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Produktdetails
  • Verlag: Berlin Verlag
  • Originaltitel: Podlinnaja istorija 'Seljonych musykantow
  • Seitenzahl: 381
  • Deutsch
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 588g
  • ISBN-13: 9783827003010
  • ISBN-10: 3827003016
  • Artikelnr.: 24522716
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.02.2000

Hauptsache Fußnoten
Jewgeni Popows „Wahre Geschichte der Grünen Musikanten”
„In einer grässlichen, aber sehr abwechslungsreichen Zeit haben wir gelebt, Genossen!” Das war damals . . . Damals ist ein häufiges Wort in Jewgeni Popows neuem Roman. Damals meint die sechziger und siebziger Jahre der Sowjetära, als die Kunst noch nach Subversion roch und die Künstler illegale Schriften im Samizdat herausgaben, in Moskauer Küchen philosophierten und Saufgelage veranstalteten.
Von diesem „damals” erzählt Popow gleich zweimal: in der Künstlerbiografie des Schriftstellers Iwan Iwanytsch und in den Fußnoten zu dieser Biografie. Dabei dient der Roman, der knapp 70 Seiten umfasst, nur als Ausgangspunkt für die eigentliche Geschichte, die sich in den Fußnoten entfaltet. Der Roman selbst handelt vom Leben und Lieben Iwan Iwanytschs, der die Schriftstellerei nach erfolgreichen, wenngleich unbeholfenen Versuchen an den Nagel hängt und schließlich eine ganz andere (bessere?) Karriere macht; zum Schluss ist er „Mitglied zahlreicher ständiger und zeitweiliger Kommissionen, begabter Wirtschaftsführer, Deputierter”. Es ist eine banale Geschichte; der Held schreibt, verliebt sich, trennt sich, hat unter Drogeneinfluss eine Vision, hört auf zu schreiben, heiratet, macht Karriere.
In guter Gesellschaft
Um die Wörter, Sätze und Namen im Roman gruppieren sich die 888 Fußnoten, die den eigentlichen Text bilden. Darin tummeln sich die Hauptfiguren des Moskauer Underground, die Literaturbürokratie und, vor allem, Popow, der seine Biografie dem Alter ego Iwan Iwanytsch und den Fußnoten einschreibt. Und wenn es im Kommentar einmal heißt: „Ausnahmslos alles, was ich schreibe, ist erfunden”, so steht an anderer Stelle das Gegenteil : „Ich habe in Iwan Iwanytsch praktisch mich selbst beschrieben. ” Ständig geraten Fakten und Fiktionen durcheinander, die Biografien von Autor und Held überkreuzen sich – so ist Iwan Iwanytschs Geliebte und spätere Ehefrau Milka, „aufgeblüht zur Schönheit, mit Ringellöckchen und goldenen Ohrringen”, einer von Popows Ehefrauen zum Verwechseln ähnlich, wie der Autor verblüfft in einer Anmerkung bekundet.
Mit dem aufgeblähten Kommentar, der sich dem Romantext aufpfropft und den Akt des Kommentierens in den Mittelpunkt rückt, befindet Popow sich in guter Gesellschaft. Da ist natürlich Nabokovs Roman Fahles Feuer, der die Verselbständigung des Kommentars vom literarischen Text vorführt. Im Moskauer Konzeptualismus ist der Kommentar gar zu einer dominanten Gattung avanciert; er verlängert den literarischen Text so weit, dass im Extrem nur der Kommentar stehen bleibt. Der Tod des Romans, den Vladimir Sorokin in Roman beschworen hat, mündet in der Auferstehung des Kommentars, wie bei den Medizinischen Hermeneuten, die oft ganz auf den literarischen Text verzichten und den Kommentar als diskursive Praxis einsetzen. Popow greift diese Kommentar-Manie auf. Dabei vermischt sich ein ernst gemeinter Anspruch, die „grässliche, aber sehr abwechslungsreiche Zeit” abzubilden, mit der Selbstparodie auf das Kommentieren. Indem die Kommentare überflüssig sind oder manchmal auch gar keine Information enthalten (so die Fußnote, die zum Kommentar „No comment” führt), produzieren sie eher Luftblasen anstatt etwas zu erklären.
Dabei kommen die Anmerkungen so unterhaltsam daher, dass man bald das Gefühl hat, mit Popow in seiner Moskauer Küche zu sitzen und über die guten alten Zeiten zu schwadronieren. Der Roman über Iwan Iwanytsch liefert ihm die Stichworte für Anekdötchen, so zum Beispiel, als er darüber sinniert, ob Ilya Kabakov nicht Lust hätte, einen Text Iwan Iwanytschs zu illustrieren und sich dabei länger beim Thema „Kabakov” aufhält: „Kein übler Text, nebenbei bemerkt. Durchaus auch postmodernistisch zu nennen. So etwas sähe man noch heute ohne jede Peinlichkeit gern gedruckt, illustriert zum Beispiel von Ilya Kabakov. Freilich, Iljuscha ist der Ruhm zu Kopf gestiegen, er wird wohl keinen Bock darauf haben, die Ausstattung von Iwan Iwanytschs Erzählung Ein gewissenloser Kerl zu übernehmen, wo er doch heute, statt auf seinem Moskauer Dachboden zu sitzen und darauf zu warten, dass der KGB anrückt, um seine Bilder auf die Müllkippe zu schaffen, auf vertrautem Fuße verkehrt mit den Mächtigen dieser Welt, die so klangvolle Namen tragen wie Wassily Kandinsky, Otto Dix, Alexander Rodtschenko, Kurt Schwitters, Jasper Johns, Jackson Pollock, Andy Warhol u. a.”
Der Roman selbst, dessen Ton bewusst stilisiert ist und Iwan Iwanytschs literarischen Stil imitiert, scheint im wesentlichen eine Funktion zu haben: Dem Autor den Weg in den Text zu ebnen. Durch die Verbindung von Roman und Kommentar steht der Name „Jewgeni Popow” für den Autor, den Leser und die Hauptfigur zugleich. Als Autor produziert er den Kommentar, als Leser kommentiert er den Roman, und als Hauptfigur geistert er durch dieses Textwirrwarr, mal als Jewgeni Popow selbst, mal als sein Alter ego Iwan Iwanytsch. Damit ist der Autor zugleich Täter und Opfer des Textes, der sich ab und an zu verselbstständigen scheint. Wie wenn ein Satz des Romans („Es lässt sich schlecht verhehlen – in seiner Jugend hat er viel gesündigt, unser Iwan Iwanytsch, und zwar mit niemandem anderem als mit der russischen Literatur”) mit folgender Fußnote versehen ist: „Das muss man wohl als neuerlichen plumpen Versuch ansehen, dem erzählerischen Duktus Lockerheit zu verleihen. ” Wer versucht hier? Der Text? Der Autor? Der Held?
Und die Grünen Musikanten? Welche Bewandtnis hat es mit denen? Das kann man in Fußnote 590 nachlesen: „Kommentieren oder nicht kommentieren? Die Verlockung ist groß, doch ich lasse es. ”
SCHAMMA SCHAHADAT
JEWGENI POPOW: Die wahre Geschichte der Grünen Musikanten. Aus dem Russischen von Alfred Frank. Berlin Verlag, Berlin 1999. 382 Seiten, 44 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.11.1999

Müllsammler des Bewusstseins
Plaudern, zechen, raufen: Jewgeni Popows grüne Musikanten

In der Spätphase der Sowjetzivilisation verlieh die postmoderne Muse der russischen Soz-Art der sich auflösenden Gesellschaft eine Stimme, welche in den Werken des Künstlers Ilja Kabakow am herzzerreißendsten klang. Kabakows Müllinstallationen überhäuften die psychotische Grundsituation einer verhinderten Künstlerfigur mit einer Flut fiktiver Kommentare, die in ihrer End- und Ratlosigkeit zur monumentalen, unartikulierten Klage vom Leben beleidigter Namenloser gerinnt. Vor fünfundzwanzig Jahren, in derselben Epoche, ist auch der jetzt in deutscher Übersetzung erschienene Text von Jewgeni Popow entstanden, der unter der irreführenden Bezeichnung "Roman" eine kurze Erzählung mit mehr als dreihundert Seiten Anmerkungen versieht und gewissermaßen die Kabakow-Struktur der endlosen Selbstkommentare in die Literatur zu übersetzen versucht.

Ganz im Stil der Soz-Art ist die Basis-Erzählung als betont dürftiges Machwerk sowjetischer Schulprosa gehalten. Popow besingt die Karriere des Sowjetbürokraten Iwan Iwanytsch, der nach gefährlichen Anfechtungen durch die Dämonen der Boheme doch noch auf den Tugendpfad zurückfindet. Nachdem der angehende Ingenieur in einem Provinzblatt ein stark redigiertes Erzeugnis seiner eher hölzernen Muse veröffentlichen konnte, wird die Literatur für ihn zu einer Art Sucht, die allerdings weniger Texte hervorbringt, als vielmehr den Helden auf der Suche nach heftigen Eindrücken vor allem in alkoholische und andere Exzesse hineinzieht. Doch nach einer Marihuana-Zigarette kommt Iwan Iwanytsch die Erleuchtung. Er hat eine Vision vom sowjetischen Literaturbetrieb.

Die Erfolgsleiter besteht aus Seilen, auf denen die Wortkünstler balancieren. Je höher sie kommen, desto dicker und bequemer werden die Seile, doch wer abstürzt, landet in einem Fäkalienmeer, von dem aus er seine Kletterpartie von neuem beginnen muss. Die wahren Literaten jedoch sind, von Schmutz umfangen, zu einem so verzweifelten Kampf um Ausdruck und gegen die eigene Stummheit verurteilt, dass der Held von seiner Schriftstellerleidenschaft ein für alle Mal geheilt ist.

Popows Geschichte lässt sich lesen als Lobpreis jener faustischer Naturen, welche nach einem menschlichen Reifeprozess die Wortkunst mit ihrer ungenügenden Begabung verschonen. In ihr scheint die resigniert ironische Abrechnung mit der gegen das Offiziöse rebellierenden Literatur der Sowjetepoche enthalten, der Popow selber angehörte. Der Schwall von Fußnoten freilich, die sich beinahe an jeden Satz, manchmal an jedes einzelne Wort hängen, entfaltet eine Art Enzyklopädie des spätsowjetischen literarischen Lebens mit burlesken Anekdoten aus diversen Schriftstellerbiographien, Erläuterungen der spezifisch sowjetischen Bedrängnisse in postsowjetischer Zeit oder einfach Assoziationen zu Dingen und Worten, die in ihrer Beliebigkeit einer Bewusstseinsmüllsammlung gleichkommen. Doch der ironische Plauderton, mit welchem Popow die Zechgelage, die Lebenslügen, die Raufereien mit der Staatsmacht seiner Literatengeneration ausbreitet, verdichtet sich nirgends zu einem Bild absurder Komik oder Verzweiflung, sondern erstaunt nur durch die belanglose Wortflut, mit welcher er endlose Seiten füllt. So verkehren sich Popows "grüne Musikanten", die den Beweis erbringen, dass die soz-artistische Autokommentartechnik für die Literatur nicht taugt, in eine Mahnung an den Autor, es dem Helden seiner Erzählung gleichzutun.

KERSTIN HOLM

Jewgeni Popow: "Die wahre Geschichte der grünen Musikanten". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Alfred Frank. Berlin Verlag, Berlin 1999. 380 Seiten, geb., 44,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Rezensent Gregor Ziolkowski fordert sich und die Leser seiner Rezension heraus: Gleich im ersten Satz macht er klar, was für ein "seltsames Konvolut`` er besprechen wird: fünfundsechzig Seiten Text, dazu achthundertachtundachtzig (sic) Kommentare auf dreihundert Seiten. Und Ziolkowski macht es hervorragend. Souverän und mit Witz erzählt er die Genese dieses knappen Romans, der die Geschichte eines Untergrund-Schriftstellers auf der Suche nach dem Eigentlichen erzählt und vor einem Vierteljahrhundert in der Sowjetunion nicht erschienen durfte. Nun mit Anmerkungen versehen, ist aus der Erzählung etwas geworden, so Ziolkowski, das eher einem Brigade-Tagebuch des sowjetisch-antisowjetischen Literaturbetriebs gleicht: "Eine Inventur des geistigen Lebens einer ganzen Generation.``

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