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Produktdetails
  • Verlag: Steidl
  • Seitenzahl: 232
  • Erscheinungstermin: September 2008
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 435g
  • ISBN-13: 9783865217783
  • ISBN-10: 3865217788
  • Artikelnr.: 23899929
Autorenporträt
Wonneberger, Jens
Jens Wonneberger, geboren 1960, aufgewachsen im sächsischen Ohorn, studierte Bauingenieurwesen und war als Hilfsarbeiter tätig. Seit 1992 arbeitet er als Schriftsteller, Journalist und Kritiker. Jens Wonneberger lebt in Dresden.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.01.2009

Rentenanspruch eines Lebens
Jens Wonnebergers Roman „Gegenüber brennt noch Licht”
Das Glück des Voyeurs liegt in der Distanz zu den Dingen, die um ihn herum geschehen. Im Verborgenen kann er ihnen folgen, ohne in sie hineingezogen zu werden. Das aber ist zugleich sein größtes Unglück. Er hat Teil und ist doch außen vor. Er vergrößert kraft seiner Phantasie die Ausschnitte des anderen Daseins zu einer ganzen Biographie, schafft aus einem Detail die Totale, und bleibt doch immer nur ein Zaungast des fremden Lebens. Er spinnt sich etwas zusammen, einen Kriminalfall wie James Stewart in Hitchcocks „Rear Window” oder ein großes Gesellschaftspanorama wie E.T.A Hoffmanns Vetter am Eckfenster. „Das Wenige, was ich in den letzten Jahren erlebt habe, habe ich an meinem Fenster erlebt”, sagt Herr Plaschinski. Andreas Plaschinski ist Beamter bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und heimlicher Gast in den Wohnungen seiner Nachbarn. Abends zieht er sich in die Dunkelheit seiner Küche zurück und beobachtet, welche Schauspiele sich in den erleuchteten Fenstern der anderen Häuser ereignen.
Eine der Observierten nennt er „die Unregelmäßige”, ihr Tagesablauf verrät keine Struktur. Manchmal hetzt sie in größter Eile aus ihrer Wohnung, dann liest sie morgens in aller Ruhe die Zeitung – Plaschinskis Urteile fallen streng aus: „Diese Schlampe kennt keine Ordnung.” Wo keine Ordnung ist, lässt sich auch schwer ein System erkennen, und das braucht einer wie Plaschinski. Zwei junge Männer „aus der Wohnung unten rechts” geben ebenfalls Rätsel auf: Handelt es sich um Studenten oder Börsenspekulanten? Plaschinski verlässt seinen neutralen Beobachtungsposten, wenn er den Nachbarn in Gedanken eine Biographie auf den Leib schneidert; zuweilen lässt er sich sogar dazu hinreißen, seine Fiktionen mit den Daten im Dienststellencomputer abzugleichen – und meist gibt es nicht die geringste Übereinstimmung zwischen Erdachtem und Herausgefundenem.
„Gegenüber brennt noch Licht” heißt der neue Roman des in Dresden lebenden Autors Jens Wonneberger. Plaschinski ist ein Held, der in seiner Einsamkeit zum schrulligen Bruder all jener in ihrer Haut heimatlosen Angestelltenfiguren der Literaturgeschichte wird. Jens Wonneberger hat sich eines solchen Lebens angenommen und dabei einen Ton aufgegriffen, den man aus den frühen Romanen Wilhelm Genazinos kennt: In einem wunderschön traurigen, lakonischen, ganz zurückgenommenen Gestus, der manchmal ins Komische kippt, zeigt er an seinem abgründig normalen Helden die Entfremdung von Ich und Welt. Und die Entfremdung von sich selbst: „Ich fühle mich jung, doch das Zerwürfnis zwischen mir und meinem Körper hat langsam aber sicher einen Grad erreicht, bei dem sich nicht mehr vermitteln lässt, ich kann das alles höchstens noch ignorieren.”
Eine stete Überforderung
Eine Stunde früher von der Arbeit entlassen zu werden bedeutet für Herrn Plaschinski ein großes Kümmernis: Die geschenkte Zeit, mit der er nichts anzufangen weiß, ist wie ein Mahnmal der eigenen Tatenlosigkeit. Dass Plaschinski bei der Bundesversicherungsanstalt arbeitet und Lebensläufe auf ihre Rentenansprüche hin prüft, ist von besonderer Ironie: Das Dasein wird hier auf einen Aktenvorgang heruntergebrochen – und der Vorgang setzt sich bis ins Private fort. Plaschinski ist das Leben eine stete Überforderung, der nur mit Gleichmut und Gewohnheit zu begegnen ist. „Es gibt so vieles, über das ich nachdenken möchte, aber wie so oft reicht schon dieser Vorsatz aus, jeden zielgerichteten Gedanken zu vertreiben.”
Einmal lernt Plaschinski die junge Kollegin Anna-Sophie kennen, und es entwickelt sich andeutungsweise eine Romanze. Am Ende verbringt Plaschinski gar eine Nacht mit ihr in seiner Wohnung. Während sie neben ihm schläft, schleicht er sich zu später Stunde in die Küche, stolpert über ihre Aktentasche, flucht kurz darüber, dass seine eigenen Ordnungsvorstellungen so leicht durcheinandergewirbelt werden können und blickt dann aus seinem eigenen wieder hinaus auf die fremden Leben: „Mich würde interessieren, wer in Manuelas Wohnung eingezogen ist. Gegenüber brennt noch Licht.” Jens Wonneberger hat einen großen kleinen Roman über das Glück und Unglück des Beobachtens geschrieben: ein wunderbar beiläufiges Spiel, das vom Unheimlichen des Alltags handelt – und von den unbeholfenen, phantasiereichen Fluchten aus der Gewöhnlichkeit.ULRICH RÜDENAUER
JENS WONNEBERGER: Gegenüber brennt noch Licht. Roman. Steidl Verlag, Göttingen 2008. 232 Seiten, 18 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Klein aber oho findet Ulrich Rüdenauer diesen Roman von Jens Wonneberger. So beiläufig ihm das Kammerspiel um die Abgründe des Alltags erscheint, wenn der Held, schrulliger Nachfahre aller unbehausten Angestelltenfiguren der Literatur, wie Rüdenauer vermerkt, Glück und Unglück des heimlichen Observierens seiner Nachbarn durchlebt, entwickelt sich das für den Rezensenten zum Tableau von der Entfremdung von Ich und Welt. Wonnebergers trauriger, lakonischer Ton, der Rüdenauer angenehm an den frühen Wilhelm Genazino erinnert und der "manchmal ins Komische kippt", beschert ihm ein wunderschönes Lektüreerlebnis.

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