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Der Märchenroman „Solange die Nachtigall singt“
Als Jari sich nach beendeter Tischlerlehre auf den Weg macht, will er eigentlich nur drei Wochen auf Wanderschaft gehen, der Enge des überbehüteten Elternhauses entkommen und herausfinden, wer er selbst ist. Doch sehr weit kommt er beim Wandern nicht. In einer kleinen Galerie nehmen den gerade Achtzehnjährigen die Bilder einer jungen Künstlerin gefangen, die mehr zu verbergen scheinen, als sie zeigen. Fasziniert von den Gemälden und den Geschichten, die in ihnen stecken, folgt Jari der Malerin Jascha in den Wald, obwohl sie verkrüppelt ist und auf ihn wenig anziehend wirkt.
Der Nebelwald oder Dunkelforst, wie ihn die abergläubischen Menschen aus dem Dorf nennen, birgt jedoch viel mehr Geheimnisse, als er Antworten gibt. Antworten, die vielleicht nur Jascha kennt, die all ihre Hässlichkeit verliert, als Jari und sie den Saum des Waldes erreicht haben. Verwirrt und gebannt beschließt Jari, bei ihr zu bleiben, in ihrem verwinkelten Haus voller Spiegel, mitten im Wald. Eine Nacht nur oder zwei, nur so lange, bis er weiß, welch düstere Geschichte sich hinter den klaren Bildern verbirgt. Doch jeder Tag bringt neue Fragen, neue verheißungsvolle Verführung, die doch nie zu einem Ziel zu führen scheint. Und neue Aufgaben, die Jari anfangs noch zögerlich, dann aber immer entschlossener in Angriff nimmt. Sein Leben im Wald gleicht einem Fiebertraum, der Zeit und Raum verschwimmen lässt. Nicht immer ist sich Jari dessen sicher, was er sieht. Doch er erkennt, eine furchtbare Grenze überschritten zu haben, als der Förster tot im Wald liegt – zu Tode gekommen durch Jaris Hand.
In Solange die Nachtigall singtdient das Grauen als literarisches Mittel und erzeugt atemlose Spannung. Denn das Geheimnis des Nebelwaldes zieht den Leser ebenso in seinen Bann wie Jari. Schreckliches ist geschehen in Jaschas Vergangenheit, Schreckliches geschieht in Jaris Gegenwart.
Lesend taucht man ein in diesen Fiebertraum, verfolgt atemlos die Veränderung, die Jari durchläuft, glaubt immer wieder zu wissen und das durch Einschübe aus der Vergangenheit so geschickt erzählte Märchen zu durchschauen, dessen Kapitelüberschriften die Farben aus den geheimnisvollen Bildern sind. Bis zum Schluss hofft man, bangt für Jari und für Jascha, die so viel mehr ist als nur eine Malerin.
Ein großartiges Märchen voll düsterer Faszination, einem Hauch von Erotik und Tod – spannend bis zum Schluss. Und sicherlich Michaelis’ bisher wunderbarster Roman. (ab 14 Jahre und für Erwachsene)
MAREN BONACKER
Antonia Michaelis: Solange die Nachtigall singt. Oetinger 2012. 446 Seiten, 16,95 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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