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Der Band des Kleist- und Kafka-Herausgebers versammelt Kleist-Aufsätze, die um die Brandenburger-Kleist-Ausgabe herum entstanden sind. Die Essays versuchen in detaillierten Werkanalysen, Kleists weit in die Moderne vorausgreifende Poetik darzustellen. Das Verhältnis von Edition und Interpretation steht dabei im Mittelpunkt des philologischen Interesses.

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Produktbeschreibung
Der Band des Kleist- und Kafka-Herausgebers versammelt Kleist-Aufsätze, die um die Brandenburger-Kleist-Ausgabe herum entstanden sind. Die Essays versuchen in detaillierten Werkanalysen, Kleists weit in die Moderne vorausgreifende Poetik darzustellen. Das Verhältnis von Edition und Interpretation steht dabei im Mittelpunkt des philologischen Interesses.
Autorenporträt
Roland Reuß, Jahrgang 1958, Studium in Heidelberg. Dissertation mit einer Arbeit zu Hölderlin: '.../ Die eigene Rede des andern.' Hölderlins Andenken und Mnemosyne (erschienen bei Stroemfeld/Roter Stern 1990). Herausgeber der editionswissenschaftlichen Zeitschrift Text.Kritische Beiträge (Stroemfeld/Roter Stern 1995ff.)
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.01.2011

Im Bruchstück das Ganze sagen

Lauter Feuerproben: Zum Auftakt des Kleist-Jahres feiert die Brandenburger Ausgabe seiner Werke ihren triumphalen Abschluss. Eine handliche Münchner Edition macht ihr Konkurrenz.

Von Ingeborg Harms

In einer idyllisch gelegenen Sandgrube zwischen Potsdam und Berlin schoss Heinrich von Kleist seiner Freundin Henriette Vogel am 21. November 1811 eine Kugel ins Herz, wartete eine gute halbe Minute, um sich ihres Todes sicher zu sein, faltete ihr die Hände über der Brust, kniete nieder, stützte seinen Kopf seitlich auf eine Pistole, "deren Mündung gegen den Mund stand", und machte damit auch seinem Leben ein Ende.

Das Dichterleben, das mit vierunddreißig Jahren auf diese Weise endet, hatte so wenig gemein mit der abgerundeten Meisterschaft eines Goethe wie sich Kleists Schriften mit dessen Werkausgabe "letzter Hand" vergleichen lassen. Zwar hat Kleist die erste Buchedition seiner Erzählungen noch selbst betreut und seine Dramen mit Ausnahme der "Herrmannsschlacht" und des "Prinzen von Homburg" auszugsweise oder vollständig hier und da in Satz gegeben. Doch sofern er sie nicht der von ihm und Adam Müller herausgegebenen Zeitschrift "Phöbus" anvertraute, sind hinsichtlich seines Einflusses auf die endgültige Druckgestalt kaum Zeugnisse vorhanden.

Dass Kleist ein Autor war, der die deutsche Sprache nicht nur im Satzbau, in der Wortwahl und der Freiheit seiner Formulierungen, sondern auch im Schriftbild, in der Orchestrierung von Lücken und orthographischen Zeichen, im atemlosen Rhythmus seiner Interpunktion revolutionierte, hat keiner so beharrlich betont wie der Mitherausgeber der Brandenburger Kleist-Ausgabe Roland Reuß. Durch konsequente Erschließung der gesamten Überlieferung an handschriftlichen und gedruckten Textzeugen macht die Edition ein Werk neu zugänglich, dessen Sprengkraft im Detail liegt und das die Formideale der Klassik umso mehr aus den Angeln hebt, als es ihnen oberflächlich zu entsprechen scheint. Im Geiste der Romantik, die das Erhabene im Banalen fand und im Erhabenen die Banalität entdeckte, überließ Kleist einige seiner dichtesten, in Gestalt von Anekdoten und literarischen Scherzi daherkommenden Texte dem flüchtigen Papier der "Berliner Abendblätter".

Obwohl er vom Nachruhm träumte, wollte er sich unmittelbar mitteilen, das Geschriebene bis in seine feinsten Verästelungen so sprechend und vielsagend machen, wie es sonst nur das vertraute Gespräch unter Freunden ist. Er suchte jenen blitzschnellen, zündenden Austausch der Geister, der im eigentlichen Sinne politisch ist und zu Kleists Zeiten nur auf der Bühne und in der Ironie zu haben war. Heute twittern alle, Fragment und Dialog sind die das Schriftliche beherrschenden Formen, doch wir haben wenig von Kleists aphoristischer Kunst gelernt, im Bruchstück das Ganze zu sagen. Immer auf dem Sprung, ohne feste Heimat, mit bürgerlichen und künstlerischen Neuanfängen experimentierend, hat Kleist den Bruch in der Kontinuität zu seiner Signatur gemacht. Schlichtes Beispiel dafür ist der oft verfälschte Titel seines Lustspiels "Der zerbrochne Krug", in dem die unapostrophierte Elision des es im Adjektiv Bruch und Kittung des dramatischen Streitobjekts vorwegnimmt und so in nuce das Lustspiel enthält.

Zu Beginn des Kleist-Jahres ist mit dem Abschluss der Briefedition der letzte der zwanzig Textbände der Brandenburger Ausgabe im Stroemfeld Verlag erschienen. Die mit Umschriften versehene Abbildung aller vorhandenen Autographen erlaubt es, die Kleists Suizid vorausgehenden Konflikte um die Zensur der "Berliner Abendblätter", um die enttäuschende Reaktion des preußischen Hofes auf den "Prinzen von Homburg" und die Weigerung Wilhelms III., sich Österreichs Feldzug gegen Napoleon anzuschließen, im Echo der Handschrift aufzuspüren.

Zu den auf oft abenteuerliche Weise überlieferten Zeugnissen von Kleists letzten Wochen zählen auch seine Briefe an Marie von Kleist, in denen er die sprachgewandte Förmlichkeit seiner Schreiben an Staatskanzler Karl August von Hardenberg, Regierungsrat Friedrich von Raumer und, in verzweifelnder Hoffnung, an Wilhelm Prinz von Preußen, mit anspielungsreicher Intimität vertauscht. Die Cousine war eine enge Freundin Königin Luises und trug nach Einschätzung ihres Biographen Bruno Hennig durch ihre literarische Bildung nicht wenig zur "folgenreichen Verbindung preußischen Hof- und deutschen Geisteslebens" bei. Mit Kleist verband sie neben ihrem Sinn für seine exzentrischen Werke eine mutmaßlich platonische Liebesbeziehung, die eine schwere Kränkung erlitt, als Kleist sich für seine Todesfreundin Henriette Vogel entschied. Erst in den letzten Briefen wird Kleist der Cousine schreiben, dass sie "die Allereinzige auf Erden" war, "die ich jenseits wieder zu sehen wünsche". Ja, er lässt sie wissen, dass er Henriette Vogel niemals gegen sie "vertauscht haben würde, wen sie weiter nichts gewolt hätte als mit mir leben".

Diese Korrespondenz hat Marie von Kleist vor ihrem Tod verbrannt, doch dank des Kleist-Philologen Georg Minde-Pouet existieren fotografische Detailaufnahmen eines inzwischen verschollenen Briefes, den Kleist sieben Wochen vor seinem Tod an die Cousine schickte. Er ist ein Hilferuf, den sie zu entschlüsseln versäumte. Ohne den Grund für seine Liaison mit Henriette Vogel direkt auszusprechen, schreibt er Marie, der er den gemeinsamen Freitod zuvor mehrfach angetragen hat: "Ich würde Ihnen den Tod wünschen, wenn Sie zu sterben brauchten, um glücklich zu werden." Obschon die Fragmente spärlich sind, die die Detailfotos des Originals überliefern, lassen die häufigen und vehementen Streichungen, die ungleichmäßige Zeilenführung und ein von gehemmtem Schreibfluss zeugender dickflüssiger Federaufsatz am aufgewühlten Zustand des Absenders keinen Zweifel.

Die editorische Detailbesessenheit der Brandenburger Ausgabe galt lange Zeit als spitzfindig, ja als zu informativ, um noch leserfreundlich zu sein. Doch was optische und taktile Qualitäten betrifft, ist mancher Kleist-Liebhaber vom Dünndruck der Hanser- und Suhrkamp-Editionen auf die Brandenburger Ausgabe von Stroemfeld umgestiegen. Nicht nur jedes Drama, auch die meisten Novellen haben hier ihren eigenen Band. Letztere sind in einer den Augen angenehmen Baskerville-Type gesetzt und entsprechen annähernd dem Satzspiegel der Ausgabe von Kleists "Erzählungen" von 1810/11. Schon zu Beginn der Edition vor zwanzig Jahren distanzierte sich Reuß von historisch-kritischen Ausgaben, die dem Auge divergierende Fassungen dichterischer Werke in Paralleldruck zumuten und damit den poetischen Text zum "Funktionär eines vergleichenden Verfahrens" degradieren.

Polemiken dieser Art lagerte die Brandenburger Ausgabe in die jedem Band beigelegten "Kleist-Blätter" aus, die neben texterläuternden Materialien und Aufsätzen zum Editionsverfahren auch interpretatorische Beiträge von Roland Reuß enthalten. Seine Aufsätze sind nun unter dem Titel ",Im Freien'?" gesammelt erschienen. Die philologisch unübliche Praxis, Edition und Deutung explizit zu verbinden, rechtfertigt Reuß durch den Hinweis auf den "unauflösbaren Zusammenhang von Spekulation und Gegenstandserschließung". Subjektive Prämissen spielen seiner Überzeugung nach in jeder Textkonstitution eine Rolle, auch wenn sie nicht offen zutage treten. Paradox mag klingen, dass der BKA-Editor gerade für seine Herangehensweise das psychoanalytische Ideal der "gleichschwebenden Aufmerksamkeit" gegenüber den Quellen reklamiert, eine Haltung, die darauf zielt, sich von subjektiven Projektionen frei zu halten. Das "Sich-Einlassen auch auf die kleinsten scheinbaren Nebensächlichkeiten", formuliert er gewohnt offensiv, "ist ein ideales Korrektiv gegenüber den Verlockungen der jeweils durchs Dorf gejagten Alphadiskurse (über die Jahre hinweg: ,Dekonstruktion', ,Diskursanalyse', ,Gender Studies', das ,Erhabene', ,Post-Colonial-Studies' etc.)".

Man beginnt zu ahnen, dass die Editionsprojekte der beiden Heidelberger Wissenschaftler, zu denen auch eine Kafka-Ausgabe gehört, als Flucht vor einer Literaturwissenschaft zu verstehen sind, die über Methoden- und Theoriestreitigkeiten die unsubsumierbare Eigenwilligkeit der Literatur vergessen hat: Gewissenhafte Textrekonstruktion als praktizierter Respekt vor der Dichtung, die allzu oft in wechselnde Thesenraster gepresst worden ist. Dennoch und gerade deshalb ist die These kühn, die Roland Reuß seinen Aufsätzen voranstellt. Er versteht Kleists Dichtung als Suche nach einer nicht mehr instrumentellen Sprache, die weder selbst die Welt verwalten will, noch sich wie auch immer gearteten Poetologien beugt: einer Sprache "Im Freien", die zugleich ihre eigene Theorie und ihr eigenes Beispiel ist.

Für die genaue Kleist-Lektüre und das Erschütterungsvermögen des Denkens durch literarische Inkongruenzen setzen die Essays neue Maßstäbe. Reuß lässt sich von Widersprüchen im Oberflächenrealismus der Dichtung zu weitreichenden philosophischen Folgerungen inspirieren. Nie verliert er den Dramatiker und Novellisten aus dem Blick, der das Unerhörte mit Worten inszenierte: "Alles, was geschrieben steht, alle Marionetten und die von ihnen verwendeten Sprachtrümmer dienen dem Zweck, dieser Stimme einen Resonanzraum freizuräumen." Man lese seine "Käthchen"-Deutung, die in der Kunigunde-Gestalt Kleists Abrechnung mit der Kunst wahrnimmt und in der "Feuerprobe", welche Käthchen der eiskalten Nebenbuhlerin zuliebe ins brennende Schloss treibt, das existentielle Opfer wittert, das auf Kosten des ästhetischen Effekts und aller egoistischen Interessen die Herrschaft des schönen Scheins überwindet.

Ein halbes Jahrhundert lang war Helmut Sembdners Kleist-Ausgabe das Standardwerk für die Beschäftigung mit dem Dichter. Dass der Hanser Verlag sie nun durch eine neue, von Reuß und Staengle betreute Münchener Ausgabe ersetzt hat, signalisiert die wachsende Akzeptanz ihrer rigorosen Philologie. Die Münchener Edition ist eine auf der Brandenburger Ausgabe basierende, kritische Leseausgabe. Abweichende Textschichten werden im Anhang geliefert und verwirren die Lektüre nicht. Hinsichtlich problematischer Stellen sowie historischer und biographischer Zusatzinformationen ist die Ausgabe "auf das Wesentliche konzentriert". Von Kleist durchstrichene Zeilen, wie sie in der Detailfotografie des Briefs an Marie von Kleist zu entdecken sind, wird man in ihr nicht finden.

Es bedarf keiner kritischen Edition, um einen unbefangenen Leser durch Kleist betroffen zu machen. Wenn er den "Insel-Almanach auf das Jahr 2011" aufschlägt, wird er in den Kleist-Leseproben, die Jens Bisky aus diversen Ausgaben zusammengetragen hat, genug entdecken können, um die Texte andernorts im Zusammenhang lesen zu wollen. Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung allerdings gibt es zur Brandenburger Kleist-Ausgabe künftig keine Alternative.

Das Gedenkjahr bietet nicht nur die Chance, sich Kleist zu nähern oder ihm gar zum ersten Mal zu begegnen; der Literaturbetrieb sorgt auch dafür, dass mancher für immer abgeschreckt wird. Wehe dem, der seine Kleist-Lektüre mit "Heinrich von Kleist. Geschichte meiner Seele" beginnt, einer Publikation der Berlin University Press, in der sich ein als "Herausgeber" auftretender Autor namens Raphael Graefe jenes Werk zusammenreimt, von dessen mutmaßlicher Existenz wir nur durch einen Brief Johannas von Hazas wissen, der den Verlust der Schrift durch ihre mit Kleist befreundete Mutter 1816 beklagt. Zu den großen biographischen Lücken im Leben Kleists hat Graefe nichts Neues beizutragen. Er gibt einfach die Rätsel weiter: "Was ich hier im Norden Frankreichs wollte, fragte ich mich jeden Morgen und Abend." Um die zahlreichen Kleist-Zitate zu rechtfertigen, muss Graefes Ich-Erzähler sich selbst beständig eitel über die Schulter schauen. Ansonsten liefert das Buch edle Langeweile, einen spitzwegisierenden Bedächtigkeitston, durchsetzt mit Kitschetüden, in denen, Kleist möge ihm vergeben, "die Wortkristalle zu tanzen beginnen auf dem Fest der Sprache".

Heinrich von Kleist: "Sämtliche Werke". Brandenburger Ausgabe IV/3. Briefe 3.

Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Stroemfeld/Roter Stern, Basel und Frankfurt a. M. 2010. 749 S., geb., 198,- [Euro].

Heinrich von Kleist: "Sämtliche Werke und Briefe". Münchener Ausgabe.

Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Hanser Verlag, München 2010. 3 Bde., Kass., 2744 S., geb., 128,- [Euro].

Heinrich von Kleist: "Küsse, Bisse". Insel Almanach auf das Jahr 2011.

Zusammengestellt von Jens Bisky. Insel Verlag, Berlin 2010. 231 S., geb., 16,- [Euro].

Heinrich von Kleist: "Geschichte meiner Seele". Eine Fiktion.

Hrsg. von Raphael Graefe. Berlin University Press, Berlin 2010. 148 S., geb., 19,90 [Euro].

Roland Reuß: "Im Freien?" Kleist-Versuche.

Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2010. 400 S., geb., 48,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Rezensent Manfred Koch begrüßt diesen Band mit Aufsätzen über Kleist von Roland Reuß, der zusammen mit Peter Staengle die Brandenburger Kleist-Ausgabe ediert. Die Intention des Autors sieht er darin, das Befremdliche, Sperrige an Kleist herauszustellen und ihn gegen vereinfachende Vereinnahmungen zu verteidigen. Trotz Polemik insbesondere gegen ältere und aktuelle konkurrierenden Kleist-Editoren und spekulativen Interpretationen der Dramen und Erzählungen hat Koch die Essays mit großem Gewinn gelesen. Er sieht Reuß Interpretationen von Kleist durchaus auf dekonstruktivistischer Linie. Demnach handelten die Texte "letztlich nur von ihrer eigenen Sinnverweigerung". Auch wenn er hier so seine Zweifel hat, ist er doch hocherfreut über die akribische Sorgfalt des Autors, jedes Iota Kleists ernst zu nehmen. Denn dies scheint ihm das beste Gegenmittel gegen die "biografische Versimpelung des Rätsels".

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