selbstgerechte Freude am Besitz eines Wasserfalls münden zu lassen. Aber Seebilder, Theaterabende, Blumen, Klaviersonaten und Gesichter behandelt er ganz genauso, mit unermüdlicher Aufmerksamkeit. Immer entdeckt er dabei etwas Vergleichbares. Wendungen, etwas sei "wie" etwas anderes, stehen auf jeder dritten Seite: "Er verkroch sich wie ein Reisender, der ohne Neugier, stumpf und starr, in der Eisenbahn im Halbschlaf seinen Hut über die Augen schiebt." Alles, was zum Hinsehen, Beschreiben und Denken zwingt, hängt bei ihm untereinander zusammen. Theaterlogen sind Meeresgrotten, Restaurants Aquarien, Liebe nur die Bedingung dafür, das Leid der Eifersucht auskosten zu können. Gilles Deleuze hat es so formuliert: Prousts Dichtung rivalisiere mit der Philosophie.

Warum also soll man sich auf den weiten Weg dieses Werks begeben, womöglich sogar mehrfach? Warum etwa, so hat ein früher Kritiker sinngemäß formuliert, einem Knaben sechzig Seiten lang bei seinem vergeblichen Versuch folgen, ohne Gutenachtkuss einzuschlafen? Eine Antwort darauf liegt im Arsenal der Figuren Prousts. Sie werden meistens ganz klar gezeichnet und bis in die Winkel ihrer Kleinlichkeit und Größe ausgeleuchtet. Und dann werden sie auf einmal ihr Gegenteil. Oder besser: Es wird deutlich, dass wir und oft auch der Erzähler etwas Entscheidendes an ihnen nicht bedacht haben. Schon die Angst des Knaben vor dem strengen Vater beispielsweise, der ihn bestimmt bestrafen wird, wenn er die mütterliche Zuwendung durch Wachbleiben zu erpressen versucht, geht völlig ins Leere. Swann hängt sein Leben an eine Frau, die ,nicht von seinem Genre' ist. Die schreckliche Salonbetreiberin Madame Verdurin, die wir tausend Seiten später fast vergessen haben, steigt am Ende durch eine dritte Ehe phantastisch auf. Den furchteinflößenden Baron Charlus, Inbegriff ältesten aristokratischen Selbstbewusstseins, finden wir zuletzt als masochistisches Opfer von bezahlten, für ihn also "unechten" Sadisten.

Überhaupt werden vor allem die Befürchtungen wahr, die man gar nicht hatte. Auch das führt zur Länge des Romans: Es gibt in ihm kaum Figuren, von denen feststeht, dass es Nebenfiguren bleiben werden. Zunächst auf drei Bände angelegt, hat ihn wohl nur Prousts Bewusstsein vom Schreiben gegen die eigene tödliche Krankheit davor bewahrt, noch weiter anzuwachsen.

Doch es ist nicht das hingebungsvoll wie polemisch gezeichnete geistige Tier- und Pflanzenreich, durch das Proust die Leser am meisten beschenkt. Und es sind auch nicht die Hunderte von Aphorismen im Stil der französischen Moralistik, auf die er seine Beschreibungen oft zulaufen lässt, von "Was man weiß, gehört nicht einem selbst" über "Sobald man zu zweit ist, verschwinden die Ideen" bis zum Satz über den Tod des Dichters Bergotte, in den Züge von Anatole France eingegangen sein sollen: "Man kann nur sagen, daß alles in unserem Leben sich so vollzieht, als träten wir mit der Bürde in einem früheren Dasein übernommener Verpflichtungen in das derzeitige ein; die Umstände unseres Erdendaseins bedingen keineswegs, daß wir uns für verpflichtet halten, Gutes zu tun, zartfühlend, ja höflich zu sein."

Prousts Roman, so hat Ernst Robert Curtius in seiner soeben neu aufgelegten wunderbaren Studie von 1925 notiert, sei geschrieben von einem Menschen, der weder einen Beruf noch je die Sorge hatte, vom Romaneschreiben leben zu müssen. Der Erzähler studiert nur sich selbst und die Welt, kein Fach. Er hat keine Karriere, es sei denn, man bezeichnete seine Aufnahme in den Salon der Herzogin von Guermantes so. Man kann die Stellen leicht abzählen, an denen in der "Recherche" von Geld oder gar wirtschaftlichem Drangsal die Rede ist. Fast möchte man sagen: aber von allem anderen Drangsal schon. Jede Form von Leid - geschlechtliches, religiöses, intellektuelles, politisches - wird erkundet, um nicht zu sagen ausgekostet, so als bliebe der Kunst, die sich von glücklichen Erinnerungen nährt, ansonsten nur die Hohlform des Glücks. Das war sein Beruf, die Herstellung eines Messinstruments für Leid und Glück. Es ist aufgrund der Sachverhalte, die mit ihm gemessen werden sollen, ein Unikat. Das sekundäre Glück, diese Messung nachzuverfolgen, ist groß. Es gibt keinen Grund, sich den Roman kürzer zu wünschen.

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"In der Tat kann diese Aufnahme süchtig machen. Matic versteht es wie kein Zweiter, Prousts Prosa, die an kunstvollen Bandwurmsätzen ebenso reich ist wie an Reflexionen und ausführlichen Beschreibungen scheinbar nebensächlicher Dinge, zum Schwingen zu bringen......Die Gesamtausgabe ist ein Meilenstein in der Geschichte des Hörbuchs und Matics Lesung eine Meisterleistung der Sprecherkunst."