Marktplatzangebote
19 Angebote ab € 3,50 €
  • Gebundenes Buch

Wenn man sich zum Ausgang eines Jahrhunderts Gedanken macht, was denn die beherrschende Qualität und Signatur dieses Jahrhunderts gewesen sei, dann drängen sich beim zwanzigsten Begriffe auf wie Dekadenz und Barbarei einerseits, Manipulation und Simulation andererseits, dazu verwandte kulturelle und plitische Kategorien wie Inhumanität, Korruption, Reression, Perversion auch. Gerade dieser vorerst recht ungeordnete Befund aber lässt einen Begriff in den Vordergrund treten, der möglicherweise alle diese synchronen und doch disparaten Bilder unseres Säkulums genauer und substantieller als andere…mehr

Produktbeschreibung
Wenn man sich zum Ausgang eines Jahrhunderts Gedanken macht, was denn die beherrschende Qualität und Signatur dieses Jahrhunderts gewesen sei, dann drängen sich beim zwanzigsten Begriffe auf wie Dekadenz und Barbarei einerseits, Manipulation und Simulation andererseits, dazu verwandte kulturelle und plitische Kategorien wie Inhumanität, Korruption, Reression, Perversion auch. Gerade dieser vorerst recht ungeordnete Befund aber lässt einen Begriff in den Vordergrund treten, der möglicherweise alle diese synchronen und doch disparaten Bilder unseres Säkulums genauer und substantieller als andere zusammenfasst: den der Obszönität.
Eigentlich heißt Obszönität einfach Schamlosigkeit, so in der Antike, im christlichen Mittelalter und vielfach auch noch heute. Für die meisten war das Obszöne so gut wie exklusiv aufs Sexuelle bezogen. Aber seit spätestens drei Jahrzehnten verschiebt sich die Wortbedeutung, erfolgt die lang überfällige Korrektur des Begriffs im Sinne seiner Erweiterung: Obszön, schmlos, erscheinen in diesem revidierten Verstand größte Teile des heutigen öffentlichen Lebens, erscheint im Rückblick gleichsam das ganze 20. Jahrhundert.
Derart verstehen auch Eckard Henscheid und Gerhard Henschel ihre Jahrhundertgeschichtsschreibung, im ganzen wie in den zahlreichen Einzelkapiteln: von der Affaire Dreyfus und der nationalen Begeisterung wegen des endlich ausgebrochenen Ersten Weltkriegs über den allseits obszönen Nazikomplex bis hin zu finalen Vorgängen rund um so unterschiedliche Figuren wie Milosevic und Lady Di. Schmlos wurde in ausufernder Wellenbewegung beinahe alles.
Autorenporträt
Gerhard Henschel, geboren 1962, ist freier Schriftsteller. Zahlreiche Veröffentlichungen. Zuletzt erschienen: "Die Liebenden", Hamburg 2002; "Die wirrsten Grafiken der Welt", Hamburg 2003; "Kindheitsroman", Hamburg 2004; "Der dreizehnte Beatle", Hamburg 2005; "Danksagung", Göttingen 2005.

Eckhard Henscheid, geboren 1941 in Amberg, gehörte neben Robert Gernhardt, Chlodwig Poth, F. W. Bernstein und anderen zur Neuen Frankfurter Schule und 1979 zu den Gründungsmitgliedern der satirischen Zeitschrift "Titanic". Er arbeitete als Journalist und Redakteur, bevor er freier Schriftsteller wurde. Sein literarisches Werk umfasst Romane, Erzählungen, Satiren, Essays und Glossen und darf in seiner Mischung aus Romantik, Ironie und eigenster Stilistik als einzigartig gelten. Eckhard Henscheid lebt mit seiner Frau in Amberg in der Oberpfalz.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.03.2000

Dazu muss man prostituiert sein
In ihrem neuen Buch entblättern Henscheid und Henschel das obszöne 20.  Jahrhundert
Anfang des Jahres inszenierte Frank Castorf, Intendant der Berliner Volksbühne, „Das obszöne Werk: Caligula”, und am Ende schickte er eine professionelle Stripperin auf die Bühne, der das Ensemble zu Füßen saß und der es ganz professionell zuschaute. Obszön war „Das obszöne Werk” aber nicht; keiner nahm Anstoß an irgendwas. Die Anlässe zum Anstoßnehmen sind selten geworden im Theater, ganz anders als zu Beginn des eben vergangenen, des zwanzigsten Jahrhunderts.
Das sieht man sofort, wenn man das Obszönitätsgeschichts- und Obszönitätsgeschichtenbuch von Eckhard Henscheid und Gerhard Henschel – kurz Henscheil – aufschlägt: Bei der Aufführung von Schnitzlers Reigen”, einem zirkulären Geschlechtsverkehrsspiel aus dem Jahr 1920, konnten sich Presse und Publikum noch mächtig entrüsten, und am mächtigsten entrüstete sich die Presse über das Publikum: „schnaufende Dickwänste mit ihrem weiblichen Anhange, der den Namen der deutschen Frau schändet”. Vor Gericht wurde sogar noch der Rhythmus der Pausenmusik gerügt, weil er „Beischlaf-Bewegungen” ähnelte und sie also genau genommen hochkulturell provozierte.
Das zwanzigste Jahrhundert ist zum Glück endlich vorbei, aber dass man damit den wahnwitzigen Signifizierungswettstreit schon hinter sich hätte, das durfte keiner wirklich erwarten. So schiebt sich nun wie aus dem Off, doch mit tausend Belegen gespickt „Das Jahrhundert der Obszönität” in den Blick und konkurriert unerschrocken mit dem „Amerikanischen Jahrhundert”, mit dem „Jahrhundert der Kriege”, mit dem „Jahrhundert des Fortschritts, der Mobilität und des Fußballs” oder ganz einfach mit „Meinem Jahrhundert” nach einer Annexion von Günter Grass.
Am engsten dürften sich die beiden Sammler natürlich Karl Kraus verbunden fühlen, der seinerzeit schon mal von einem kritischen Gegner, dem abtrünnigen verehrer Robert Müller, als „vornehmer Obszöniker” disqualifiziert werden sollte. „Als unermüdlicher Bekämpfer publizistischer und auch politisch-juristischer Obszönitäten war Kraus das genaue Gegenteil dessen. Aber hier schließt sich halt abermals nur der schon wohlbekannte Zirkel der Vergeblichkeit. ”
Das Autoren-Duo Henscheil übersetzt Obszönität mit Schamlosigkeit, und es versäumt nicht, auf Freuds Diagnose zu verweisen, wonach der Verlust von Scham Schwachsinn befördere. So gewinnt man nach 600 Seiten, nach den kulminierenden Einträgen in den neunziger Jahren in etwa eine Vorstellung davon, was die Zukunft bringen wird.
Diese Zukunft wird man aus der Vergangenheit begreifen, aus Henscheils aufmarschierenden Zitaten. Das schönste wird völlig zurecht immer wieder zitiert: „Nicht das Bild einer nackten Frau, die ihre Schamhaare entblößt, ist obszön, sondern das eines Generals im vollen Wichs. ” Es stammt von Herbert Marcuse, und es verlagert das Sexuell-Obszöne ins Repressiv-Obszöne. Damit kommt man dem vergangenen Jahrhundert schon ziemlich nah.
Weizsäcker contra Winnetou
Ja, der Zirkel der Vergeblichkeit . . . Sich beim obszönen Kaiser Wilhelm oder bei der obszönen Hitlerei länger aufzuhalten, dazu verführt dieses Buch eher weniger, weil man beim Obszönitäten-Overkill schnell ermüdet. Dafür wird man Henscheil für die Einleitung des Heidegger-Kapitels ewig dankbar sein: „Die Frage ist, ob es solche Sätze wirklich gebraucht hat: ,Ein Hervorbringen ist auch die Anfertigung von Zeug. ‘”
Oder für ihren Vergleich des philosophischen Präsidenten Weizsäcker mit dem philosophischen Indianer Winnetou. Weizsäcker sagt: „Meine gesamten Erfahrungen, meine Ausbildung, mein geistiger Horizont, das alles ist in Deutschland geprägt und verwurzelt mich hier in einem durchaus heimatlichen Sinn. ” Winnetou sagt: „Das Herz der Prärie ist groß und weit. Es umfasst das Leben und den Tod, und wer seinen Puls gefühlt, der darf wohl fortgehen, aber er kommt immer wieder zurück. Howgh!”
Natürlich schildert dieses Werk – Stalinismus, Maoismus, Monica-Lewinskyismus einmal beiseite – vor allem ein deutsches obszönes Jahrhundert; natürlich vermengt es in völliger Unschärfe mörderische Obszönität mit absolut läppischer Obszönität wie etwa der Obszönität der Literaturpreisausschüttung; und natürlich lässt sich die Obszönität der Eitelkeit nicht dadurch geißeln, dass die Autoren im selben Atemzug auf eigene schöne Formulierungen und schöne Verkaufserfolge deuten. Was aber wirklich und endlich Anstoß erregen könnte, ist das Fehlen eines obszönitätsanalytischen Sets, das in der immer noch strukturwandelnden Öffentlichkeit hätte gefunden werden können.
Die Moralisten Henscheil halten ihre moralischen Standards verdeckt. Und man muss schon sehr genau lesen, um auf das Gegenteil der Schamlosigkeit zu stoßen: da steht dann plötzlich und ziemlich moralinsauer, wenn nicht altdeutsch muffig auf Seite 327: „die Gesittetheit, die Kultur”. Dagegen versprüht der Gastbeitrag „Was nicht obszön ist” von Regina Henscheid – gegen Ende des Buches, aber o. J. – einigen Charme, dann etwa, wenn Frau Henscheid einer Katze zuschaut, die sich ihr Loch putzt: „Ein vierbeiniges Wesen, das, auf seinem Hinterteil sitzend, das eine Hinterbein steil in die Luft reckt, während das andere am Boden rechtwinklig abgestreckt ist; dann, sich beugend, mit einem Vorderbein zwischen diese beiden Beine, mit dem anderen aber neben sie tritt, den Kopf senkt und so sein Loch erreichen und es putzen kann und gleichzeitig all diese Bewegungen sicher, geschmeidig und selbstvergessen ausführt, verdient nur unsere Bewunderung. ”
Trotz der Anstoßerregung wird man dieses Buch unbedingt lesen müssen, schon deshalb, um nicht allmählich selbst obszön und schwachsinnig zu werden. In der Tradition von Eckhard Henscheids „Dummdeutsch”-Wörterbuch muss man wohl die zweiundzwanzig eng bedruckten Seiten sehen, welche die Inflationspalette des Kulturbegriffs auflisten, von „Abendländischer Kultur” (Regenburger Bistumsblatt) bis „Zweitausendundeinskultur” (im Unterschied zur „Suhrkampkultur”).
Auch die SZ hat sich hieran immer wieder versündigt: „Laptop-PC-Modem- Kultur”, „Legatokultur”, „Mehrheitskultur”; nicht einmal eine schöne kleine Rubrik findet Gnade vor den Autoren: „Münchner Kultur, seit etwa fünf Jahren eine Rubrik in der Süddeutschen Zeitung, die es wissen muss”.
Menschen, die sich schämen, schreiben Eckhard Henscheid und Gerhard Henschel meiden seit jeher schicklicherweise die Öffentlichkeit, und das in allen bekannten Kulturen. Sobald einer also an die Öffentlichkeit tritt, droht Schamlosigkeit; und man muss darauf gefasst sein, dass so einer die Hand ausstreckt und Howgh! sagt, selbst wenn Howgh! so ziemlich das Allerletzte ist, was in einer bestimmten Situation angemessen wäre.
Die – dummdeutsch gesprochen – Howgh- Kultur ist nicht nur, aber vor allem eine Kultur des Fernsehens. Und wieder einmal ist es Karl Kraus, der ihre Posen schon früh auf den Begriff gebracht hat: „Dazu muss man prostituiert sein”.
RALPH HAMMERTHALER
ECKHARD HENSCHEID, GERHARD HENSCHEL: Jahrhundert der Obszönität. Eine Bilanz. Alexander Fest Verlag, Berlin 2000. 608 Seiten, 49,80 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ralph Hammerthaler ist den Autoren einer Meinung, was Obszönität im 20. Jahrhundert ausmacht: `Nicht das Bild einer nackten Frau, die ihre Schamhaare entblößt, ist obszön, sondern das eines Generals im vollen Wichs` (Herbert Marcuse, der in dem besprochenen Band zitiert wird). Auf die Dauer ermüdet den Rezensenten jedoch der "Obszönitäten-Overkill" bei Figuren wie Hitler oder Kaiser Wilhelm. Auch vermißt er ein "obszönitätsanalytisches Set", die Autoren hielten ihre moralischen Standards bedeckt. Dennoch müsse man das Buch unbedingt lesen, behauptet Hammerthaler. Doch diese Aufforderung gilt möglicherweise nur Autoren der Süddeutschen Zeitung: In der "Auflistung der Inflationspalette des Kulturbegriffs" hat Hammerthaler nämlich auch die SZ gefunden - als Schöpferin des Wortes `Laptop-PC-Modem-Kultur`.

© Perlentaucher Medien GmbH