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Der 'Führer': Es gibt in Deutschland vermutlich keinen zweiten Begriff, der erst eine ähnliche Karriere und dann einen so jähen Absturz erlebt hat. Er ist nach wie vor diskursiv so diskreditiert, dass er in der Sprachpraxis kaum gebraucht werden kann. Allerdings beweist dies nur, wie wichtig er einmal gewesen sein muss; nicht erst im Dritten Reich, auch schon während der Weimarer Republik, und mitten im republikanisch eingestellten Bürgertum. Je genauer man auf die Jahre zwischen 1918 und 1933 blickt, desto deutlicher wird es, dass man wenig über die Innenansichten dieser…mehr

Produktbeschreibung
Der 'Führer': Es gibt in Deutschland vermutlich keinen zweiten Begriff, der erst eine ähnliche Karriere und dann einen so jähen Absturz erlebt hat. Er ist nach wie vor diskursiv so diskreditiert, dass er in der Sprachpraxis kaum gebraucht werden kann. Allerdings beweist dies nur, wie wichtig er einmal gewesen sein muss; nicht erst im Dritten Reich, auch schon während der Weimarer Republik, und mitten im republikanisch eingestellten Bürgertum. Je genauer man auf die Jahre zwischen 1918 und 1933 blickt, desto deutlicher wird es, dass man wenig über die Innenansichten dieser gesellschaftlichen Gruppe weiß, der man am ehesten Widerstandskräfte gegen den Nationalsozialismus zugetraut hätte. Wie die Begriffe ›Republik‹ und ›Demokratie‹ mit Inhalt gefüllt sind, darüber herrscht noch kaum Sicherheit. Die Arbeit argumentiert, dass das Politik- sowie das Führerbild des republikanischen Weimarer Spektrums in hohem Maße auf Mustern beruht, die ihre Wurzeln in der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts haben. Die Schlagworte des Sturm und Drang – Originalität, Regelfeindlichkeit, Neuheit – prägen die Vorstellungen von idealen politischen Führern. Durch das Austauschen von Codierungen von der Ästhetik zur Politik wird das bürgerliche Führerbild poetisiert und mit einer Aura des künstlerischen Genies ausgestattet. Die Fiktion gewinnt Macht über das Faktische.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2012

Schöner Kopf und alter Zopf
Die problematische Genie-Suche des republikanischen Bürgertums während der Weimarer Republik

Walter Benjamins Diktum von der Ästhetisierung des Politischen als wesentliche Legitimationsstrategie von Herrschaft ist von der Geschichtswissenschaft nur zögerlich aufgegriffen und an geeigneten Exempeln untersucht worden. In letzter Zeit wächst die Sensibilität für ästhetische Fragestellungen bei Historikern. Und mit der Studie von Carolin Lange liegt nun ein großer Wurf vor, an dem sich künftige Forschungen zu messen haben werden. Denn die literatur- wie geschichtswissenschaftlich gleichermaßen kundige Autorin hat in vorbildlicher Weise einen besonders politikaffinen ästhetischen Diskurs unter die Lupe genommen: den Genie-Diskurs.

Schon seit der von Historikern bis heute kaum rezipierten Studie des Germanisten Jochen Schmidt wissen wir um die politische Sprengkraft des Genie-Konzepts, das in politischer Hinsicht seine destruktive Ausformung in Hitler erfuhr. Frau Lange wendet sich dezidiert gegen teleologisch angelegte Argumentationsmuster, welche in der genialischen Aufladung von herausragenden Personen generell eine bedenkliche Tendenz zur totalen Auslieferung an solche vermeintlichen Genies erblicken. Stattdessen will sie genuin demokratische Potentiale eines Genie-Diskurses vor allem in der frühen Weimarer Republik identifizieren. Daher richtet sich ihr Hauptaugenmerk auf Zuschreibungen in der bürgerlich-demokratischen Presse.

Im Endergebnis muss sie allerdings doch einräumen, dass auch der bürgerliche Genie-Diskurs anfällig war für eine Selbstauslieferung an Künstler-Politiker, die keinen Sinn für die Nüchternheit demokratischer Institutionen wie das Parlament besitzen konnten. Denn gerade die intensiven Austauschbeziehungen zwischen Ästhetik und Politik bildeten "die offene Flanke in der politischen Kultur des republikanischen Weimarer Bürgertums" und ebneten damit dem Aufstieg des Künstler-Politikers Hitler den Weg. Dass dies keine zwangsläufige Entwicklung war und gerade in der Frühphase der Republik einige Exponenten der jungen Demokratie dem Genie-Anforderungsprofil gerecht zu werden vermochten, ist die eigentliche Leistung der klug argumentierenden Studie.

Das Eindringen literarisch verbreiteter Narrative des Genialen in die Politik, dessen Genese im Kaiserreich eine genaue Untersuchung wert wäre, stellte die Führungsgarde der Republik zunächst nicht vor unlösbare Probleme. Originalität, schöpferische Begabung, kreativer Regelbruch und instinktsicheres Auftreten - all jene Eigenschaften aus dem Arsenal des klassischen Genie-Diskurses konnten in den Anfangsjahren der Republik auch und nicht zuletzt gegen die Eliten des verflossenen Kaiserreiches instrumentalisiert werden, denen - gemessen an solchen Kriterien - eine miserable Performanz attestiert wurde. Hingegen stand mit dem Zentrumspolitiker und Reichskanzler Joseph Wirth ein Anwärter auf den Lorbeerkranz des Genies zur Verfügung, der in das entsprechende Narrativ gerade deswegen passte, weil er impulsiv, assoziativ und leidenschaftlich auftrat. Im Vergleich zu ihm verblasste der kunstsinnige Walther Rathenau, der als viel zu kopflastig eingestuft wurde. Prägnant formuliert die Verfasserin: "ohne ästhetischen Reiz keine politische Exzellenz".

Die Ergebnisse der Studie von Frau Lange rufen geradezu danach, die Poetisierung von Führerbildern in anderen historischen Kontexten zu untersuchen. Dies gilt etwa für den Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik, als dessen Exponent Gustav Stresemann gelten kann: seine Entwicklung vom Annexionisten des Kaiserreichs zum international renommierten Repräsentanten der Weimarer Demokratie kann in dieser Hinsicht als Übertragung der narrativen Muster des Bildungsromans gedeutet werden. Auch die Konsequenzen einer genialischen Erwartungshaltung an die visuelle politische Kultur sind enorm, weil sie zu einer Revitalisierung des physiognomischen Diskurses führen: Das Genie lässt sich demnach an der markanten Ausdrucksform des Kopfes ablesen; Köpfe, nicht austauschbare Dutzendgesichter, verlangt das politische Publikum. Solchen Anforderungen konnte der Weimarer Parlamentarismus schon aus strukturellen Gründen nicht gerecht werden, zumal die visuelle Sensibilität dort wenig ausgeprägt war. Auf diese Weise wurde das Zentralorgan demokratischer Willensbildung zu einer "Dunkelkammer".

Im Verlaufe der Weimarer Republik wurde das Bürgertum bei seiner Ausschau nach politischen Genies im Spektrum republikanischer Kräfte kaum noch fündig. Heinrich Brüning, den man fast krampfhaft dem genialischen Deutungsmuster anzupassen suchte, war letztlich nicht mehr als eine "Schwundstufe" der Genie-Erwartung. Und weil die Genie-Bilanz der Republik so desaströs ausfiel, konnte der sich als Künstler-Politiker stilisierende Hitler in mancherlei Hinsicht das Erbe solch überzogener Genie-Erwartungen antreten.

Insofern liefert die Studie eine Fülle wichtiger Einsichten in die Vorgeschichte des Hitlerschen Geniekults. Dazu zählt nicht zuletzt der Beleg, dass der bürgerliche Genie-Diskurs zumindest seit 1919 die von medizinisch-naturwissenschaftlicher Seite hervorgehobene pathologische Schattenseite des Genies ausblendete. Der auf den italienischen Mediziner Cesare Lombroso zurückgehende Nexus von Genie und Wahnsinn, der von deutschen Medizinern wie Ernst Kretschmer aufgegriffen und popularisiert wurde, spielte in der politischen Debatte um genialisch begabte Führer keine Rolle. Daraus wird man ableiten können, dass bei der Zuweisung von Genie-Eigenschaften an Hitler keine untergründige Auffassung mitschwang, im "Führergenie" sei bei aller Wertschätzung auch das Potential zu pathologischer "Entartung" angelegt.

Künftigen Forschungen wird es vorbehalten bleiben, die Frage nach der sozialen Verbreitung des Genie-Diskurses aufzuwerfen. War die Anlegung ästhetischer Maßstäbe an die Politik nur ein bildungsbürgerliches Phänomen? Oder reichte diese ästhetische Aufladung des Politischen auch in Arbeiterschaft und Landbevölkerung hinein? Letztlich wird für die Eindringtiefe und damit die Politikhaltigkeit des genialischen Deutungsmusters eine Abgleichung mit aussagekräftigen Ego-Dokumenten als Rezeptionszeugnissen unverzichtbar sein. Dass Literatur als Medium der Welterschließung dabei eine zentrale Rolle spielt und dass darin enthaltene narrative Muster individuelle Sinnverarbeitungsprozesse steuern, hat Carolin Langes Untersuchung eindrucksvoll demonstriert.

WOLFRAM PYTA

Carolin Dorothée Lange: Genies im Reichstag. Führerbilder des republikanischen Bürgertums in der Weimarer Republik. Wehrhahn Verlag, Hannover 2011. 312 S., 34,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Wolfram Pyta begrüßt die zunehmende Sensibilität für ästhetische Fragestellungen unter Historikern. Die, wie er findet, maßgebliche Arbeit der literatur- wie geschichtswissenschaftlich gleichermaßen kundigen Autorin Carolin Dorothee Lange schätzt er darüber hinaus wegen ihrer klugen Argumentationen und prägnanten Formulierungen. Lange vermag dem Rezensenten zu belegen, dass der Genie-Kult der frühen Weimarer Zeit durchaus demokratisches Potential besaß. Allerdings muss sie auch die Verführbarkeit des bürgerlichen Lagers einräumen, wie Pyta ergänzt. Eigentliche Leistung der Studie ist für ihn dennoch die Einsicht, dass der Künstler-Politiker Hitler kein zwangsläufiges Resultat des Geniekults war und dass Literatur und narrative Muster Sinnverarbeitungsprozesse zu steuern vermögen.

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