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Das houellebecqsche Universum ist eines, in dem sich Individuen in stetiger Konkurrenz miteinander befinden. Allein das (schwindende) Ideal der Liebe könnte aus diesem auf Dauer für alle unbefriedigenden Kreislauf befreien. Bernard Maris' Buch bietet nicht nur eine fundierte Gesellschaftskritik, sondern auch einen Schlüssel zum Verständnis des Werks eines der wichtigsten Autoren der Gegenwart.»Dieses kleine, aber feine Buch ist zugleich ein Pamphlet gegen den ökonomischen Liberalismus und eine Würdigung des visionären Talents von Houellebecq.« VAR MATIN»Bernard Maris demonstriert, mit welcher…mehr

Produktbeschreibung
Das houellebecqsche Universum ist eines, in dem sich Individuen in stetiger Konkurrenz miteinander befinden. Allein das (schwindende) Ideal der Liebe könnte aus diesem auf Dauer für alle unbefriedigenden Kreislauf befreien. Bernard Maris' Buch bietet nicht nur eine fundierte Gesellschaftskritik, sondern auch einen Schlüssel zum Verständnis des Werks eines der wichtigsten Autoren der Gegenwart.»Dieses kleine, aber feine Buch ist zugleich ein Pamphlet gegen den ökonomischen Liberalismus und eine Würdigung des visionären Talents von Houellebecq.« VAR MATIN»Bernard Maris demonstriert, mit welcher Meisterschaft Houellebecq die Auswüchse der kapitalistischen Gesellschaft aufzeigt, die wir heute erleben.« LE JOURNAL DU MEDECIN»Kein anderer Schriftsteller hat die ökonomische Malaise, die unsere Epoche vergiftet, so vollständig durchdrungen wie Houellebecq.« BERNARD MARIS
Autorenporträt
Bernard Maris, geboren 1946 in Toulouse, war ein französischer Wirtschaftswissenschaftler, Journalist und Autor. 2011 wurde er Mitglied des Aufsichtsrats der Banque de France. Neben mehr als einem Dutzend Büchern zu Wirtschaftsthemen hat Maris drei Romane und zwei Essays veröffentlicht. Er schrieb zudem für mehrere Magazine, u. a. für Le Figaro, Le Monde und für Charlie Hebdo, wo er meistens das Pseudonym Oncle Bernard benutzte. Maris wurde am 7. Januar 2015 bei demTerroranschlag auf die Redakti BERND WILCZEK, geboren 1975, arbeitete mehrere Jahre als Universitätslektor in Frankreich. Er übertrug u. a. André Glucksman, Maurice Blanchot und Paul Virilio ins Deutsche.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2015

Das letzte Bollwerk
Es ist gerade populär, auf Michel Houellebecq zu schimpfen. Wie groß er aber als Autor ist, zeigt Bernard Maris' "Houellebecq, Ökonom"

Man hat sich ja beinahe schon daran gewöhnt, dass, wo immer der Name des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq auftaucht, die meisten Leute emotional werden, sich zu besonders starken Meinungen hinreißen lassen, wie der denn aussehe, in seinem Zustand völliger Verwahrlosung, dass er ein Sexist sei, und überhaupt. Vor einer Weile saß in der "Buchzeit"-Sendung von Gert Scobel, die auf 3Sat zu sehen war, die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken, regte sich furchtbar über "Unterwerfung" auf, den neuen Roman von Michel Houellebecq, behauptete, dass "Frankreich und Europa" eine solche Darstellung der Gesellschaft "nicht verdient" hätten, und sah im Autor einen "von Hass erfüllten Satiriker, der zu Liebe genauso unfähig" sei wie all seine Figuren. Da war man dann doch einigermaßen perplex, nicht nur weil ihre Sätze so klangen, als wolle Vinken die Worte des französischen Premierministers Manuel Valls paraphrasieren, der bei Erscheinen des Buchs erklärt hatte: "Frankreich ist nicht die Unterwerfung und nicht Michel Houellebecq." Vom Hass der Figuren auf den Hass des Autors zu schließen und dann noch zu unterstellen, dieser Hass sei die Triebkraft seines Schreibens, hatte so wenig mit den Romanen von Houellebecq zu tun, dass man sich wirklich fragte, wovon sie überhaupt sprach. Das Missverständnis war kolossal - und ist es immer wieder. In dieser Woche nämlich kam es noch viel besser.

Michel Houellebecq hat der Tageszeitung "Le Monde" ein Interview abgesagt, genauer gesagt: der "Le Monde"-Reporterin Ariane Chemin. Diese war gerade dabei, eine sechsteilige Serie über den Autor zu schreiben, lauter lange Beiträge zu unterschiedlichen Aspekten seiner Person und seiner Bücher, alle von ihr selbst geschrieben, und bat ihn um ein Gespräch, mit dem sie die Serie eröffnen wollte. "Ich weigere mich, mit Ihnen zu sprechen, und ich fordere die Menschen, die ich kenne, auf, dasselbe zu tun", schrieb ihr Houellebecq - und setzte in seiner Antwort-E-Mail "le Tout-Paris", wie Ariane Chemin sich bei ihren Lesern beklagte, in Kopie: von den Philosophen Bernard-Henri Lévy und Michel Onfray bis hin zu seinem Schriftstellerkollegen und Freund Frédéric Beigbeder. Mit dem "Figaro" sprach Houellebecq daraufhin ohne Probleme und griff Chemin scharf an: Ihr Journalismus sei eine Mischung aus Fakten, relativ plausibler Fiktion und böswilligen Unterstellungen auf dem Niveau von Klatschillustrierten. Woraufhin sich viele gleich wieder bestätigt sahen: Houellebecq - der hasserfüllte und von Starallüren umgetriebene Frauenfeind, war ja klar.

Las man all die Beiträge über ihn, die die Journalistin diese Woche Tag für Tag in "Le Monde" lancierte, musste man allerdings feststellen, dass Houellebecq mit dem Vorwurf der Unterstellungsfiktion mit Boulevardmethoden absolut recht behalten hat. Die angeblichen Enthüllungstexte - über das Viertel, in dem er wohnt, über eine ehemalige Bekannte, die genauso heiße wie eine seiner Romanfiguren, über sein Aussehen (insbesondere seine Zähne) oder seinen berühmten Satz "Der Islam ist die dümmste aller Religionen" - operierten mit zum Teil anonymen Zitaten von Leuten, die Houellebecq gekannt oder die sich inzwischen mit ihm überworfen haben. Sie vermischten Biographie und Werk zu einem Geraune, das alle gängigen Houellebecq-Klischees bestätigte, in einem denunziativen Ton, der die Lektüre unerträglich machte.

Wenn eine der größten Tageszeitungen Frankreichs sich einem so wichtigen Autor so großspurig und unseriös nähert, ist das nicht unerheblich. Es ist, wie die Äußerung von Barbara Vinken, aber auch deshalb von Belang, weil die wiederholte Bestätigung von Houellebecq-Klischees symptomatisch ist für eine Rezeption, die durch die Vermischung von Person, Werk und Gerücht den Blick auf seine Romane völlig verstellt, eine Rezeption, die nicht nur in den Medien, sondern offenbar auch an den Unis stattfindet.

Aus diesem Grund kann man einen Essay gar nicht hoch genug schätzen, der jetzt in der deutschen Übersetzung erscheint: "Michel Houellebecq, Ökonom. Eine Poetik am Ende des Kapitalismus". Geschrieben hat ihn Bernard Maris, Wirtschaftswissenschaftler, Journalist und Professor am Institut für Europastudien an der Universität Paris, der unter dem Pseudonym "Oncle Bernard" auch für das Satiremagazin "Charlie Hebdo" schrieb und am 7. Januar beim Terroranschlag auf die Redaktion getötet wurde.

Keinem Schriftsteller, sagt Bernard Maris in diesem postum erscheinenden, schlauen und an vielen Stellen sehr witzigen Essay, sei es bisher gelungen, das ökonomische Unbehagen, das unser Zeitalter vergifte, so exakt zu erfassen, wie es Michel Houellebecq gelungen sei. Zugegebenermaßen gebe es Balzacs "Verlorene Illusionen", Émile Zolas "Das Geld" und Albert Camus' "Der erste Mensch", der mit einem Raubmord beginnt. Doch für ihn habe bisher niemand jene unterschwelligen ökonomischen Töne eingefangen, jene Hintergrundmusik der Supermärkte, die Ohrgeräusche des quantifizierenden Denkens - Geschäftsführung, Management, Anlage, Rente, Versicherung, Wachstum, Beschäftigung, Werbung -, die, so Maris, "Tropfen für Tropfen auf unseren Kopf herunterfallen und so sehr an unserem Gehirn nagen, dass wir daran verrückt werden".

Bernard Maris will aus Houellebecq keinen Ökonomen machen. Er behauptet auch nicht, dass man durch die Lektüre seiner Werke Wirtschaft verstehen lernen könnte. Seine These ist eher, dass Houellebecq uns "gegen die Wirtschaft impft", seine Werke gewissermaßen der "öffentlichen Gesundheitsfürsorge" dienten: "Ausweitung der Kampfzone" handelt von Liberalismus und Wettbewerb, "Elementarteilchen" von der absoluten Herrschaft des Individualismus und des Konsumrauschs, "Plattform" vom Nützlichen und Nutzlosen sowie von Angebot und Nachfrage beim Sex, "Die Möglichkeit einer Insel" von der postkapitalistischen Gesellschaft, die das Phantasma der "endgültigen kids", die die Konsumenten sind, verwirklicht hat, nämlich das ewige Leben. Jeder einzelne Roman nehme den Refrain der anderen wieder auf: krankhafter Wettbewerb, freiwillige Knechtschaft, Angst, Lust, Einsamkeit, Forschritt, und verweise dabei nicht zufällig auf die Schriften großer Ökonomen wie Schumpeter, Keynes, Marshall, Marx oder Malthus. Zu sehen, wie Michel Houellebecq das ökonomische Denken gleichzeitig nutzt und zerstört, das habe ihn, Maris, immer wieder aufs Neue in Erstaunen versetzt.

So wird in dieser Interpretation die Kritik am ökonomischen Liberalismus zum Schlüssel des Werks von Michel Houellebecq. Houellebecq erzähle vom Prozess der Individuation, von der Atomisierung der Gesellschaften, von der schon Karl Marx fasziniert war. Er erzähle, wie die liberale Wirtschaft alles zerstöre, was kollektiv ist: die Arbeitsgruppe, die Familie, das Paar. In diesem Sinne ist auch die sexuelle Befreiung bei ihm Teil einer Explosion des Individualismus und hat, wie es in "Elementarteilchen" heißt, "die Zerstörung dieser letzten Gemeinschaftsformen zur Folge, der letzten Zwischenstufen, die das Individuum vom Markt trennten". Nur die Liebe ist kein Konsumgut. Die sehr unschuldige, sehr reine Liebe der Protagonisten Houellebecqs ist Erfüllung und Vollendung: "Allein die Liebe", schreibt Maris, "bietet die Möglichkeit, den Konsum zu vergessen, jenen einzigen möglichen Horizont, den unsere schreckliche Gesellschaft bietet und der zur Folter werden kann."

In seinem Aufsatz "Das unerhörte Verlangen", den der Münchner Literaturwissenschaftler Clemens Pornschlegel über Michel Houellebecqs Roman "Unterwerfung" geschrieben hat und der diese Woche in der Zeitschrift "Stimmen der Zeit" erschienen ist (Heft 9, September 2015, Herder-Verlag, 12 Euro), hat Pornschlegel Maris' Thesen auch für den neuen Roman geltend gemacht, den es, als Bernard Maris seinen Essay schrieb, noch nicht gab. "Unterwerfung" erzählt, viele wissen es, von der Machtübernahme einer gemäßigt islamischen Partei und ihres Präsidentschaftskandidaten Mohammed Ben Abbes im Jahr 2022, die in Frankreich Polygamie, öffentliches Alkoholverbot, das Verbot freizügiger Frauenkleidung sowie ein muslimisches Schul- und Hochschulsystem einführen werden. Er erzählt von der erstaunlichen Selbstverständlichkeit, mit welcher der Regime- und Zivilisationswandel innerhalb eines Jahres über die Bühne geht, nicht zuletzt aufgrund der Kollaborationsbereitschaft der etablierten Parteipolitiker. Und vom Exodus der französischen Juden, die nicht bereit sind, sich der islamischen Gesetzgebung zu unterwerfen.

"Wenn es eine Idee gibt, die all meine Romane durchzieht", hat Michel Houellebecq einmal im Gespräch mit Bernard-Henri Lévy gesagt, "dann ist es die Idee von der absoluten Unumkehrbarkeit von Verfallsprozessen, wenn sie einmal begonnen haben." Ein Zurück aus der Welt des europäischen Verfalls gibt es für ihn nicht. Die Entropie betrifft die menschliche Spezies selbst, die mit ihrer Zivilisation den Prozess des Verfalls und der zunehmenden Unordnung eingeleitet hat. Und sie betrifft natürlich den Kapitalismus. So handelt auch "Unterwerfung" von der Auflösung der französischen Gegenwartsgesellschaft. Er handelt, so formuliert es Clemens Pornschlegel, "von einer Gesellschaft, deren Regeln und Lebensformen von ihren Subjekten nicht mehr aktiv getragen werden, weil sie für die einzelnen unerträglich geworden sind und weil dieselbe Gesellschaft das Leben ihrer Mitglieder nur noch als sinn- und ziellosen individualistischen Konkurrenzkampf aller gegen alle organisiert". Diesen Zustand "a-sozialer Dekadenz" führe Houellebecq auf das Fehlen einer den liberalen Individualismus zähmenden kollektiven moralischen Instanz zurück. In seinem Gedicht "Letztes Bollwerk gegen den Liberalismus" schreibt er: "Wir müssen dafür kämpfen, die Ökonomie unter Aufsicht zu stellen und sie gewissen Kriterien zu unterwerfen, die ich als ,ethische' bezeichnen würde."

Was die Ideale der Konsumgesellschaften auszuhebeln weiß und für Houellebecq die Quintessenz des Menschen-Lebens ausmache, sei "die Liebe und ihre unendliche Hingabe", lautet die Schlussfolgerung, zu der - wie Maris - in seinem Aufsatz auch Clemens Pornschlegel kommt. Der Schriftsteller Michel Houellebecq ist ein Romantiker. Von Hass getrieben ist er nicht.

JULIA ENCKE

Bernard Maris: "Michel Houellebecq, Ökonom. Eine Poetik am Ende des Kapitalismus". Aus dem Französischen von Bernd Wilczek. Dumont, 142 Seiten, 18,99 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Unter weniger traurigen Umständen hätte dieses Buch wohl kaum Aufmerksamkeit auf sich gezogen, behauptet Rezensentin Doris Akrap. Doch der Autor Bernard Maris, Ökonom und guter Freund von Michel Houellebecq, zählt zu den Toten des Attentats auf Charlie Hebdo, das vorliegende Buch wurde im Original kurz vor dem terroristischen Anschlag veröffentlicht. Davon abgesehen ist das Buch durchaus interessant, so die Rezensentin: Der Kapitalismuskritiker und zeitweise Attac-Aktivist Maris vertritt darin die These, dass Michel Houellebecq der erste Schriftsteller sei, dem es gelinge, "das ökonomische Unbehagen, das unser Zeitalter vergiftet, exakt zu erfassen", wie Akrap den Autor selbst zitiert. Besonders hebe Maris hervor, dass Houellebecq, anders als Wirtschaftswissenschaftler im akademischen Elfenbeinturm, eben nicht mit abstrakten Zahlen jongliere, sondern die zersetzenden Auswirkungen im Alltag seiner Figuren gnadenlos artikuliere. Am Ende ist es jedoch eher ein Pamphlet als eine echte Auseinandersetzung mit der Verführungskraft des Kapitalismus, meint die leicht enttäuschte Rezensentin.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.09.2015

Leiden am Kapitalismus
Bernard Maris, ein systemkritischer Banker, deutet den Erzähler Michel Houellebecq
als Ökonomen. Und verkürzt dabei dessen böse-trauriges komplexes Werk
VON ANDREAS ZIELCKE
Liebe macht blind, heißt es. Doch Verehrung und Begeisterung schaffen das auch, allzu gerne stellt sich der Verstand zu ihren Gunsten zurück. Aber ist es schon was Besonderes, wenn ein Ökonom einen Schriftsteller zum Ökonomen hochlobt und dafür seinen Sachverstand wie einen Businessmantel an der Garderobe abgibt?
  Doch wir sind in der französischen Geisteswelt, und da hat solche intellektuelle Hingabe ihre eigene Bewandtnis. Bernard Maris, Verfasser von „Michel Houellebecq, Ökonom“ (in Frankreich vorigen Herbst erschienen), hatte nicht nur gleichzeitig Professuren an der Université Paris VIII, an der University of Iowa und an einem Institut der Zentralbank von Peru inne, sondern war seit 2011 auch Mitglied des Aufsichtsrats der Banque de France, also ein anerkannter Experte seines Fachs. Französisch daran ist, um das Klischee einmal mächtig zu strapazieren, dass Maris zugleich ein Verächter seiner Zunft war, ein exponierter Kapitalismuskritiker – was vor allem seine Zugehörigkeit zur Banque de France fast surreal erscheinen lässt.
  In Frankreich geht das ohne viel Aufhebens, was einiges über das souveräne libre-pensée, das freigeistige Räsonnement in diesem Land besagt, aber auch über das folgenlose Nebeneinander von Kritik und Affirmation. Maris schrieb außerdem Romane und regelmäßig, als „Onkel Bernard“, Kolumnen in Charlie Hebdo. In der Redaktion des Blatts wurde er bei dem Terroranschlag am 7. Januar dieses Jahres getötet.
  Am selben Tag war das Heft mit einer Karikatur Houellebecqs auf dem Titel herausgekommen, parallel zum Verkaufsstart von dessen jüngstem Roman „Unterwerfung“. Natürlich konnte Maris die darin ausgemalte Vision der Wandlung Frankreichs zum islamischen Staat in sein Buch nicht mehr einbeziehen. Das ist schade, da diese so heftig Staub aufwirbelnde Vision ja auch die Ökonomie des Landes umfasst (schon allein, weil Frauen wieder vom Arbeitsmarkt verschwinden).
  In der McCarthy-Ära der Fünfzigerjahren machte ein amerikanischer Psychiater sehr erfolgreich Stimmung gegen die bei Jugendlichen aufkommende Begeisterung für Comics, indem er die Pulp- und Superhelden-Serien als „seduction of the innocent“ brandmarkte, als Verführung Unschuldiger. Während dies heute keiner mehr nachvollziehen kann, ist einem der umgekehrte Fall durchaus vertraut: die Verführung Schuldiger. Allerdings fallen hierunter keine Vergehen gegen die Moral, sondern gegen den Geist – etwa durch Schriften wie diese von Maris. Sie wollen nicht den, der anders denkt, mit bezwingenden Gründen zu sich herüberziehen, sie wollen vielmehr den, mit dem man längst ideologisch das Lager teilt, wieder und wieder hinreißen und emotional fesseln. Es geht um bestätigende Affektion, nicht Argumentation.
  So polemisiert, schimpft und spottet Maris über den Kapitalismus, als müsse man diesen nur noch der Lächerlichkeit preisgeben, um sich endlich seiner hohnlachend entledigen zu können. In der Tat findet Maris in Houellebecqs Romanen und Schriften genügend provokante, verächtliche Beschreibungen wirtschaftlicher Umtriebigkeiten und Invektiven gegen das Geld, den Neoliberalismus, den Konsumwahn, gegen unfähige Führungskräfte und andere Plagen der Wirtschaftswelt. Doch heißt dies, dass Houellebecq damit eine agitatorische „Poetik am Ende des Kapitalismus“ im Sinn hat? Oder gar, dass der Schriftsteller damit richtig läge?
  Weder noch. Keiner weiß wohl besser als Maris, wie verfehlt es wäre, die Aussagen von Houellebecqs Protagonisten mit dessen persönlichen Ansichten gleichzusetzen. Tatsächlich sind die Romanfiguren wesentlich kritischer eingestellt als der trotz seines clochardhaften Habitus doch überaus angepasste Houellebecq selbst. Geradezu sündenstolz stellte der für seine eigene Person heraus (man lese nur sein unter dem Titel „Volksfeinde“ 2009 erschienenes Streitgespräch mit Bernard-Henri Lévy), welch ausgemachter Egoist er sei, politisch konservativ, mit starkem Faible für Sarkozy und ebenso starker Aversion gegen die Sozialisten. Bei der Wahl zwischen Unrecht und Ordnung schlage er sich, analog zu Goethes berühmtem Diktum, grundsätzlich auf die Seite der Ordnung. Bei aller Koketterie und Lust zum Affront, die hier durchschlagen, scheint ihm nichts ferner zu liegen als antikapitalistisches Aufwiegeln. Auch seine Romanfiguren tun das nicht wirklich, sie leiden an einer degenerierten gesellschaftlichen Umwelt, die nicht zuletzt an ihrer Arbeits- und Wirtschaftsweise krankt.
  Hier schließt sich das Missverständnis an. Maris interpretiert die Tristesse, das gesamte kulturelle und moralische Elend, die Houellebecqs Romanwelt in immer neuen Schattierungen grundieren, als Symptome des Kapitalismus. Alles, der herrschende Egoismus, die Vereinsamung der Akteure, ihre Entfremdung, ihre Amoral, ihre Ziellosigkeit oder Obsession, ihre sexuelle Zügellosigkeit oder Verklemmtheit, ihre Infantilisierung durch Konsum oder auch die Verschandelung der Städte, alles steht für die Miserabilität der Ökonomie.
  Nicht dass Houellebecqs literarische Helden oder, besser gesagt, Jammergestalten und Antihelden solcher zornigen Vereinfachung keinen Zucker gäben. Auf „Geld“, „Neoliberalismus“, nötigende Werbung, brutalen Wettbewerb, gnadenlose Vermarktung der sexuellen Attraktivität machen sie sich häufig genug ihren bitteren oder zynischen Reim, doch meist mit sehr bescheidenem Sinn und Verstand für ökonomische Zusammenhänge. Das Eingeständnis von Michel im Roman „Plattform“, „ich habe noch nie was von Wirtschaft verstanden“, trifft auf die allermeisten Protagonisten zu.
  Im Unterschied etwa zu dem brillanten Roman „Johann Holtrop“ von Rainald Goetz liefern Houellebecqs Schlüsselfiguren daher keine ökonomischen Einsichten in den Kapitalismus, sie liefern Leidensmerkmale, Neurosen, Narben, Spuren und Zeichen für das Unbehagen an ihm. Das ist nicht wenig. Nur spricht man dann über Erfahrungen mit der Unkultur einer durchökonomisierten Welt, nicht über die Ökonomie selbst.
  Dass Kulturpessimismus das Wissen um die ökonomischen und sozialen Wirkungsgesetze des Kapitalismus nicht ersetzen kann – darum schert sich ausgerechnet der Experte Maris nicht. Entsprechend verkürzt, unhistorisch, maßlos sind seine Aussagen und Parolen: Wirtschaftswissenschaft ist eine „Pseudo-Wissenschaft, deren mathematischer Hyperbolismus ihre konzeptionelle Nichtigkeit kaschiert“; „die Gesellschaft wird von der Wirtschaft getötet“; „Führungskräfte sind jämmerlich wie Kinder, ebenso gemeine, launische, quengelnde, schreiende kleine Luder“.
  Doch die Attacken, die generell „das Geld“, „die Wirtschaft“, „den Markt“, „die Angestellten“ treffen sollen, machen begrifflich keinerlei Unterschied zwischen schlichtesten Marktwirtschaften in früher Zeit und dem heutigen Kapitalismus, zwischen einfachen Funktionen des Geldes und den heutigen, zumal in Zeiten des Finanzkapitalismus, überhaupt zwischen „Wirtschaft“ und „Kapitalismus“. Die Erlösungsideen der Romane sind leider von bestürzender Naivität. Liebe, Güte, Kunst – und Frauen (die „unendlich uneigennütziger und sanfter sind im Vergleich zu Männern“), nur in diesen Spielräumen reiner Zweck- und Selbstlosigkeit findet die Menschheit ihr Glück und Seelenheil wieder. Kurz vor dem Ende seiner Philippika sagt Maris, dass „diesen kleinen Essay natürlich ein verschmitztes Lächeln durchzieht“. Wäre man aufgefordert, einen einzigen Satz aus dem Buch beim Wort zu nehmen, dann diesen.
Bernard Maris: Michel Houellebecq, Ökonom. Eine Poetik am Ende des Kapitalismus. Aus dem Französischen von Bernd Wilczek. Dumont Buchverlag, Köln 2015. 142 Seiten, 18,99 Euro.
Hat Houellebecq wirklich eine
agitatorische „Poetik am Ende
des Kapitalismus“ im Sinn?
Wirtschaftswissenschaft, eine
„Pseudowissenschaft“ von
konzeptioneller Nichtigkeit?
Zwischen Tristesse und Egoismus – der Erzähler Michel Houellebecq.
Foto: Andreu Dalmau/dpa
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"Schlauer und an vielen Stellen sehr witziger Essay." Julia Encke, F.A.S "Maris stellt seinen Freund als Autor dar, der die Vergänglichkeit thematisiert und die im Kapitalismus verloren gegangene Sehnsucht nach Liebe." Brigitte Schwens-Harrant, DIE FURCHE "Witzig und kenntnisreich geschrieben. Absolut lesenswert." Dani Levy,3SAT KULTURZEIT "Bernhard Maris' Buch bietet nicht nur eine fundierte Gesellschaftskritik, sondern auch einen Schlüssel zum Verständnis des Werks von einem der wichtigsten Autoren der Gegenwart." STADTZAUBER KULTURMAGAZIN