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Für Amerikaner und Westeuropäer war der Kalte Krieg nur am Rande ein bewaffneter Konflikt und mehr als eine reine Auseinandersetzung zwischen den zwei großen Ideologien Kommunismus und liberaler Kapitalismus. Er beeinflusste Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur in den westlichen Staaten in ganz erheblichem Maße: Der Rüstungswettlauf war einerseits Projektionsfläche tiefgreifender Ängste vor einem atomaren Holocaust. Andererseits sollte diese Angst durch Planung und Verwissenschaftlichung in kollektive Sicherheit transformiert werden. In diesem Sinne versteht der vorliegende Band den Kalten…mehr

Produktbeschreibung
Für Amerikaner und Westeuropäer war der Kalte Krieg nur am Rande ein bewaffneter Konflikt und mehr als eine reine Auseinandersetzung zwischen den zwei großen Ideologien Kommunismus und liberaler Kapitalismus. Er beeinflusste Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur in den westlichen Staaten in ganz erheblichem Maße: Der Rüstungswettlauf war einerseits Projektionsfläche tiefgreifender Ängste vor einem atomaren Holocaust. Andererseits sollte diese Angst durch Planung und Verwissenschaftlichung in kollektive Sicherheit transformiert werden. In diesem Sinne versteht der vorliegende Band den Kalten Krieg als 'Krieg der Imaginationen' (Mary Kaldor). Er führt Beiträge von Militär-, Sozial- und Ideenhistorikern in einer sozialen Ideengeschichte zusammen und bereichert unser Wissen über eines der am tiefsten einschneidenden Phänomene des 20. Jahrhunderts um wichtige, bislang aber vernachlässigte Facetten.
Autorenporträt
Patrick Bernhard ist Dozent für Internationale Geschichte am University College Dublin. Holger Nehring ist Professor für europäische Geschichte an der Universität Stirling.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.06.2014

Bombe mit und ohne Stimmung
Atomzeitalter - militärisches und wissenschaftliches Denken samt Folgewirkungen

Nur wer den Krieg in all seinen Ausmaßen kennt, kann daraus Lehren für den Frieden ziehen. Die sozialen Auswirkungen des Kalten Krieges zu untersuchen, entspringt dem Selbstverständnis des "Arbeitskreises Historische Friedensforschung". Sie ist hierzulande eine Rand-Disziplin, hervorgegangen aus der Friedens- und Konfliktforschung. Im Fokus steht die Frage, unter welchen Bedingungen sich Krieg vermeiden und Frieden dauerhaft herstellen lässt. Pazifismus und Antimilitarismus sollen interdisziplinär in Politik und Gesellschaft erforscht werden. Dieser Ansatz hatte in den 1970er Jahren Konjunktur, versandete aber mit dem Ende des Ost-West-Konflikts.

Der Kalte Krieg war nie nur ein politisch-diplomatischer Konflikt rivalisierender Großmächte und Ideologien. Entsprechende Arbeiten zu seiner Gesellschaftsgeschichte existieren bisher nur vereinzelt. Das militärische Denken im Atomzeitalter, die Folgewirkungen für die zivile Verteidigung und die Implikationen für die Zukunft unter die Lupe zu nehmen, ist durchaus verdienstvoll. Denn der Kalte Krieg drang in alle Bereiche zumindest der westlichen Zivilgesellschaft ein, die von den Erfahrungen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki 1945 traumatisiert war. Mit dem Bild vom Atompilz verband sich in den Köpfen die mögliche Realität der Apokalypse, die Quantifizierung der Katastrophe, die Gemeinsamkeit der Menschen im Sterben durch die Bombe. Biologische Ausrottung ersetzt Heilsgeschichte, unkte damals der Philosoph Karl Jaspers.

Für die Kriegführung der Vereinigten Staaten von Amerika eröffneten sich vollkommen neue Perspektiven. Nachdem auch die Sowjets über Atombomben und 1957 Interkontinentalraketen verfügten (Sputnik-Schock), berechneten Mathematiker der RAND Corporation Kapazitäten der gegenseitigen gesicherten Vernichtung. Amerikanische Militärs änderten daraufhin ihre Strategie von der massiven Vergeltung zur flexiblen Antwort. Atomares Gleichgewicht produzierte mittels Strategie der gegenseitigen Abschreckung Sicherheit und half, den Frieden zu stabilisieren. Der Zirkelschluss war einfach: Je größer das Rüstungspotential, desto größer die Wahrscheinlichkeit der Vernichtung, desto größer die Sicherheit. Alles war von der Erwartung getragen, die Konfliktparteien verhalten sich vernünftig und agieren politisch per Direktkommunikation (rotes Telefon), weil sie das Risiko der gegenseitigen Vernichtung scheuen. Nach Abschluss des amerikanisch-britisch-sowjetischen Teststopp-Abkommens von 1963 wurden Machbarkeitsstudien durch Technikfolgenabschätzungen ersetzt.

Während westdeutsche Militärs bis Mitte der 1960er Jahre über das hier gelagerte Atompotential der Amerikaner im Unklaren blieben und sich im Ernstfall auf die Bereitschaft der Westmächte zum Einsatz taktischer Atomwaffen verlassen mussten, setzten französische Generäle auf die eigene Atombombe, allerdings mit begrenzter nationaler Verteidigungsfähigkeit. Da der Bundesrepublik jede atomare Mitsprache versagt blieb, erhöhte sich mit der Stationierung sowjetischer Mittelstreckenwaffen Ende der 1970er Jahre ihr sicherheitspolitisches Dilemma. Den Westen einte die atomare Abschreckung, primär um den globalen Herrschaftsanspruch kommunistischer Diktatoren einzudämmen und die eigene Freiheit zu garantieren. Doch blieb ein fundamentaler Auffassungsunterschied bestehen: Ist Abrüstung erforderlich, weil Waffen die Ursache für Kriege sind, wie schon der amerikanische Präsident Woodrow Wilson meinte, oder trägt Atomrüstung zur Kriegsverhütung und Friedensbewahrung bei, indem sie zu Verhandlungen zwingt? Heute wissen wir: Wettrüsten war nicht die Ursache für den Kalten Krieg, sondern das Ergebnis von Differenzen. Mit bilateralen Rüstungsabkommen disziplinierten sich Washington und Moskau selbst. In Zeiten der Entspannungspolitik und Rüstungskontrollverhandlungen richtete sich der Protest der Friedensbewegung zugleich gegen die zivile Kernkraftnutzung. Nuklearkatastrophen wie in Harrisburg 1979 und Tschernobyl 1986 rückten schlagartig die Gesundheitsrisiken und mangelnde Prävention wieder ins öffentliche Bewusstsein und verstärkten die emotionale Betroffenheit. Damit deutete sich längst vor dem Mauerfall das Ende des Kalten Krieges an.

Die Angst vor dem Atomkrieg hinterließ im Alltagsleben der Menschen viel tiefere Spuren als dies bisher bewusst geworden ist. Schon früh hielten realistisch denkende Wissenschaftler, Mediziner und Philosophen wie Günther Anders die Überlebenschancen für gering und ethisch deshalb nicht vertretbar. Aus Furcht vor dem religionsfeindlichen Kommunismus rechtfertigten dagegen die Kurie in Rom und konservative katholische Moraltheologen Atomwaffen als Mittel zur Selbstverteidigung. Zweifel, Leben retten zu können, minderten in Großbritannien das Engagement der Bevölkerung beim Zivilschutz. Sie schwankte Anfang der 1950er Jahre zwischen nationaler Pflichterfüllung wie im Zweiten Weltkrieg und Kriegsbangen, hatte aber von der Selbstaufopferung genug. Die Schweizer reagierten auf die Ungarn-Krise 1956 mit einer Propagandakampagne für Notvorräte, was zeitweise zu Hamsterkäufen für einen imaginären Krieg führte. Dieser hielt selbst in Klassenzimmern Einzug. Curricula westlicher Bildungsinstitutionen liefern zahlreiche Belege für wissenschaftliche, rationale und technologische Unterrichtsinhalte, die Ausfluss des engen Zusammenwirkens kriegswichtiger Disziplinen waren. Physik, Chemie, Biologie und die neue Mathematik veränderten von den Vereinigten Staaten ausgehend Bildung und Erziehung in Europa.

Nicht jeder, aber so mancher Fortschritt ist aus Szenarien des Kalten Krieges erwachsen. Leider bleiben die sozialökonomischen Strategien des Westens gegenüber dem Ostblock in dem Sammelband weitgehend ausgeblendet. Die Konsequenzen des westlichen Handelsboykotts moderner Technologien - mithin die Kehrseite der Marshallplanhilfe von 1947 - für die Menschen in Osteuropa zu erforschen, lohnt sich ebenso.

HANNS JÜRGEN KÜSTERS

Patrick Bernhard/Holger Nehring (Hrsg.): Den Kalten Krieg denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte seit 1945. Klartext Verlag, Essen 2014. 359 S., 26,- [Euro].

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