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Angela Rohrs späte Erzählungen Der Vogel und Die Zeit - entstanden um 1959 - gehören zu den ersten literarischen Auseinandersetzungen mit den Frauenschicksalen unter der stalinistischen Verfolgung. Beide Texte sind erst 2005 wiederaufgefunden worden. Die Österreicherin Angela Rohr (1890 - 1985) - expressionistische Dichterin, Dadaistin und Freundin Rilkes - verschlug es nach Versuchen in der Psychoanalyse 1925 nach Moskau und Sibirien. Von dort aus schrieb sie Feuilletons für die Frankfurter Zeitung und andere deutsche Blätter. In den Literaturgeschichten des Expressionismus galt die Dichterin…mehr

Produktbeschreibung
Angela Rohrs späte Erzählungen Der Vogel und Die Zeit - entstanden um 1959 - gehören zu den ersten literarischen Auseinandersetzungen mit den Frauenschicksalen unter der stalinistischen Verfolgung. Beide Texte sind erst 2005 wiederaufgefunden worden. Die Österreicherin Angela Rohr (1890 - 1985) - expressionistische Dichterin, Dadaistin und Freundin Rilkes - verschlug es nach Versuchen in der Psychoanalyse 1925 nach Moskau und Sibirien. Von dort aus schrieb sie Feuilletons für die Frankfurter Zeitung und andere deutsche Blätter. In den Literaturgeschichten des Expressionismus galt die Dichterin bis heute als verschollen. Sowohl ihre frühe Prosa und die journalistischen Schriften als auch ihre späten Texte werden hier erstmals gesammelt und im Rahmen des Gesamtwerks vorgestellt.
Autorenporträt
Angela Rohr, geboren 1890 in Znaim/Mähren, gehörte zur Zürcher Dada-Szene, ging 1925 mit ihrem Ehemann nach Moskau. 1941 verhaftet, wurde sie zu 5 Jahren Gulag verurteilt. Sie war im Lager Ärztin und wurde anschließend verbannt. 1957 rehabilitiert, kehrte sie nach Moskau zurück, wo sie 1985 starb.

Gesine Bey, geboren 1953, promovierte über Robert Musil und war Dozentin für deutsche Literaturgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität, lebt als freie Autorin und Herausgeberin in Berlin.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.06.2010

Großer Ernst, leichter Ton
Endlich publiziert: Prosa der Gulag-Überlebenden Angela Rohr
Jahre, nachdem Stalin gestorben war und man ihr, der Gulag-Überlebenden, die Rückkehr nach Moskau gestattet hatte, schrieb Angela Rohr an den Arbeiterschriftsteller und SED-Funktionär Willi Bredel. Sie kannte ihn aus den Tagen der gemeinsamen Emigration, vielleicht konnte er etwas für sie, für ihre Texte tun. Aber der Genosse erinnerte sich nicht. Rohr? Angela?
„Vor mir“, antwortete sie im Oktober 1961, „steht eine Aufgabe, die gewiss nicht leicht ist. Sie können sich meiner nicht erinnern, und ich soll mich nun erweisen. Hätte ich einen Buckel oder hinkte ich, selbst feuerrote Haare wären in meinem Fall nicht zu verachten. Wer war ich? Eine kleine Frau, nicht gerade hässlich und nicht besonders schön, mein Mut aber war ganz und gar unsichtbar, saß tief in mir, bis er endlich Zeit und Gelegenheit fand auszureifen. Vielleicht könnte er mich charakterisieren.“
Sie wollte nur „schreiben und drucken“, aber man veröffentlichte sie nicht. So ist Angela Rohr bis heute eine Unbekannte geblieben. Nur wenige kennen ihre Erinnerungen „Im Angesicht der Todesengel Stalins“, die 1989, vier Jahre nach ihrem Tode, in Österreich erschienen. Nur als Fußnote geistert sie durch Literaturgeschichten des Expressionismus. Im Jahr 2004 stieß die Berliner Literaturwissenschaftlerin Gesine Bey auf einen bis dahin unbekannten Brief Bertolt Brechts, geschrieben am 29. Mai 1941 an den russischen Schriftsteller Konstantin Fedin. Brecht empfahl darin die Ärztin und Autorin Angela Rohr der Aufmerksamkeit Fedins. Vier Wochen später wurden sie und ihr Mann unter Spionageverdacht – weil sie deutschsprachige Emigranten waren – verhaftet. Nach wenigen Nächten in der Lubjanka verlegte man sie ins Butyrki-Gefängnis, dann kam sie über Saratow, wo Wilhelm Rohr starb, nach Sibirien. Dank ihre Medizinkenntnisse vermochte sie als Lagerärztin zu überleben.
Durch Brechts Empfehlungsschreiben neugierig geworden, suchte Gesine Bey weiter und fand im Nachlass Fedins die Erstschriften von zwei Erzählungen Angela Rohrs: „Der Vogel“ und „Die Zeit“. Sie wurden nun zum ersten Mal gedruckt, ergänzt um Prosastücke, die Angela Rohr Franz Pfemfert für seine legendäre Zeitschrift „Die Aktion“ überlassen hatte: Reportagen, in denen sie den Lesern der Frankfurter Zeitung zwischen 1928 und 1937 aus Sowjetrussland berichtete; sowie zwei Texte, die Johannes R. Becher 1941 in die Zeitschrift Internationale Literatur / Deutsche Blätter aufnahm.
Wer in dem Band blättert, stolpert über viele berühmte Namen. Dada-Freunde haben ebenso ihren Auftritt wie Rainer Maria Rilke, Lenin kommt ebenso vor wie Karl Abraham, an dessen Berliner Psychoanalytischem Institut Angela Rohr studierte, bevor sie mit ihrem dritten Mann, einem von Kommunismus und Psychoanalyse Überzeugten, nach Moskau ging.
Man begegnet hier den Energieströmen und Kraftfeldern des 20. Jahrhunderts am Beispiel einer Nebenfigur. Die 1890 im mährischen Znaim geborene Angela Helene Müller brach früh mit dem despotischen Vater, heiratete ebenso früh, ohne deswegen den Anspruch auf ein eigenes Leben aufzugeben. Autodidaktische Studien und eigenes Schreiben führten sie in die Kreise der europäischen Avantgarde.
„Langsam und schwerfällig kam sie vom Boulevard Montparnasse herauf. Ihre Kleider waren dünn und zerknüllt, die Farben zerflossen ins Regengrau der Umgebung.“ So begann sie 1914 die Prosaminiatur „Die Dirne“. Da wird nicht geschwafelt. Bedeutsamkeit und Schwergewicht wandern ins Innere der Worte.
Die Stilllegung der Menschen
Diese Worte scheinen girlandenleicht aneinander gefügt und bergen doch Explosionsstoff. Der hier angeschlagene suggestive Ton eignet sich nicht nur für Großstadterlebnisse nach der Schablone. Er kann auch historische Erfahrungen und unsägliches Leid angemessen ausdrücken. Er verliert dabei weder seine lakonische Leichtigkeit noch seinen übergroßen Ernst. Es ist, als ob Jugendstilranken dorische Kapitelle tragen würden.
Angela Rohr blieb ihrem einmal gefundenen Tonfall treu. „Der Vogel“, eine Erzählung aus dem Butyrki-Gefängnis, beginnt so: „Es war zu Anfang des letzten Krieges, als eine hohe Behörde aus unerfindlichen Gründen beschloss, die Menschen jeder möglichen Tätigkeit zu entziehen, sie stillzulegen. Sie konnte aber dieses, gewiss zu ihrem Bedauern nicht ganz ausführen, denn die Gefängnisse reichten dazu nicht aus. Was sie aber tat, das war immerhin ein Versuch dieser Art, der uns dann, die wir etwas damit zu tun hatten, die wir einbezogen waren in diesen Plan, zu ganz ungeahnten Erlebnissen und einfach allzuoft zum Tode führte.“
Eine kleine und sehr bewegliche Person soll Angela Rohr gewesen sein. Ähnliches ließe sich von ihrer Prosa sagen, ihrem nuancenreichen, knappen Deutsch. Nach einem halben Jahrhundert in Schubladen kann diese Prosa nun endlich ihre Leser finden.
JENS BISKY
ANGELA ROHR: Der Vogel. Gesammelte Erzählungen und Reportagen. Herausgegeben von Gesine Bey. Basisdruck Verlag, Berlin 2010. 200 Seiten, 18 Euro .
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.10.2011

Verloren in den Fangeisen der Geschichte

Die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts haben Angela Rohr das Leben schwergemacht. Doch ihr Werk ist bemerkenswert, jetzt kann man es wiederentdecken.

Es sieht erstaunlich unscheinbar aus, dieses in graue Pappe gebundene Büchlein, gerade so, als wolle es sich niemandem aufdrängen, keinen Anspruch darauf erheben, gelesen zu werden. Eine ungerechte Aufmachung, denn die Lektüre führt auf interessante Weise in ein Stück Geschichte, das noch nicht übermäßig lange hinter uns liegt, eingefangen in einem bewegenden Frauenleben. Die Person, um die es geht, heißt Angela Rohr, wird uns als Schriftstellerin und Medizinerin vorgestellt, vor allem aber erscheint sie der lesenden Nachwelt als Opfer der Verhältnisse, die das zwanzigste Jahrhundert seinen Menschen aufzwang, vor allem den politisch engagierten.

Angesichts der biographischen Mitteilungen, mit denen uns die Herausgeberin Gesine Bey versorgt, will es einem seltsam vorkommen, dass man nicht längst über Angela Rohr Bescheid wusste. Immerhin hat sie im frühen zwanzigsten Jahrhundert literarisch gewirkt, wurde damals durchaus beachtet, unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu Rainer Maria Rilke, Bertolt Brecht, Konstantin Fedin und anderen namhaften Vertretern jener Epoche, arbeitete in den dreißiger Jahren als Russland-Korrespondentin, vor allem für die "Frankfurter Zeitung", die Vorgängerin der Frankfurter Allgemeinen. Dann aber wurde sie von jenem Schicksal ereilt, das Millionen Leben zerstörte und Namen ins Dunkel drängte: Sie wurde Gefangene des sowjetischen GULag.

Wie geriet die gebürtige Österreicherin, geprägt durch Aufenthalte in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, in die Fänge des stalinistischen Molochs? Um das zu begreifen, müssen wir uns an den Anfang jenes Jahrhunderts zurückversetzen. Angela Rohr, 1890 geboren, erlebte den Ersten Weltkrieg und seine fatalen Folgen. Sie war eine gescheite, aber wohl keine weise Frau, weshalb sie den Verheißungen, die aus dem europäischen Osten tönten, nicht kritisch, sondern gläubig zuhörte. Unter ihren nachgelassenen Geschichten befindet sich eine "Erinnerung an Lenin", an dessen Fahrt 1917 aus dem Schweizer Exil über Deutschland nach Russland. Angela Rohr, auf dem Zürcher Bahnsteig stehend, durfte - so berichtet sie - Lenins Hand drücken und vernahm seine Worte: "Ja, ja, wir werden die Gefängnisse öffnen!"

Die gläubige Hoffnung, die sie damals erfüllte, erhielt Verstärkung durch Wilhelm Rohr, ihren dritten Ehemann. Rohr, Psychoanalytiker und überzeugter Kommunist, reiste 1923 in die Sowjetunion und holte 1925 seine Frau nach. Beide erwarben die sowjetische Staatsbürgerschaft, beide wurden 1941, als Hitler Stalins Reich überfiel, verhaftet und weggesperrt. Der Anklagevorwurf lautete, wie damals üblich: Spionage für den Sowjetfeind. Wilhelm Rohr starb noch im Gefängnis, Angela Rohr überlebte die fünf Jahre, zu denen sie verurteilt war, kam danach aber nicht frei, sondern in ein sibirisches Lager, wo sie medizinische Dienste verrichten musste. 1949 wurde "Ewige Verbannung" über sie verhängt. Die Ewigkeit dauerte bis 1954, ein Jahr nach Stalins Tod. Drei Jahre später rehabilitierte ein Militärtribunal die "Spionin" und erlaubte ihre Rückkehr nach Moskau.

Über Schicksale wie dieses sind viele Bücher veröffentlicht worden. Man denke nur an Alexander Solschenizyns "Archipel GULag". Angela Rohr zählte 67 Jahre, als sie in die poststalinistische Freiheit entlassen wurde. Das war ziemlich spät für den literarischen Neuanfang, nach dem sie sich gesehnt hatte. Sie wagte ihn dennoch, konnte aber mit den Schwierigkeiten, ihre Schriften auch zu veröffentlichen, schlecht fertig werden. So blieb sie, bei all ihrer Begabung, bis zu ihrem Tode 1985 weitgehend im Dunkeln - eine traurige Konsequenz ihrer politischen Fehlorientierung samt deren grausamen Folgen. Dass wir sie trotzdem kennenlernen dürfen, und das genau und gründlich, ist das Verdienst von Gesine Bey, der wir die vorliegende Rohr-Auswahl verdanken.

Die Herausgeberin hat ihre Aufgabe, uns mit Angela Rohr bekannt zu machen, klug bewältigt. Sie bietet uns Erzählproben aus der Zeit, in der die Schriftstellerin noch unbelastet ihre Welt beschreiben konnte, und bedrückende Schilderungen der inhumanen sowjetischen Haftpraktiken. Dazu kommen interessante Berichte über das Leben in Moskau noch vor dem Ausbruch der politischen "Säuberungen" sowie packende Darstellungen russischer Menschen, ihrer Guttaten und Sünden, ihrer Hoffnungen und ihres Scheiterns. Das Angebot reicht, um zu begreifen, was aus der Verfasserin hätte werden können, wäre sie nicht in das politische Fangeisen gestolpert. Obendrein bedient uns die Herausgeberin mit einem umfangreichen Anhang, dem wir nicht nur Daten über den Weg und das Schaffen Angela Rohrs entnehmen können, sondern auch Wesentliches über die wechselnden Zustände jenes Europas erfahren, in dem sie lebte. Das graue Buch ist schmal, beileibe kein Lexikon, aber es vermittelt Kenntnisse, die wir noch nicht hatten, und bestätigt auf interessante Weise, was wir schon wussten oder ahnten.

SABINE BRANDT

Angela Rohr: "Der Vogel". Gesammelte Erzählungen und Reportagen.

Herausgegeben von Gesine Bey. BasisDruck Verlag, Berlin 2010. 300 S., geb., 18,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Fünfzig Jahre hat es gedauert, bis Jens Bisky uns diese Autorin nun vorstellen kann, der nicht mehr beschieden war, als eine Fußnote der Literaturgeschichte zu werden, wie Bisky schreibt. Die in diesem Band versammelten Texte von Angela Rohr, zwei Erzählungen aus dem Gulag plus Reportagen aus der Zeit zwischen 1928 und 1937 in Sowjetrussland präsentieren Bisky allerdings das ganze Kraftpotential des 20. Jahrhunderts. Rohrs Ton findet er bei aller Explosivität des Stoffes suggestiv, lakonisch, präzis. Die Autorin stellt er sich als kleine bewegliche Person vor, genau wie ihre Texte.

© Perlentaucher Medien GmbH