Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 4,00 €
  • Broschiertes Buch

Hausfrauen, Philosophen, Forscher, Rentner, unterwegs mit dem atomgetriebenen U-Boot Nautilus oder mit der Einkaufstasche, zum Ruhm, zum Nordpol oder zum Tod. Schauplatz dieser Abenteuer und stillen Abenteuer ist das Weltmeer. Philosophen frühstücken und stechen in See, Ernst Haeckels Boot schaukelt in den Küstengewässern, im Eis Gestrandete kämpfen sich im Kreise vorwärts. Existentielles Draufgängertum. Durch neun Erzählungen hindurch schwingt es sich vom Bettenmachen auf bis zum Mondflug, der im verlockend, aber trocken daliegenden Mare tranquillitatis endet. Währenddessen schlagen Uhren und…mehr

Produktbeschreibung
Hausfrauen, Philosophen, Forscher, Rentner, unterwegs mit dem atomgetriebenen U-Boot Nautilus oder mit der Einkaufstasche, zum Ruhm, zum Nordpol oder zum Tod. Schauplatz dieser Abenteuer und stillen Abenteuer ist das Weltmeer. Philosophen frühstücken und stechen in See, Ernst Haeckels Boot schaukelt in den Küstengewässern, im Eis Gestrandete kämpfen sich im Kreise vorwärts. Existentielles Draufgängertum. Durch neun Erzählungen hindurch schwingt es sich vom Bettenmachen auf bis zum Mondflug, der im verlockend, aber trocken daliegenden Mare tranquillitatis endet. Währenddessen schlagen Uhren und Wellen an Land. Der Vater und die Mutter treiben vorbei, auf einem Floß, die Mutter winkend und leise rufend. Leser ahoi!
Autorenporträt
Patricia Görg wurde 1960 in Frankfurt am Main geboren. Nach dem Studium der Theaterwissenschaft, Soziologie und Psychologie lebt sie als freie Autorin in Berlin. Sie hat Essays für Zeitungen und das Radio sowie zahlreiche Hörspiele geschrieben.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2003

Bis ans Ende der Welt
Draufgängertum im Sessel: Patricia Görg spinnt Seemannsgarn

Von Rechts wegen hätte Patricia Görgs "Abenteuerbuch" im Mare-Verlag erscheinen müssen, denn alle neun Geschichten spielen am, auf oder unter dem Meer. Es geht um Frauen am Strand und melancholische Entdecker, um den Schiffbruch ihrer Hoffnungen und Visionen; aber der eigentliche Held ist das Meer selbst in all seinen Aggregatzuständen: als Welle und Packeis, Mondkrater und leergefischter Fischgrund, als menschenleere Seelenlandschaft und Müllkippe. Das Meer ist allemal größer, älter, stärker als die Spielzeugmenschlein in ihren Nußschalen, und wenn die elementare Naturgewalt über sie hereinbricht, entstehen daraus manchmal Tragödien heroischen Scheiterns, öfter noch aber skurrile, poetisch versponnene Komödien der Vergeblichkeit und Vergänglichkeit.

Traditionell ist das Meer das Element männlicher Bewährungsproben. Görg kehrt diese Konstellation auf paradoxe Weise um: All ihre draufgängerischen Seemänner, Naturforscher und Abenteurer, die immer nur hinausfahren, entdecken, erobern oder doch wenigstens durchkommen wollen, sind im Grunde nur verschrobene Romantiker, die sich treiben lassen und nicht einmal ungern untergehen. Die Frauen bleiben still an Land zurück; an Bord sind sie allenfalls als blinde Passagiere oder Galionsfiguren geduldet. Aber sie erleben in ihrem kleinen Kreis mehr als die seetüchtigen Männer draußen auf hoher See. Einsam und verloren sind sie freilich alle.

Die alte Hotelwirtin in "Kliff" etwa blickt müde auf ihre vom Wind verwehten Erinnerungen, auf ihre gestrandeten Hoffnungen zurück. Die Fischerboote und Feriengäste bleiben aus, die Küstenschutzbehörde und die Brandung nagen an den Fundamenten ihres einst so gastfreien Hauses, und so bleibt ihr nur übrig, zwischen Nippes, tickenden Standuhren und vertrockneten Pflanzen in Würde unterzugehen. Leidet "Kliff" unter einer Überinstrumentierung mit lyrischen Metaphern und Poesiealbum-Sentenzen, so zeichnet sich "Schwemmland" durch eine prosaische Sprödigkeit aus: Mit minutiöser Genauigkeit protokolliert Patricia Görg den Alltag einer erziehenden Mutter. Das schwermütige Meerstück ist eine Nacherzählung von Chantal Akermans Film "Jeanne Dielmann", wie überhaupt Filme und filmische Erzähltechniken - Vor- und Zurückspulen, Überblendungen und Standbilder - Gezeiten und Dünung dieser Prosa strukturieren.

Höher schlagen die Wellen, wenn Männer voller Mut und Übermut auslaufen, um dem Meer seine letzten Geheimnisse abzutrotzen. Ernst Haeckel, der Auflöser aller "Welträtsel", taucht auf der Suche nach den Medusen, Rädertierchen und Staatsquallen, die seine materialistische Evolutionstheorie beweisen sollen, im Atlantik unter und in seinem Haus in Jena, unter den Gipsbüsten von Goethe und Darwin, wieder auf: ein Don Quichote des Fortschrittsglaubens, dem das Träumen zum Verhängnis wird. Ähnlich ergeht es den drei kauzigen Naturforschern, die sich in einem Segelboot auf den Atlantik hinauswagen, um das versunkene Atlantis zu suchen, oder Ingenieur Andrée, der mit seinem Fesselballon den Nordpol erreichen will, aber an "Mutlosigkeit und Trichinen" zugrunde geht. Das Atom-U-Boot Nautilus, das 1958 mit "Bordheizung, Draufgängertum, Patriotismus" die Arktis unterquert, scheitert beinahe am "Unzugänglichkeitspol". In "Busen" - hier stand Fritz Langs Stummfilm "Die Frau im Mond" Pate - landet eine altertümliche Mondrakete im titelgebenden "Meer der Ruhe", wo der Erzähler die Liebe und wohl auch einen süßen Tod findet.

Mondsüchtig sind Görgs Figuren selbst dort noch, wo sie den festen Boden historischer Fakten unter den Füßen haben. Ihre anachronistischen Boote und Raumschiffe scheinen noch in den Werften von Jules Verne und H.G. Wells vom Stapel gelaufen zu sein, aber mit "Schwerkraftregulierungshebeln" und Strickleitern, schweren Taucherglocken und Bleikothurnen kommt man bis ans Ende der Welt. Der irdische Plüsch und Plunder reist dabei immer mit: Kein Käpt'n Nemo, der ohne Hausbibliothek, Dichterbüsten und Kuckucksuhr ins Unbekannte vorstoßen wollte. In "Drift" lädt eine Kleinfamilie ihren ganzen Hausrat - Kanarienvogelkäfig, Gärtchen und Fernseher - auf ein Floß, um sich hinaus aufs Meer treiben zu lassen und im Nebel zu verschwinden. So steckt in jedem seßhaften Spießer ein Draufgänger und in jedem wissenschaftsgläubigen Aufklärer ein unheilbarer Romantiker. Entdeckerruhm ist wie ein Stein, der, ins Wasser geworfen, noch eine Zeitlang Kreise zieht, ehe er sanft in Schlick und dunklem Meeresgrund versinkt. Während die Männer noch "Hauptsache, wir bleiben seefest!" krähen, wird ihr Ehrgeiz bereits von Wind und Wellen abgeschliffen, ihr Traum von Stürmen und Ungeheuern verschlungen, ihr Wille vom Skorbut der Melancholie ausgezehrt. Scheitern ist Seemannslos und Forscherschicksal.

Das Wechselspiel der Perspektiven, die feine Ironie und die lakonisch-zärtliche Andacht, mit der die Autorin ihre maritimen Grotesken erzählt, machen dieses "Meer der Ruhe" zu einem Friedhof der Träume, auf dem furchtlose Seemänner wie Leichtmatrosen und graue Witwen wie geheimnisvolle Seejungfrauen aussehen. "Man muß nicht weit hinaus, um Erkenntnisse zu sammeln": Görg spinnt, häkelt und klöppelt ein poetisch feinmaschiges Seemannsgarn. Große Fische gehen ihr dabei nicht ins Netz. Angelhaken, Harpunen und andere Männerwaffen sind viel zu grobe Werkzeuge für ihre Art von Traumfischerei. Aber auch in einem Aquarium kann man Abenteuer erleben, auch vom Lehnstuhl aus auf große Fahrt gehen.

MARTIN HALTER

Patricia Görg: "Meer der Ruhe". Ein Abenteuerbuch. Berlin Verlag, Berlin 2003. 169 S., geb., 18,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr