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Simson, der Held" - so lernt ihn jedes jüdische Kind von klein auf kennen. Der Mann, der mit bloßen Händen einen Löwen zerriss, ein charismatischer Held im Kampf der Juden gegen die Philister und, ohne jeden Zweifel, eine der wildesten, schillerndsten biblischen Gestalten. Was ich dagegen meiner Bibel entnehme, ist in gewisser Weise das Negativ der bekannten Geschichte und Figur. Ich lese vor allem die Geschichte eines Menschen, der zeit seines Lebens damit gerungen hat, das ihm auferlegte gewaltige Schicksal anzunehmen. Es ist die Geschichte eines Kindes, das Vater und Mutter von Geburt an…mehr

Produktbeschreibung
Simson, der Held" - so lernt ihn jedes jüdische Kind von klein auf kennen. Der Mann, der mit bloßen Händen einen Löwen zerriss, ein charismatischer Held im Kampf der Juden gegen die Philister und, ohne jeden Zweifel, eine der wildesten, schillerndsten biblischen Gestalten. Was ich dagegen meiner Bibel entnehme, ist in gewisser Weise das Negativ der bekannten Geschichte und Figur. Ich lese vor allem die Geschichte eines Menschen, der zeit seines Lebens damit gerungen hat, das ihm auferlegte gewaltige Schicksal anzunehmen. Es ist die Geschichte eines Kindes, das Vater und Mutter von Geburt an fremd war. Die Geschichte eines kraftstrotzenden Helden, der sich sein Leben lang nach der Liebe seiner Eltern sehnte, nach der Liebe überhaupt, die er nie fand. Wir stoßen auf eine Biographie, die nichts anderes ist, als der qualvolle Weg einer einsamen ruhelosen Seele, die nirgendwo auf der Welt zu Hause ist. Selbst der Körper, dem sie innewohnt, ist ihr ein Ort der Verbannung und des Exils.
Für mich ist diese Erkenntnis der Punkt, an dem der Mythos - mit seinen starken Bildern und seinen jedes menschliche Maß übersteigenden Geschehnissen - plötzlich in den Alltag eines jeden von uns eindringt, in unsere intimsten Momente und verborgensten Geheimnisse. David Grossman
Autorenporträt
David Grossman, 1954 in Jerusalem geboren, ein dezidierter Verfechter einer friedlichen Lösung des Nahostkonflikts, gehört wegen seiner differenzierten politischen Haltung und ungewöhnlichen Erzählphantasie zu den herausragenden Schriftstellern der jüngeren Generation.
David Grossman hat für seine schriftstellerisches Werk und sein politisches Engagement zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. den Nelly-Sachs-Preis (1991), den Premio Mondello (Italien, 1996) und den Geschwister-Scholl-Preis (2008). 2010 wird ihm der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen.
David Grossman ist verheiratet und hat drei Kinder, er lebt in Mevaseret Zion, einem Vorort von Jerusalem.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.03.2006

Der Säulenstürzer
Samsons Stärke war Samsons Schwäche: David Grossman liest eine alte Geschichte als moderne Parabel
Von Lothar Müller
Die großen Helden haben schwache Stellen, an denen sie verwundbar sind. Bei Achilles ist es die Ferse, bei Siegfried die Schulter, bei Samson sind es die Haare. Wer ihm seine Locken abschneidet, der nimmt ihm die Kraft. Delila aus dem Tal Sorek, die er liebt, entlockt ihm dieses Geheimnis und gibt ihn so in die Gewalt seiner Feinde, der Philister, unter denen er mit der Eselskinnbacke ein Blutbad angerichtet hat. Sie werden ihn blenden, ihn im Gefängnis das Mühlrad drehen lassen, aber seine Haare werden nachwachsen, und er wird, wenn er beim großen Fest der Philister als Spaßmacher auftreten muss, die Säulen ihres Tempels über ihnen einstürzen lassen.
Der israelische Schriftsteller David Grossman hat die Geschichte von Samson, wie sie im Buch der Richter des Alten Testaments erzählt wird, noch einmal gelesen, Absatz für Absatz, Wort für Wort. Er hat das im Rahmen eines internationalen Projektes getan, bei dem Schriftsteller aus allen Kontinenten alte Mythen neu erzählen (siehe SZ vom 22. November 2005). Aber anders als in Margaret Atwoods fiktiver Autobiographie der Penelope, Jeanette Wintersons Doppelporträt von Herakles und Atlas oder Viktor Pelewins Capriccio über Theseus im Datenlabyrinth zieht sich in Grossmans Buch die Neudeutung des alten Mythos ganz in den Kommentar zurück. Aber dieser Kommentar hat es in sich.
Grossman hat seinen Essay von Herbst 2002 bis Januar 2003 geschrieben, vor dem Hintergrund der zweiten Intifada. In seine Samson-Lektüre hat er Momentaufnahmen aus der Gegenwart montiert. Samson stammt aus dem „Krisengebiet” der Ebene von Judäa nahe der „Demarkationslinie” zwischen Israeliten und Philistern. Seinen nicht-israelischen Lesern erläutert Grossman, jedes jüdische Kind lerne Samson mit dem Beinamen „der Held” kennen, Kampftruppen der israelischen Armee seien nach ihm benannt, etwa die Füchse Samsons im Unabhängigkeitskrieg 1948, oder die Einheit Samson während der ersten Intifada. Vor der Folie des unwiderstehlichen Kriegers sucht Grossman hartnäckig nach dem schwachen Samson.
In den Helden der Mythen verborgene Schwächen zu entdecken ist ein Grundmotiv der modernen Literatur. Nie sind dabei die neu entdeckten Schwächen mit den alten identisch. So auch hier: nicht sein Haar ist bei Grossman Samsons Schwachstelle, sondern seine Anfälligkeit für den Verrat, ja, das Einverständnis mit dem Verratenwerden. Inspiriert von der Psychoanalyse, lokalisiert Grossman in der Geburtskonstellation Samsons, in der Spannung zwischen dem schwachen Vater und der vom Engel Gottes überraschten Mutter, der Unfruchtbaren, die einen Auserwählten zu gebären hat, den Ursprung von Samsons Fremdheit in der Welt.
Aber mit dieser Übersetzung des alten Mythos in eine moderne Mythologie bescheidet er sich zum Glück nicht. Das Geplänkel mit Samsons Eltern bereitet lediglich den Generalangriff gegen den alten, starken Samson vor. Grossman liest den Bibeltext so, wie einst Camus den Mythos von Sisyphos las, als Rehabilitierung eines Opfers gegen die Macht seines Gottes. Wir müssen uns, sagt er, Samson als einen unglücklichen Menschen vorstellen. Seine Schwäche war die ihm aufgelegte Stärke, der er nicht gewachsen war. Darum ist die Szene, als er aus dem Skelett des Löwen, den er zerrissen hat, mit bloßen Händen den Honig schöpft und zu seinen Eltern trägt, die Schlüsselszene der Geschichte. Hier und nur hier schmeckt er im Honig die Süße des Lebens, genießt sie mit der Unbedenklichkeit eines glücklichen Kindes.
Bibliotheken im Rücken, Bilder von Rembrandt und van Dyck vor Augen, den babylonischen Talmud zur Hand, ringt Grossman mit dem biblischen Text, um ihm eine Geschichte abzugewinnen, die gegen Gott spricht. Eine literarische Spielerei ist das nicht. Denn das wir uns Samson als einen unglücklichen Menschen vorstellen müssen, heißt in diesem klugen, spannungsreichen Essay zugleich und vor allem: Es ist ein schreckliches Schicksal, von Gott auserwählt zu sein. „Ich will sterben mit den Philistern”, ist Samsons letzter Satz. „Dass es mehr Tote waren, die er durch seinen Tod tötete, als die er zu seinen Lebzeiten getötet hatte", hält der biblische Text fest, nachdem Samson die Säulen der Philister zum Einsturz gebracht hat.
Bei Grossman wird Samson, der den Philistern Rätsel aufgibt, der sich selbst nicht begreift und der durch sein Erwähltsein zum unheimlichen Rätsel für seine Umwelt wird, zur Figur einer doppelten Frage: Wie geht Israel mit seiner physischen Überlegenheit und wie geht es mit seinem metaphysischen Erbe um? Und gehört zum Schicksal, das Gott Samson bereitet hat, nicht auch, „dass er in gewisser Weise der erste Selbstmordattentäter war?”
David Grossman
Löwenhonig
Die Geschichte von Samson. Aus dem Hebräischen von Vera Loos und Naomi Nir-Bleimling. Berlin Verlag, Berlin 2006. 128 Seiten, 16 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Für ein internationales Projekt, bei dem Schriftsteller "alte Mythen neu erzählen", hat David Grossman sich die biblische Geschichte von Samson vorgenommen, teilt Lothar Müller mit. Bei dem israelischen Autor beschränkt sich im Gegensatz zu Versuchen anderer Schriftsteller die "Neudeutung" ganz auf den "Kommentar", stellt der Rezensent fest, und er weist darauf hin, dass Grossman seine Samson-Interpretation, die er zwischen 2002 und 2003, der Zeit der zweiten Intifada geschrieben hat, in Bezug zum aktuellen palästinensisch-israelischen Konflikt setzt. Aus der Sicht des Autors ist Samson ein durch seine Erwähltheit "unglücklicher Mensch", dessen "Schwäche" gerade in seiner Stärke liegt, erklärt Müller. Er glaubt, dass es Grossman darum geht, dem Mythos eine "Geschichte abzugewinnen, die gegen Gott spricht" und er lobt diesen Essay nachdrücklich als "klugen, spannungsreichen" Text.

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