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"Tom Schulz versteht es, die Sprache auf Bilder hin abzuscannen, die sich beim Leser tief ins Gedächtnis graben." -- GUY HELMINGER

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Produktbeschreibung
"Tom Schulz versteht es, die Sprache auf Bilder hin abzuscannen, die sich beim Leser tief ins Gedächtnis graben." -- GUY HELMINGER
Autorenporträt
Tom Schulz wurde 1970 in der Oberlausitz geboren. Er ist Dozent für Kreatives Schreiben und Lyrikworkshops an der Universität Augsburg und leitet die Schreibwerkstatt "open poems" an der Literaturwerkstatt Berlin. 2010 erhielt er den Bayerischen Kunstförderpreis für Literatur. Seine Lyrikbände "Kanon vor dem Verschwinden" (2009) sowie "Innere Musik" (2012), für den er den Kunstpreis für Literatur 2013 erhielt, erschienen im Berlin Verlag.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.2009

Reizstromwäsche

"Die Liebe ist eine zu häufige Blume" - wenn ein Lyriker das sagt, dann hat er wohl einen anderen Eros im Sinn. Tom Schulz, 1970 in der Oberlausitz geboren und auch als Übersetzer und Herausgeber hervorgetreten, setzt auf den Eros der Sprache. Er spricht von einem "Gedicht, das mit der Sprache schlief". Sein Band "Kanon vor dem Verschwinden" hat freilich keinen kulturkonservativen Kanon im Sinn. Er steht in der Tradition von Dadaismus und Surrealismus. Gern persifliert er das Pathos großer Poesie - wenn auch mit mäßigem Witz. Dylan Thomas' Wendung "Dem Tod soll kein Reich bleiben" wird zu "dem Tod soll keine Gründerzeitvilla bleiben". Und bei der Zeile "durch soviel Kuhmist geschritten" sollen wir an Benns Artistik denken: "Durch soviel Formen geschritten". Die Titel der Gedichte von Tom Schulz suggerieren Welthaltigkeit. Da figurieren Orte von Cordoba bis zu den Isarauen, von der Saarschleife bis Anatolien. "Die Holledau, die blöde" klingt als Titel lustig. Doch das Spiel der Worte gibt dem Ort keine Chance. Es ist ohne Geduld. Schulz erfindet zum Mobilfunk einen "Debilfunk". "Reizstromwäsche" kombiniert nach schlichtem Rezept zwei Begriffe zu einem neuen. Loben wir aber den Ausdruck, den Tom Schulz für bestimmte Ästheten findet: Kunstanrichter. Er passt recht hübsch auf den Autor und was er anrichtet. (Tom Schulz: "Kanon vor dem Verschwinden". Gedichte. Berlin Verlag, Berlin 2009. 104 S., geb., 17,40 [Euro].) H.H.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.08.2010

Pathos mit Tomaten
Aus Furcht, die Dinge zu benennen, tanzt Tom Schulz im „Kanon vor dem Verschwinden” graziös mit seinen Gedichten auf der heißen Herdplatte
Dieser Dichter hat eigentlich Angst, die Dinge zu benennen, und es gelingt ihm, diese Angst auch uns einzuflößen. Wie besessen holt er Wörter hervor, welche zwar nicht die Dinge sind, aber doch so nahe bei ihnen, dass sie stellvertretend deren Härte, Geruch, Farbe und Geschmack simulieren können, vor allem auch ihre Aggressivität oder Zärtlichkeit. Aber kaum genannt, lässt er sie fallen, kalauert sie weg, deutet sie um.
Die Gedichte, oft aus drei- oder vierzeiligen Strophen gebaut, sehen auf dem Papier sehr ordentlich aus, aber kaum ein Satz passt in einen Vers, und kaum ein Strophenende gibt Zeit zum Atemholen. Der Tänzer auf einer Herdplatte: Wohin er auch tritt, ist es zu heiß, um nur eine Sekunde auszuharren. Also darf er nicht aufhören zu tanzen, und wir dürfen nicht aufhören zu lesen. Natürlich ist das im Ernst unmöglich, aber künstlerisch gelingt es, wenn das Gedicht sich unangemeldet unterbricht oder mit einem Doppelpunkt seine Unbeendbarkeit ausdrückt, wie dieses „Abendlied“: „wir tränenreich versiegten Zisternen / wir gehen dahin mit Schnitt und weg / zehrendem Bier zur Neige, verwandelt / in Eigenurin, Rosenwasser der Mond / Scheintarif wird angesagt:“
Das erste Motto, eine Strophe des rumänischen Dichters Gellu Naum, beziehen wir spontan auf die Dichtung: „und die stimmen kommen allein ohne körper.“ Es ist auch eine Verbeugung vor dem Surrealismus, den Tom Schulz in seinen Gedichten liebevoll an der Nase herumführt. Das zweite Motto ist von Emily Dickinson mit einem schönen geheimnisvollen Bild des Todes. Der Dichter meint wirklich den Tod, wenn er das Buch „Kanon vor dem Verschwinden“ nennt. Das ist eine Gedichtüberschrift aus dem ersten Teil, welcher seinerseits „Vom Zugrundegehen” überschrieben ist. Als Widmung des ganzen Bandes finden wir wie zur Bestätigung der finsteren Titel: „in Erinnerung an meine Mutter“ (neben „für Theresa“, die auch noch ein hinreißend charmantes Gedicht „in der 1002. Nacht“ bekommt).
„Die Trauerränder, die nachtblau / zerstochenen Venen, die Geburtstagskarten / ins Jenseits, während du durchgefeuert wirst / im Universalsarg, einfachste Ausführung / wie verrinnst du denn und dein Pferd / Rosinante“. Obwohl der „Kanon vor dem Verschwinden” virtuos und rabiat die Krankenhaus- und Sterbekulisse samt Requisiten hin- und herbeutelt, ist er ein Hymnus auf Leben und Liebe: „ich singe / dass dem Tod kein Scheich / tum gehören soll, keine wüste / Wüste“ und ganz am Schluss auch „keine Gründerzeitvilla“.
Nicht nur zur Wirklichkeit hat der Dichter ein allergisches Verhältnis, auch den überlieferten Schatz von Weltweisheit, vom Kindervers bis zur absoluten Poesie, wehrt er fuchtelnd ab wie einen Mückenschwarm. In einem „Psalm“ heißt es „Vater, schließ den Weltraum / Turnsaal zu, abends wenn ich schlafen / geh, vierzehn Engel bei mir stehn / dreizehn mit Brüsten voll Milch / und Honig, wer singt das Lied / wer nimmt den Hut, es klingt / nach rostigen Klingen, Solingen rostfrei / es klingt“.
Die tiefe Verstörtheit der ersten Gedichte des Bandes lässt in den folgenden Kapiteln zwar nach, und es gibt viele, bei denen die scheinbar surreale Technik nicht nur Sarkasmus, sondern auch Humor vermittelt wie in „Die Holledau, die blöde”. Aber wie leicht schlägt das um wie in „Sommerabend” mit einem Vers von Rilke über den Panther: Er reißt einen Abgrund von Nihilismus auf, der sich auch hinter einer sarkastischen Geschmacklosigkeit nicht mehr verbergen lässt: „was macht das schon für einen Unterschied, verschwinden oder / herausgestrichen werden aus einem Plan / der nicht aufgeht / nur die lange schweigende Mehrheit der auf dem Grund / der Flüsse röchelnden Fische, die den Rochen voll / und hinter tausend Hefeweizen keine Welt“.
Und es gibt Gedichte wie die „Stendaler Elegie“, die so schön sind, dass man sich die Augen reibt, die ganze Wortfindungskunst im Dienst eines rührenden, zärtlichen Gefühls: „bitte sende mir Abende, sende mir Wochenenden / damit die Tränen nicht im Vorortzug sitzen müssen / sende mir Sendungen vor dem Schlaf, eine Mütze / Zuckerschnee, den Liebestrank 100 Gramm“.
Furcht und Liebe sind wohl die Pole, zwischen denen ein sensibles dichterisches Talent wie Tom Schulz schwanken kann: das Verhängnis, vor dem man nicht endgültig fliehen und das Glück, das man nicht endgültig besitzen kann. Die besten Gedichte von Tom Schulz sind denn auch jene, welche die Unfertigkeit nicht nur behaupten, sondern selber sind. Schal werden sie, wenn die Wortausflüchte kokett wirken oder gar zu einem abschließenden Statement gelangen. Wo der Bildercrash höchst gekonnt und mitreißend grassiert, ist ein kohärentes Bild altklug und langweilig: „als unvollendete Sinfonie / mit zerbrochenem Notenschlüssel“. Vielleicht hat der Dichter ja nichts dagegen, wenn man einfach kürzt, wo er seine eigene Stilhöhe nach unserem Geschmack nicht ganz erklimmt? Eine Poetik wählt man ja nicht wie im Supermarkt. Sie drängt sich auf. Auch Tom Schulz ist nicht nur Dozent für Kreatives Schreiben, sondern Opfer und Täter seiner Kreativität, vor allem aber Seismograph seiner sprachlichen Wahrnehmung von Wirklichkeit. Wenn wir ihn richtig verstanden haben, müssen wir ihn wohl vor den Haupt- und Aussagesätzen warnen. Zur Wiesn heißt es in „München im Herbst“ entschieden kreativer: „Absturzrasen, Pathos mit Tomaten / Soße! hoble Parmesan drüber, feuer / die Fenchelknollen an, einmal Lehel / von vorn und hinten, sichere Bahnhofs / Mission” HANS-HERBERT RÄKEL
TOM SCHULZ: Kanon vor dem Verschwinden. Gedichte. Berlin Verlag, Berlin 2009. 96 Seiten, 16,90 Euro.
München im Herbst?
Hoble Parmesan drüber!
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Hans-Peter Räkel fürchtet sich ein wenig vor diesen Texten. Schaurig schön, kann man sagen, ist sein Empfinden beim Lesen der Gedichte von Tom Schulz. Die Angst, die Dinge zu benennen geht einher mit Umdeutungen und surrealistischen Kalauern, die Räkel wieder Spaß machen. So wird der Kanon vom Verschwinden wieder eine Feier des Lebens, findet Räkel. Und dann und wann ein Gedicht so schön, dass der Rezensent sich die Augen reibt. Ein zärtliches Gefühl plötzlich. Die Pole also, zwischen denen Schulz sich bewegt, so klärt Räkel, seien Furcht und Liebe. Und wo ein Haupt- oder Aussagesatz dem eigentlichen Niveau des Dichters nicht ganz gerecht wird, nimmt sich der Rezensent die Freiheit, einfach drüberwegzulesen.

© Perlentaucher Medien GmbH