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Am 30. April 1945 schoss sich Adolf Hitler in Berlin eine Kugel in den Kopf. Zur selben Zeit strömten im Städtchen Demmin scharenweise normale Leute, Frauen, Männer und Kinder in Flüsse und Wälder, um sich dort umzubringen. Es war der größte Massenselbstmord in der deutschen Geschichte, der sich vielerorts ähnlich wiederholte. In welchen Abgrund hatten die Menschen geblickt, dass sie angesichts der Befreiung vom Dritten Reich nur im Tod einen Ausweg sahen? Die andere Reaktion auf den Sinnverlust von 1945 wirkt in der Generation der Kriegskinder und -enkel bis heute nach: das Schweigen,…mehr

Produktbeschreibung
Am 30. April 1945 schoss sich Adolf Hitler in Berlin eine Kugel in den Kopf. Zur selben Zeit strömten im Städtchen Demmin scharenweise normale Leute, Frauen, Männer und Kinder in Flüsse und Wälder, um sich dort umzubringen. Es war der größte Massenselbstmord in der deutschen Geschichte, der sich vielerorts ähnlich wiederholte. In welchen Abgrund hatten die Menschen geblickt, dass sie angesichts der Befreiung vom Dritten Reich nur im Tod einen Ausweg sahen? Die andere Reaktion auf den Sinnverlust von 1945 wirkt in der Generation der Kriegskinder und -enkel bis heute nach: das Schweigen, Verdrängen und Vergessen. Beidem lag dasselbe Motiv zugrunde, nämlich die Flucht vor dem Unerträglichen. Die tieferen Ursachen aber verbargen sich in der Innenwelt der Deutschen, die zwölf Jahre lang im emotionalen Ausnahmezustand gelebt hatten. Florian Huber entwickelt die Geschichte der Sinn- und Gefühlswelt der Menschen im Dritten Reich im Wechsel von historischer Reportage und Mentalitätsstudie- ein fesselnder Blick auf die Gefühle der kleinen Leute, die in ihren Untergang marschierten.
Autorenporträt
Huber, Florian
Florian Huber, geboren 1967, promovierte als Historiker zur Besatzungspolitik der Briten in Deutschland. Er ist der Autor von historischen Büchern wie »Meine DDR. Leben im anderen Deutschland« und »Schabowskis Irrtum. Das Drama des 9. November«. Als Filmemacher hat Florian Huber preisgekrönte Dokumentarfilme zu zeitgeschichtlichen Stoffen produziert, darunter der Mauerfall, das mysteriöse Ende des Dichters Antoine de Saint-Exupéry sowie die Olympischen Spiele von 1936.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.03.2015

Rasierklingen, Revolver,
Zyankali, der Strick
Über den Massenselbstmord in Demmin 1945
Als der Frühling 1945 nach Vorpommern kommt, ist der Krieg verloren. Die Wehrmacht hat sich gen Westen zurückgezogen und die Brücken hinter sich gesprengt. Für die Stadt Demmin, Dreistromland am Zusammenfluss von Peene, Tollense und Trebel, ist das fatal. Hier kommt die Rote Armee zum Stehen, es gibt kein Weiterkommen über das Wasser. Bald erschüttert das Dröhnen russischer Panzer die Häuser.
  Es sind die Stunden, in denen viele Demminer beschließen, wenn nicht die Stadt, dann diese Welt zu verlassen. 180 Kilometer vom Führerbunker entfernt beginnt ein Massenselbstmord, der trotz seines epidemischen Ausmaßes im gesamtdeutschen Gedächtnis kaum präsent ist.
  Auch deshalb hat der Historiker und Dokumentarfilmer Florian Huber ein Buch über jene Ereignisse geschrieben. „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“ heißt es und verspricht nicht weniger als eine „unerzählte Geschichte“. Huber beginnt mit den Tagen zwischen dem 30. April und dem 3. Mai 1945, als die Demminer in Scharen beschließen, ins Wasser zu gehen; zuerst ihren Kindern, zuletzt sich selbst das Hanfseil um den Hals zu legen; Kapseln zu zerbeißen; sich in den Kopf zu schießen.
  Man findet sie zusammengesunken an ihren Schreibtischen, steif in ihren Betten, in den Ästen der Bäume am Rande der Stadt, wo der Wind sie zu wiegen scheint. Schätzungen gehen von 700 bis 2000 Toten aus, bei einer Einwohnerzahl von 15 000. Wie konnte es so weit kommen?
  Die Rotarmisten, deren Rachgier und die Angst davor haben der Bevölkerung den Lebensmut ausgetrieben, lautet eine Lesart, die heute weit verbreitet ist – auch unter Neonazis. Seit Jahren, immer um den 8. Mai, marschieren die durch Demmin, um am Tag der Befreiung Trauerkränze in die Peene zu lassen. Auch Florian Huber spart die Vergewaltigungen, das Brandschatzen nicht aus. Aber er gräbt tiefer und bannt so die Gefahr ideologischer Vereinnahmung. Auf der Suche nach der Frage, warum die kleinen Leute Hand an sich legten, ist kein Platz für Opfermythen. Wenn so vielen gleichzeitig der Sinn des Lebens abhandenkommt, muss man fragen, worin dieser zuvor bestanden hat.
  Denn Demmin, das ist nicht nur der Ort, an dem die Selbstmordwelle nach Ende des Zweiten Weltkriegs am höchsten schlug. Was in den Großstädten des Großdeutschen Reiches passiert war, war auch hier geschehen: Fackelumzüge, Judenverfolgung, Kommunistenjagd. Bei der Reichtagswahl im März 1933 waren die Stimmanteile für die NSDAP in Demmin höher als im Rest des Landes.
  Huber schildert den Zorn auf den Versailler Frieden, das Erregungspotenzial der Alten, die Erweckungserlebnisse der Jungen. Da ist der Student Gerhard Starcke, der 1930 während eines Auftritts von Hitler im Sportpalast eine neue Form der Entgrenzung erlebt, „zum winzigen Teil einer Masse verschmolz, zum Atom eines summenden Körpers aus vielen tausend Köpfen, Armen und Beinen“. Am 1. September 1939 wird Starcke als Kriegsberichterstatter mit der Wehrmacht die Grenze nach Polen überschreiten. „Letzte große Prüfung des Schicksals“, notiert er und dokumentiert eine Gemütslage zwischen Ergebenheit und Selbstaufgabe. Für viele Deutsche gab es mit dem Beginn des großen Krieges nur noch Führer und Fügung, Triumph oder Tod.
  Das alles ist nicht neu, aber selten so eindrücklich beschrieben worden. Wo das historische Sachbuch durch Liebe zur Jahreszahl und nüchterne Faktenlast überzeugt, wählt Huber die historische Reportage. Im Ton eines Moritaten-Erzählers begleitet er die kleinen Leute durch den Malstrom der Ereignisse ohne zu sehr zu psychologisieren. Die privaten Aufzeichnungen, die der Autor größtenteils im Deutschen Tagebucharchiv eingesehen hat, sind zunächst noch voll von Liebeserklärungen an den Führer. Später werden Rasierklingen, Revolver, Zyankali gegeneinander abgewogen wie die Zutaten einer Festtagssuppe.
  Der Frage, wie es so weit kommen konnte, stellt Huber eine Dramaturgie gegenüber, die zwar beharrlich um das Thema Schuld kreist, sich aber einfachen Antworten verweigert. Spätestens mit dem Beginn des Russlandfeldzugs 1941 sickern Angst und Zweifel in den kollektiven deutschen Rausch. Es ist keine plötzliche Erkenntnis, kein Fingerschnippen nach Hypnose, sondern ein langsames Verwittern von Glauben. Da ist der Schwager, der aus dem Osteinsatz im besetzten Polen zurückkehrt und im Zimmer Schneisen zieht, die Hände auf den Ohren, brüllend, weil er die Schreie übertönen musste, die er nicht aus dem Kopf bekommt. „Kein Deutscher war auf Erzählungen von Dritten angewiesen, wenn es um den Abtransport der Juden ging“, konstatiert der Autor.
  Kurz vor Kriegsende trifft Gerhard Starcke in der Ulanenkaserne auf Joseph Goebbels. Der eröffnet ihm, im Falle einer Niederlage solle er nicht zögern, die Familie und sich selbst zu töten. Starcke, der nun in die ideologische Leere blickt, die er als Kriegsberichter so lange und willfährig gefüllt hat, flüchtet in amerikanische Gefangenschaft.
  Die meisten von Hubers Protagonisten sind Davongekommene. Ihre Tagebucheinträge enden lange nach 1945. Sie sind kleine Leute, die meisten weder Helden noch Verbrecher. Wo aber die Realität sich dieser dankbaren Dichotomie verweigert, bleibt oft nur Schweigen. „Wie ein Vorhang“ legte es sich nach Kriegsende über die Wirklichkeit, schreibt Huber. Später, in der DDR, besteht kein Interesse, den Großen Bruder Russland vor den Kopf zu stoßen, indem man an ein Kapitel von Barbarei und Vergeltung rührt. In Demmin erinnert heute ein Findling auf dem Friedhof an die Zeit, in der den Deutschen der Lebenssinn abhandengekommen war. Für alle Ortsfremden gibt es dieses Buch.
ULRIKE NIMZ
Florian Huber: Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945. Berlin-Verlag, 2015. 304 Seiten, 22,99 Euro.
Bei der Reichstagswahl 1933
gewann die NSDAP in Demmin
mehr Stimmen als sonst im Land
Kurz vor Kriegsende empfahl
Joseph Goebbels im Fall einer
Niederlage den Selbstmord
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als Aufdeckung einer großen Lüge liest Andreas Wang Florian Hubers Studie über die massenhaften Selbstmorde deutscher Bürger gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Erschüttert stellt der Rezensent fest, dass längst nicht nur NS-Funktionäre zu Zyankali, Strick und Revolver griffen, sondern, wie ihm der Autor anhand von Einzelschicksalen und lokalen Ereignissen zeigen kann, die er in seine Erzählung der Großereignisse des Krieges mischt, vor allem auch "normale" Leute. Von Breughelschem Ausmaß scheint dem Rezensenten das epidemische Morden, und dunkel seine Motive. Erst wenn der Autor sich tastend und mit Hilfe von Erinnerungen, Tagebüchern und anderen Quellen der Mentalität und den Gefühlen der Menschen nähert, wird Wang deutlich, welches "Verzweiflungsszenario" aus Chaos, Gewalt, Demütigung und Furcht 1945 herrschte.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2015

Ein manisch-depressives Volk
Selbstmordepidemie während des Untergangs der Hitler-Diktatur

Woher hatten diese Leute, fragt man sich heute, eigentlich alle diese Waffen, Pistolen, Gewehre und all dies Zyankali, all diese Stricke, um sich massenhaft umzubringen? Es gab offensichtlich von allem reichlich, die Gesellschaft hatte vorgesorgt. Als das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft nahte und der Krieg in sein allerletztes Stadium gelangte, war die Stunde der Abrechnung gekommen: mit den Mächtigen des Terrorregimes wie mit den Mitläufern und Durchhaltewilligen, mit Tätern, Opfern, Schuldigen und Unschuldigen - und mit sich selbst. In jenen, die vorgesorgt hatten, die nun ihre Pistolen und Gewehre, ihr Gift und ihre Stricke hervorholten oder in die Bäche, Flüsse und Seen stiegen, die ihre Familien, ihre Frauen, Kinder und schließlich sich selbst umbrachten - in ihnen muss die Erwartung auf diese Stunde der Abrechnung geschlummert, auf sie müssen sie gewartet haben. Denn als es so weit war, als von Osten her die russischen Truppen - und von Westen her die Alliierten, wenn auch mit weniger Bedrohungspotential - auf deutsches Territorium vordrangen, als Gerüchte und Berichte vom wahren Ausmaß der Schuld der Deutschen wie vom Furor der "Feinde" grassierten, da überkam sie der Selbsttötungsrausch wie eine Epidemie, da zögerten sie scheinbar nicht, da brachten sie sich um. Hunderte, Tausende, wie viele?

Florian Huber mischt in seiner Darstellung Einzelschicksale, lokale Ereignisse, Großereignisse zu einem schrecklichen Triumph des Todes geradezu Breughelschen Ausmaßes in einem vielleicht nicht todessüchtigen, aber dem Tod zunehmend gleichgültig gegenüberstehenden Volk und macht uns mit einem bislang in diesem Ausmaß weitgehend unbekannten und wohl auch verdrängten Kapitel deutscher Zeitgeschichte bekannt. Bilder der toten Goebbels-Familie hat man gesehen, vom Selbstmord Hitlers weiß man selbstverständlich, manche Selbstmorde hoch- und höchstrangiger Parteimitglieder und NS-Funktionäre wie etwa des Leipziger Stadtkämmerers Lisso sind dokumentiert. Deren Beweggründe kann man sich vorstellen, sie hatten Angst und wollten sich der Verantwortung entziehen. Aber so viele Hunderte und Tausende andere? Hat man von den schätzungsweise 600 bis über 1000 Toten der Gemeinde Demmin, und Demmin ist bloß ein Beispiel, gehört? Nein, jedenfalls fanden sie keinen Eingang in die Geschichtsbücher. Auch nicht, um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen, in der Studie von Ian Buruma über das Jahr 1945.

Wie fast alle Erscheinungen der nationalsozialistischen Jahre sind auch diese immer nur ansatzweise zu erklären - Einzelmotivationen, kriminelle Täterprofile und, in diesem Falle Selbstmordmotive ja, aber die Massenhaftigkeit des Mordens, Tötens, et cetera nein. Das bleibt noch immer ein Rätsel. Und so lesen wir auch hier eine fast tragisch zu nennende Geschichte von Schuld und Verstrickung, Verzweiflung, Betrug und Selbstbetrug der Deutschen. Huber tastet sich vorsichtig in einer Art Mentalitäts- und Gefühlssondierung in die gedanklichen und emotionalen Voraussetzungen der Deutschen zurück, die den Keim zu dieser Selbstmordepidemie gelegt haben. Er liest die Erinnerungen und Beobachtungen der französischen Journalistin Stéphane Roussel neu und erinnert an Hannah Arendts bekannten "Besuch in Deutschland" - vor allem aber bedient er sich der überlieferten Schriften, Berichte, Broschüren, Tagebücher überwiegend unbekannter unauffälliger, also ,normaler' Deutscher - erstaunliche und bestürzende Dokumente, aus denen hervorgeht, dass der "Untergang der kleinen Leute" tatsächlich schon vor der "Höllenmaschine" von 1945 begonnen hat und in ein Verzweiflungsszenario ohne Beispiel gemündet ist.

Hubert folgt den hier auffindbaren Spuren, die der kollektive Ehrverlust des als schmählich empfundenen Versailler Vertrages hinterlassen hat oder die die Euphorie des kurzen Wiederaufstiegs nach Wirtschaftskrise und gesellschaftlichem Stillstand und dem Aufschwung der "Bewegung" hervorgerufen hat; er lässt uns anhand der Aufzeichnungen die Wucht der Glorifizierung Hitlers und dessen Nimbus als Messias und Heilsbringer zumindest sehen. Huber nennt die mentale Haltung "erregenden Schwindel" und deckt die Doppelsinnigkeit, die Ambivalenz der Erlebniswelt auf.

Viele, allzu viele haben eben doch den nationalsozialistischen Staat mitgetragen und so lange an ihm festgehalten, bis die "Schicksalswellen des Untergangs" sie erreicht haben und die Ordnung der Gesellschaft, die Schutzzone der "Volksgemeinschaft", zusammenbrach: "An ihre Stelle traten in der Erwartung der Menschen Chaos und Anarchie, Terror, Unterdrückung, Gewalt und Demütigung. Eine namenlose Furcht vor dem, was kommen würde. Zugleich rückte der Selbstmord in den Rang eines letzten Auswegs vor der vollkommenen Preisgabe." Schemenhaft hier und schärfer umrissen dort taucht in den Dokumenten und in der Deutung Huberts aus der Vergangenheit ein Volk mit einem geradezu manisch-depressiven Krankheitsbild auf. Es mündet, in Anlehnung an Alexander und Margarete Mitscherlichs berühmte Formel von der Unfähigkeit zu trauern, in der "Unfähigkeit zu fühlen", einer seelischen Verwüstung. Aber am Ende haben die Überlebenden bekanntlich von nichts gewusst, Hitler nie geliebt, die Nationalsozialisten verachtet - Opfer sie alle. Die seelische Verwüstung hat weit um sich gegriffen. Huber hat die Selbstlüge aufgedeckt, die zur Katastrophe geführt hat: während des "Dritten Reichs", am Ende des Krieges, in der Nachkriegszeit.

ANDREAS WANG

Florian Huber: Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945. Berlin Verlag, Berlin 2014. 303 S., 22,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Nach dem Krieg hat niemand mehr über diese Selbstvernichtung sprechen wollen. Hubers Buch ist das erste, das dieses Thema in solcher Gründlichkeit behandelt. Und es ist vielleicht das erschütterndste und ergreifendste von den vielen, die in jüngster Zeit über den Zweiten Weltkrieg erschienen sind.", Oranienburger Generalanzeiger, Uwe Stiehler, 16.01.2016