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Das Durchröntgen der Sprache gehört seit jeher zum poetologischen Programm von Thomas Kling. So wie es in seinem Zyklus "Mahlbezirk" im neuen Buch heißt: "mühlensprache sprach sie: flüssig / in zerkleinerungsform. / sprach wie im rausch." Der Dichter weiß von Spiegelzauber und vom Zauberspiegel Sprache, zugleich betreibt Thomas Kling in Auswertung der Flugdaten so intensiv wie noch nie seine "Vorzeitbelebung" der Tradition im Ausgang von der dionysischen Herkunft unserer Poesie. In einer weit ausholenden Interpretation, ansetzend bei Euripides' letztem Stück, den "Bakchen", über Rudolf…mehr

Produktbeschreibung
Das Durchröntgen der Sprache gehört seit jeher zum poetologischen Programm von Thomas Kling. So wie es in seinem Zyklus "Mahlbezirk" im neuen Buch heißt: "mühlensprache sprach sie: flüssig / in zerkleinerungsform. / sprach wie im rausch." Der Dichter weiß von Spiegelzauber und vom Zauberspiegel Sprache, zugleich betreibt Thomas Kling in Auswertung der Flugdaten so intensiv wie noch nie seine "Vorzeitbelebung" der Tradition im Ausgang von der dionysischen Herkunft unserer Poesie. In einer weit ausholenden Interpretation, ansetzend bei Euripides' letztem Stück, den "Bakchen", über Rudolf Borchardts Antikenannäherung und Stefan Georges "Binger Voodoo", begegnen wir Thomas Kling bei der Lektüre von Gedichten eines Ezra Pound oder des späten Gottfried Benn. Aber beim "Andocken" à la Thomas Kling - in der antiken, der hochmittelalterlichen, barocken oder der klassischen Literatur der Moderne - bleibt er doch immer ein Lyriker mit einem klaren Blick auf die Historie. "Sprach-Programm" von Thomas Kling ist auch die Auseinandersetzung um das "Gemäldegedicht", um das Verhältnis von künstlerischem Bild und dichterischer Schrift, so im Zyklus "Die anachoretische Landschaft", der sich mit dem Isenheimer Altarbild von Grünewald beschäftigt.

"Auswertung der Flugdaten", das bedeutet aufs Neue, die Chiffren der literarischen Überlieferungen für uns sichtbar zu machen. Im Umgang mit den Beständen unserer Archive zeigt sich erst die Stellung dieses Dichters in der Gegenwart, erweist sich seine Glaubwürdigkeit. Was ist Sprache anderes als "dies ständige, ständige, vollständige Fragment"?
Autorenporträt
Kling, Thomas
Thomas Kling (1957-2005) lebte in Düsseldorf, Wien, Finnland und viele Jahre in Köln. Zuletzt wohnte er auf der Raketenstation Hombroich in der Nähe von Neuss. Neben anderen Auszeichnungen erhielt er 1990 das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln, 1993 den ersten Else-Lasker-Schüler-Preis für Dichtung und 2001 den ersten Ernst-Jandl-Preis. 2005 wurde ihm der d-lit-Preis der Stadtsparkasse Düsseldorf zuerkannt. Von ihm erschienen "erprobung herzstärkender mittel. gedichte" (1986), "gesc
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.08.2005

Prophezeiungen aus hingestückter Stimme
Aber die Sprache, dieses vollständige Fragment: Thomas Klings letzter Gedichtband "Auswertung der Flugdaten", das Vermächtnis eines Wortschatzgräbers

Über welches Leben spricht man, wenn man über Poesie spricht? Welche Poesie schreibt man, wenn man über den Tod schreibt? Und welche Worte soll man schließlich finden, wenn man weiß, daß man stirbt? Will man wenigstens die Kontrolle über die Worte bewahren, wenn man schon die Kontrolle über sein Leben verliert? Und welche Worte findet man genau für diesen Zusammenhang? Auf was wird man sich noch verlassen können? Auf das unverkennbare eigene Idiom? Was könnte dieses Etwas sein, das man auf der Habenseite glaubt? "Frantic" - rasend, wütend, außer sich sein. Und da muß sich die Poesie erproben, ob sie haltbar machen kann, ins Bild setzt, was schwindet.

Wenn nicht mehr viel Zeit ist, droht das Außer-sich-Sein überhandzunehmen. Ist auch die eigene Sprache vom Tod bedroht? Was ist die eigene Sprache? Ist sie nicht immer das, was andere übriglassen? Und so geht die eigene Poesie immer durch die Kläranlage anderer Stimmen, anderer Texte. Daß man noch einen Funken Poesie herausschlägt. Einen Prozeß fixieren, der unaufhaltsam ist. Ihn vom Ende her denken. Poesie als Diagnose, die Bilanz zieht. Und immer janusköpfig ist: die in den Archiven blättert und parallel dazu die laufenden Ereignisse filtert. Diese final gedachten Ereignisse stehen nicht für sich, sie werden rückgekoppelt mit analogen Sinnbildern.

Auch in seinem letzten Buch, "Auswertung der Flugdaten", oszilliert Thomas Kling zwischen (Fremd-)Sprachen, Dialekten, Idiomen, zwischen Stimme und Schrift, neuem und altem Text (als Referenzgröße), neuer und alter Sprache (als Beglaubigung qua Tradition), um am Sprachrand etwas Nichtsprachliches zu fassen: den Tod. Was Gilles Deleuze in "Kritik und Klinik" über die stotternde Verfahrensweise Alfred Jarrys schreibt, kann auch von der Poesie Klings gesagt werden. "Von einem Element zum anderen, zwischen der alten Sprache und der gegenwärtigen, die von ihr affiziert wird, reißen Klüfte und Lücken auf, die allerdings mit unermeßlichen Visionen angefüllt sind." In diesem Sinne (er)schrieb (sich) Kling eine eigene Minderheitensprache, die sich Deleuze zufolge durch die Art definiert, wie sie die dominierende Sprache behandelt. Und diese spezifische Behandlungsweise einer sprechabrichtenden Normsprache macht die Größe der Poesie von Thomas Kling aus.

Wer ein solches zugleich beharrendes und vorantreibendes Verständnis von Poesie lebt, könnte leicht selbst zum "Oberbescheidwisser" werden, als welchen Kling in der "Flugdaten"-Abteilung "Projekt ,Vorzeitbelebung'" Rudolf Borchardt, den "außergewöhnlichen Sprachmacher" der "Bakchischen Epiphanien", porträtiert. Nicht bloß ein Gedichtband ist also "Auswertung der Flugdaten", sondern auch eine Art poetologische Botanisiertrommel, in der Fundstücke unterschiedlicher Quellen abgelegt werden - als das Eigene. Mit dieser seiner Botanisiertrommel erweist sich Thomas Kling selbst als "Spracharchäologe", als "Wortschatzgräber" mit ausgesprochener "Fundlust" und als Abgrenzungsstratege - Adelungen, mit denen er in seinem Düsseldorfer Vortrag "Zum Gemäldegedicht" seinen Bingener Kollegen Stefan George würdigte. Die Aufnahme dieses Textes in den Band ist allein schon durch seine schriftarchäologischen, wortkundlichen und poetikhistorischen Entdeckungs- und Korrekturqualitäten gerechtfertigt. Überhaupt bilden Poesie und Poetologie bei Thomas Kling immer eine programmatische Einheit.

Bei all diesem Rekursnehmen, Beharren und Aufklären - dieser Dichter trug keinen Bart. Und schon gar keinen "Lichtbart der Patriarchen". Seine Poesie lallt nicht, sie stottert. Das Stottern ist eins ihrer ästhetischen Prinzipien, wie Deleuze es beschrieben hat. Sie verbietet sich das Lallen, sie ist hochpräzise: "Das präzise Wahrnehmungsinstrument Gedicht, das kleinste subkutane Bewegungen der Sprache sichtbar und hörbar zu machen versteht, dieses steinalte Präzisionswerkzeug", schreibt Kling in "Zum Gemäldegedicht". Ein Stottern (in) der Sprache selbst praktiziert er, um konventionalisierte grammatikalische und syntaktische Codes zu unterminieren, indem auf diese so allererst aufmerksam gemacht wird. Gerade weil auch Klings Poesie die "Mehrfachbelichtung" vorzieht.

Poesie ist das

eigentliche Reden

Die Gedichte in "Auswertung der Flugdaten" zeugen von ihrer Scharnierfunktion, das Janusköpfige der Poesie gleichzeitig zu denken, das Entgegengesetzte zu versöhnen. Thomas Kling gehörte zu den ganz wenigen, die eine kämpferische Versöhnung von Tradition, Moderne und Experiment geleistet haben, ohne voreilig gewesen zu sein, aber mit kompromißloser innerer Überzeugung und einer hellhörigen Scharfsinnigkeit. Scharfsinniger Stil zeichnete Kling wie kaum einen anderen Dichter der Gegenwart aus. So ist es nur folgerichtig, daß er in seine Minderheitensprache die Poesie (und Poetik) des Barock implantierte, den Gerhard Rühm mit der Herausgabe der Gedichtsammlung "Die Pegnitz-Schäfer" (1964) für den deutschen Sprachraum folgenreich wiederentdeckte. Verwunderung, Verblüffung erzeugen: der italienische Rhetoriker und Schriftsteller Emanuele Tesauro (1592 bis 1675), der erste wichtige Metaphern- und Figurentheoretiker, bezeichnete "argutezza" als "geistreiches Enthymen", eine Form des Syllogismus, die durch Verkürzung und Verdichtung frappierende Effekte erzielt. Die Scharfsinnigkeit hat die "Kraft des ingeniösen Arguments".

Die Poesie von Thomas Kling ist ingeniöse Sprachausstellung. Sie zeigt, daß Poesie das eigentliche Reden ist. Daß man dem Tod wenigstens das abgerungen hat. Daß der Tod die Poesie auf den Punkt kommen läßt: "jetzt ist es". Dabei ist die Rede von "selbsttätigen bildern" (aus dem Zyklus "Mahlbezirk") das genaue Kontrastmittel zur Bergbau-Metaphorik in "Gesang von der Bronchoskopie". Diese Metaphorik dient ihm dazu, die krankheitsaffizierte Selbstwahrnehmung, Veränderungsprozesse der Innen- und Außenwelt sowie die poetisch protokollierende und ins Bild setzende Spracharbeit selbst zu sezieren. Die poetologische Anverwandlung von geologischem und Bergbau-Fachvokabular ist eine romantische Technik. 1798 fragte der Bergbauingenieur Novalis in einem Fragment: "Kann es auch einen schönen Bergbau geben?" Mit seinem "Heinrich von Ofterdingen" gab er die - positive - Antwort, indem er die "große Chiffrenschrift" (aus "Die Lehrlinge zu Sais") der Natur beziehungsweise des Bergbaus philosophisch-ästhetisch einsetzte und eine naturkundliche Metaphorologie inszenierte, die er symboltheoretisch abstützte. Poesie manifestiert und entziffert die hierdurch evozierte Synthese von innen und außen, Natur und Mensch. Eine solche Synthese und Entzifferung leistet auch die Poesie Klings. Wahrnehmung, das macht sie deutlich, wird gesteuert von diesen überlagernden Bildern: Sehbildern, Sprachbildern. Und plötzlich hat man einen ganz alten Blick auf die Dinge, dessen Zeitgenossenschaft sich erst durch das Mitgesehene erweisen muß, das sich in der Sprache der Gedichte zeigt. "aber die sprache, / aber die sprache, / aber die sprache: // dies ständige, ständige, / vollständige fragment", heißt es in dem Gedicht "Über das Bildfinden II". Eine Poetik der Romantik in nuce?

Oft genug ist bei Thomas Kling das Vergessene, Abgedrängte, Unbekannte dominant, das sich durch die poetische Textur wieder seinen Weg an die Oberfläche bahnt. An dieser Oberfläche kann es der Leser abholen. Die Gefahr bei einer solchen die Tiefenstrukturen auslotenden Lektüre ist, die Zentralchiffre "Tod" als Generalschlüssel der Dechiffrierung absolut zu setzen - auch rückwirkend: "währenddessen durchs ausguckfenster / schattenwanderung sich anbahnt // und draußen / das wasser sich eindunkelt bereits".

Das ist Poesie: die Anverwandlung vorgefundener Metasprachen, die eigentümliche Umcodierung von in spezifischen Sprachkontexten definierten Denotationen. In "Vitriolwasser" benutzt der behandelnde Arzt ein "gezähe", das Werkzeug des Bergmannes zur Erzgewinnung, und füllt vorher den "muthzettel" aus, ein bergbaurechtliches Formular mit der Anmeldung eines Fundes und dem Antrag auf Erteilung der Schürfrechte. Mit dem "gezähe" "teuft" der "eintäufer" ein, gräbt einen Schacht, ist Teufel und Täufer zugleich. ",mein handwerkszeug kann mir brot und tod geben!' spricht" dabei nicht nur "der doctor unser". Das spricht auch der Dichter. Das Handwerkszeug der Poesie gräbt aus und nimmt Biopsien vor. Die lateinische Schreibweise und das Bergbauvokabular machen aus dem Arzt eine Gestalt zwischen religiöser Anrufungsinstanz und Scharlatan, Ergebenheit und Albtraum: "jetzt ist es. jetzt werd ich: / zum schacht, zum lungen- / schacht wird ich. // ,schacht arnika': die / firstenzimmerung droht in / arnikabläue aufzugehn! // wohinein ins / unvermutete das / liecht sich verliert." Mit "liecht" (leicht, Licht) wird eine Schreibung aufgegriffen, wie man sie in der Lutherbibel (1545) findet. Das sind prompte Kurzschlüsse, "Vorzeitbelebungen" morphologischer und etymologischer Art, die - auch Distanz schaffend - das Generalthema Tod ausweisen als das ganz Alte, als das Thema der Poesie schlechthin. Kurzschlüsse bis zur Deckungsgleichheit von Frage und Antwort: "wie soll man sich fühlen, wenn man am rande der grube steht? fragt / der poundbärtige von wien in den hörer, als poundbärtig er am rande der grube stand. nun! die grube bin ich. genau." Der "poundbärtige von wien"? Wohl kein anderer als der im Dezember 2000 verstorbene Dichter Hans Carl Artmann, dem Kling stark verbunden war und dem er unter anderem im poetologischen Essayband "Botenstoffe" (2001) seine Reverenz erwies. Das Gedicht endet mit einer Hölderlin-An-Muthung. Hyperions "So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden" wird bei Kling zu "so kam ich - / kam ich unter. / so kam ich zum erliegen" transformiert. Erliegen wiederum nimmt den Titel des Gedichts wieder auf. In einer unter anderem von E.T.A. Hoffmann bearbeiteten Sage wurde in einem Erzbergwerk im schwedischen Falun ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod ein Bergarbeiter gefunden, körperlich unversehrt in Vitriolwasser.

Das 21strophige Gedicht zu je fünf Zeilen "Neues vom Wespenbanner" setzt Thomas Klings Lebensprojekt der poetisierten Stimmenverschriftung fort als kontaminierte Stimmenmaskerade samt eingehörtem Selbstporträt - ich bin, was ich höre: "so / steht er und schweigt wie er spricht, die gottes-drossel. verschriebene / druckstele. wie gedrosselt der hals und die kehle noch warm, / warum, / und der leer bleibende schlund - ein erstbesteiger wieder." Mit der identitätsstiftenden Zusammensicht verschiedener Personen aus unterschiedlichen Zeiten und Kontexten nimmt das Gedicht eine Technik wieder auf, die Ezra Pound in seinen "Cantos" anwendete. Und mit Pound beziehungsweise Homer steigt Kling auch in sein(en) "Wespenbanner" ein, eröffnet das im Titel angekündigte "Neue" also mit dem Alten: "The old men's voices". Die Stelle bei Pound im Wortlaut: "And / poor old Homer blind, / blind as a bat, / Ear, ear for the sea-surge; / Rattle of old men's voices" (aus "Canto VII".) Die folgende Wendung "the old voice lifts itself" entnimmt Kling einer Huldigung von Pound an Henry James aus demselben Canto.

Menschenstimmen, auf

Ohrenhöhe erinnert

Es folgt ein anderer "Erstbesteiger", einer, den es in sprichwörtlich luftige Höhen trieb: Josef Pichler alias das "Pseirer-Josele", ein Paßeirer Gamsenjäger, der 1804 als erster Südtirols höchsten Gipfel bestieg, den Ortler. Allesamt "eintreffende menschenstimmen", auf Ohrenhöhe erinnert, vor Augen gestellt. Auch Beckett fällt ein mit seinem letzten Band. Oder ist es bloß die sich selbst vernehmende Stimme? Zeitzeuge Sprachaufzeichnung, die Zeichnung kann abgekratzt werden, die eigene Stimme als blätternde Antike: "eintreffende menschenstimmen, als ein abkratzbares, / als scheppernde aufnahme. und zwar nahaufnahme: als band, / das sich klebrig in sich selbst auflöst, nachdem es dreißig jahre / nicht abgehört worden ist. räuspern, dann: ,hier/ spricht der wespenbanner!', worauf das BASF-tape den // geist aufgibt". Abkratzen, auflösen, abhören; das Sterben, Kritik und Klinik, "jetzt ist es". "mein bruder macht beim tonfilm die ge- / räusche doch hör ich näher hin: bin ich / das selbst, was aus der ferne dringt" - der Bruder Tod zum Tonfilm Ich, ein Schlager.

Erinnert wird in diesem Gedicht auch an den syrischen Asketen und Einsiedler Symeon Stylites den Älteren (390 bis 459), den ersten Säulenheiligen der Kirchengeschichte. Im Alter von 32 Jahren setzte er sich auf eine drei, später zwanzig Meter hohe Säule, wo er den Rest seines Lebens mit Beten verbringen sollte. Er galt als heiliger "Friedensstifter der Wüste" und hielt politisch einflußreiche Ansprachen an ratsuchende Pilger. Als "Simon del desierto" begegnet er uns im gleichnamigen Film Buñuels und in Klings Gedicht, und als Säulensteher inszeniert sich der Dichter auf dem Cover seiner "Flugdaten".

Auch in Klings eigene "Antikenverwaltung" schreibt sich das bei ihm untergründig immer mitlaufende Geschwisterpaar Stimme und Schrift mitsamt seinen medialen Transformationen ein, etwa im Zyklus "Vergil. Aeneis - Triggerpunkte". Selbstwahrgenommene Antike, autobiographisch: "Sibylle Hellespontica // Alter magnetbänder schweres mahlen. / prophezeiungen aus hingestückter stimme, / verzerrt. fast eine ältre frauenstimme kaum, bei un- // mißverständlichem inhalt - / band schleift; stimmband in auflösung begriffen. / der ihr pelzbesatz; das rote, theure cape. // von den schläfn wehend: tüllschleier - durch tüllschleier / sprache; / und der pokal steht feste über einem buch."

Thomas Kling war ein starker Dichter, wie ihn Harald Bloom in "Eine Topographie des Fehllesens" beschrieben hat. Einfluß-Angst, daß Fremdlektüre die eigene Spur aufreißt oder gar vom Wege abkommen läßt, hatte Kling wohl nicht. Dafür war seine Poesie von Anfang an viel zu sehr auf das Überprüfen der Recycelfähigkeit von Fremdtexten quer durch die Jahrhunderte als "Botenstoffe" und "Sprachspeicher" und das Kontaminieren von Genus humile und Genus grande, von Slang, Rotwelsch, Gosse und Pathos, Schlager- und Märchenton angelegt. Was Paul Celan betrifft, so hat Kling auch dessen poetische Flugdaten ausgewertet, ihn aber nicht kopiert. Trotz aller "Vorzeitbelebung" und Fremdtext-Abtastungen ist Thomas Kling mit seiner Poesie "ein erstbesteiger" gewesen, den es nun gilt, nicht zum Säulenheiligen hochzustilisieren.

"Das ist es. Das ist das sehr alte Schreiben. Das ist sie: die alte Schrift", heißt es im "Projekt ,Vorzeitbelebung'": "Die sehr alte Schrift - geschrieben unterm Machandelboom. An dem, schweigst du nun und schreibst du nun, vernehmbar die Juliwespe sägt." "Von dem Machandelboom", ein plattdeutsches Märchen, Baum der Erkenntnis. Selbstabschiede. Absondern als selbstrettende Tätigkeit der Poesie. Abgerungen. Das Stottern, das stolpernde Voranrücken der Wörter, "das / endet in einzelbildschaltung, // endet in keinem / aufwachraum", heißt es im Zyklus "Die Himmelsscheibe von Nebra" - metamorphotische Lesarten der 1999 gefundenen Metallplatte aus der Bronzezeit, die als die weltweit älteste konkrete Himmelsdarstellung gilt und deren Goldapplikationen vielfache Interpretationen erfahren haben.

Nachlese? Nach der Lese? Von den Gedichten Klings geht eine höchst produktive Beunruhigung aus. Eine sternenklare Nacht hat viel zu verbergen. Eine genaue Lektüre der Gedichte von Thomas Kling steht aus. Vorlese, Wort für Wort.

Thomas Kling: "Auswertung der Flugdaten". Gedichte. Mit einem Fotozyklus von Ute Langanky. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2005. 171 S., geb., 16,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Michael Braun fühlt sich im Fall von Thomas Klings neuestem Gedichtband an den Spruch Paul Celans erinnert: "Dichtung: Das kann eine Atemwende bedeuten." Bei Kling liest Braun diesen Satz geradezu wortwörtlich, denn das Buch beginnt mit dem "Gesang von der Bronchoskopie", in dem Kling seinen Krankenhausaufenthalt als Höllentrip durch den Körper beschreibt; Braun ist regelrecht erschüttert von diesem existenziellen Kampf gegen das Ersticken und gegen das Verstummen. Kling beschreibt die Vorgänge in und an seinem Körper jedoch nicht nur klinisch kühl, sondern verbindet somatische Selbsterkundung mit einer geologischen Perspektive, die Körperpartien Schicht um Schicht materiell bloßlegt: der Atemraum in den Metaphern des Bergbaus, diese kühne Mischung schafft laut Braun "Bildfügungen von intensiver Leuchtkraft". Durch die geologische Perspektive gleitet Kling aber auch in die kulturelle Frühgeschichte ab, bezieht sich auf Stoffe der antiken Mythologie, was Kling in den Augen von Braun von der Wiener Moderne abrücken und Dichtern wie Borchardt oder George wieder näher rücken lässt. Braun ist begeistert von Klings Sprachkombinatorik, die antike Stoffe und Sprachpartikel aus der Gegenwart miteinander in Reibung bringt und dabei "große Reibungshitze" erzeugt.

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