Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 7,90 €
  • Broschiertes Buch

Ende des 19. Jahrhunderts entstand in Europa das Bewusstsein für die wissenschaftliche Bedeutung der Bevölkerung, gerade auch in Hinblick auf die 'Wehrkraft' einer Nation. Damit wurde die medizinische Musterung der Rekruten auch zu einem Moment der Untersuchung der ganzen Bevölkerung. Größe, Gewicht und Brustumfang der Rekruten interessierten nicht nur das Militär selbst. Statistiker, Mediziner und Anthropologen stürtzten sich ebenso auf die männlichen 'Militärbevölkerung' als Datenlieferant. Die Frage, ob und wie man über die Statistiken Rückschlüsse auf die Bevölkerungsentwicklung ziehen…mehr

Produktbeschreibung
Ende des 19. Jahrhunderts entstand in Europa das Bewusstsein für die wissenschaftliche Bedeutung der Bevölkerung, gerade auch in Hinblick auf die 'Wehrkraft' einer Nation. Damit wurde die medizinische Musterung der Rekruten auch zu einem Moment der Untersuchung der ganzen Bevölkerung. Größe, Gewicht und Brustumfang der Rekruten interessierten nicht nur das Militär selbst. Statistiker, Mediziner und Anthropologen stürtzten sich ebenso auf die männlichen 'Militärbevölkerung' als Datenlieferant. Die Frage, ob und wie man über die Statistiken Rückschlüsse auf die Bevölkerungsentwicklung ziehen konnte, wurde zu einem frühen Kristallisationspunkt demographischer Wissenschaften. Heinrich Hartmann analysiert die Rolle des Militärs in der Entstehung solcher Diskurse und Wissenspraktiken vor dem Ersten Weltkrieg. Verglichen werden dabei Fallstudien aus Frankreich, Deutschland, der Schweiz und anderen europäischen Ländern. Deutlich wird auch die grenzüberschreitende Vernetzung der demographischen Experten: Transnationale Wissenszirkulation und ein nationalistischer Militarismus schlossen sich vor 1914 nicht aus, sondern bedingten sich häufig gegenseitig.
Autorenporträt
Heinrich Hartmann, geb. 1977, wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar der Universität Basel. Promotion 2006 an der FU Berlin und der EHESS Paris. Mitarbeit im Projekt 'Vergangene Zukunft Europas' am Frankreichzentrum der FU Berlin über die transnationale Wissensgeschichte der Demografie im 20. Jahrhundert.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.04.2012

Immer schön tauglich bleiben
Musterung und Militärstatistik vor dem Ersten Weltkrieg

Die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht ist im vergangenen Jahr in Deutschland relativ lautlos über die Bühne gegangen. Allenfalls der politische Mythos von der Wehrpflicht als dem angeblich legitimen Kind der Demokratie und die sozialpolitischen Folgen des Wegfalls eines zivilen Ersatzdienstes gaben Anlass, diesen Schritt zu bedauern. Die Bundeswehr selbst hatte sich offensichtlich längst darauf eingestellt, dass die Masse der Wehrpflichtigen durch den Umbau zur Einsatzarmee entbehrlich geworden war. Der Übergang zur kleinen, hochprofessionellen Berufsarmee versprach nicht nur finanzielle Einsparungen, sondern auch die Chance, sich von Wehrpflichtigen zu trennen, die in der Mehrzahl als "untauglich" einzustufen waren.

Die Studie des in Basel lehrenden Historikers Heinrich Hartmann zeigt auf, dass wir es hier mit dem Endpunkt einer Entwicklung zu tun haben, die Mitte des 19. Jahrhunderts begann und bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs das Verhältnis von Militär und Gesellschaft grundlegend veränderte. Die vorwiegend Fachliteratur auswertende Arbeit behandelt das Aufkommen eines umfassenden sozialwissenschaftlichen und medizinischen Diskurses, der zum Kristallisationspunkt demographischer Wissenschaften wurde. Die industrielle Massengesellschaft schien die Möglichkeit zu eröffnen, die gesamte männliche Bevölkerung für einen künftigen Krieg zu mobilisieren. Gleichzeitig verstärkten die Folgen von Verarmung und Industrialisierung die Bedenken über den Gesundheitszustand der künftigen Rekruten und damit der "Wehrfähigkeit" von Staat und Nation.

Die medizinische Musterung der gesamten männlichen Bevölkerung von Jahrgängen, die ins wehrfähige Alter rückten, lieferte Datenreihen über Größe, Gewicht und Brustumfang, die nicht nur für die Mediziner von Interesse waren. Auch Statistiker, Anthropologen und natürlich die Militärs nutzten sie mit ihren Interpretationen für eigene Zwecke. Das Militär schien auf diese Weise gleichsam ein Spiegelbild der Gesellschaft zu bieten, mit Schlussfolgerungen für die künftige soziale Entwicklung beziehungsweise mit sozialtechnischen Forderungen zur Verbesserung gesellschaftlicher Zustände.

Die Sanitätsstatistiken der Armee gerieten auch in die öffentliche und politische Debatte. Ausgehend von französischen und deutschen Vorbildern wetteiferten schließlich die meisten europäischen Staaten um die Aufstellung von oft fragwürdigen Musterungstabellen. Auf gemeinsame Standards konnte man sich nicht verständigen. Das Vermessen des "Menschenmaterials" und daraus abgeleitete Aussagen über die "Wehrkraft" einer Nation wurden Faktoren geistiger Rüstung und militärischer Planung.

Die fragwürdige wissenschaftliche Grundlage der Statistiken und ihrer Deutungen geriet bald aus dem Blickwinkel. Rekruten verfälschten mit allerlei Simulationen die medizinische Erhebung, und die Reichweite der Auslegung von Körperdaten zur Feststellung etwa eines Stadt-Land-Gefälles blieb begrenzt. Die Diagnose körperlicher "Schwäche" beziehungsweise die Feststellung von "6Tauglichkeit" war keineswegs objektivierbar, sondern abhängig von Anforderungen des Militärs. Diese veränderten sich allmählich, so dass beispielsweise Intelligenztests in den Musterungskatalog aufgenommen worden sind. Militärstatistiken dienten zur Darstellung gesellschaftlicher Ängste und gerieten in den Sog biologistischer Deutungsmuster. Man ging vererbten Pathologien nach und nutzte die Daten zur Typologisierung von Phänotypen. Es blieb nicht bei der räumlichen Organisation von Krankheitsbildern; indem bestimmte Körpermerkmale rassistisch zugeordnet wurden, dienten fragwürdige Messungen zur Herausstellung angeblicher nationaler Eigenheiten.

Nach dem Zeitalter der Weltkriege, in dem "untauglich" oft mit "minderwertig" gleichgesetzt worden ist, haben Musterungsdaten zumindest für die medizinische Forschung und die Demographie eine wichtige Rolle gespielt. Wenn der Wehrbeauftragte in den vergangenen Jahren regelmäßig bei seinen Berichten für den Bundestag darüber klagte, dass die Soldatinnen und Soldaten "zu dick" seien, so entsprach das nach Meinung des Autors fragwürdigen Soldatenbildern. Wofür "zu dick"? Die Musterung wird heute nicht nur an der Kletterstange, sondern vorwiegend am Computer vorgenommen. Die Funktionstüchtigkeit des hochspezialisierten modernen Militärs "scheint mehr von der technischen Ausrüstung und von der richtigen Führung abzuhängen als von den Körpern der Soldaten".

ROLF DIETER MÜLLER.

Heinrich Hartmann: Der Volkskörper bei der Musterung. Militärstatistik und Demographie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 259 S., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Viel ist es nicht, was Rolf Dieter Müller über das Buch zu berichten hat. Im Wesentlichen verlegt er sich darauf, die Geschichte der Musterung und der dahinter stehenden Interessen nachzuerzählen, so wie sie der Basler Historiker Heinrich Hartmann anhand von ausgewerteter Fachliteratur in seiner Studie darlegt. Hartmann, so lernen wir, zeichnet einen sozialwissenschaftlichen und medizinischen Diskurs nach, als dessen Endpunkt er die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht begreift, und erläutert die Funktion der militärischen Musterung als Hinweis auf die Beschaffenheit der Gesellschaft. Das von Müller wiedergegebene Resümee, die Musterung habe immerhin der Demografie und der medizinischen Forschung gute Dienste geleistet, wirkt allerdings unerhört trostlos.

© Perlentaucher Medien GmbH
'Ein mit knapp 260 Seiten erfreulich konzises, gut geschriebenes und annehmlich gestaltetes Buch.' (Markus Pöhlmann, Historische Zeitschrift 295/2, 2012)'Hartmann's wide-ranging study (.) makes for a readable and refreshingly jargon