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Produktdetails
  • ISBN-13: 9783825702434
  • ISBN-10: 382570243X
  • Artikelnr.: 21596155
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.09.2002

Jesus, Protestant
Agnes Hellers Evangelium
des toleranten Europäers
Jesus von Nazareth war Jude. Der triviale historische Satz birgt religionspolitischen Sprengstoff. Im religiösen Gedächtnis der Christen wird Jesus als Messias erinnert. Am dritten Tag nach seiner Kreuzigung ist er ins österliche Kerygma der christlichen Gemeinde auferstanden. In Wort und Sakrament wird Jesus Christus als heilbringendes Zentralindividuum einer erlösungsbedürftigen Menschheit vergegenwärtigt. Die Juden hingegen haben Jesus aktiv vergessen. In ihrem Gedächtnis ist er weder als Prophet noch als Weisheitslehrer präsent. Zwar schrieben einzelne Vertreter der deutschsprachigen „Wissenschaft des Judentums” unter dem Einfluss der liberalprotestantischen kritischen Exegese im späten 19. Jahrhundert Studien über Jesus, um in protestantischen Begriffen jüdische Identität zu entwerfen. Auch läßt sich seit 1970 ein zunehmendes Interesse jüdischer Gelehrter an der Jesus-Überlieferung beobachten. Analytiker des jüdischen Gedächtnisses betonen jedoch, dass die professionelle Geschichtsschreibung niemals die Kraft habe, eine neue religiöse Memorialkultur zu stiften. So will Yosef Hayim Yerushalmi in „Zachor: Erinnere Dich!” zeigen, daß zwischen der kritischen Erinnerungsarbeit der Historiker und der rituellen memoria eine unüberwindliche Kluft besteht. Genau diese Kluft will Agnes Heller mit glaubensernster Entschiedenheit überbrücken. Sie will eine zweite Auferstehung des Gekreuzigten: die Auferstehung des letzten charismatischen Propheten Israels ins kollektive Gedächtnis der Juden.
Welchen Jesus sollen die Juden sich endlich vergegenwärtigen? Heller lehnt die moderne historisch-kritische Bibelwissenschaft mit dem Argument ab, ein Omelett lasse sich nicht mehr essen, wenn man es in seine Bestandteile zerlegt habe. In postkritischer Unmittelbarkeit will sie einen existentiellen Zugang zur Jesus-Überlieferung finden. In ihrer Relecture der alten Texte entdeckt sie aber nur einen Jesus, der theologiehistorisch Gebildeten längst bekannt ist: In Hellers jüdischem Jesus kehrt der Individualitätsrepräsentant des Kulturprotestantismus um 1900 zurück.
Der jüngste der Propheten
Die Philosophin betont die tiefe Differenz zwischen der Welt des „Alten Testaments” und dem „normativen Judaismus”, der sich durch strikte Einhaltung der Tora definierte. Christentum und normatives Judentum entstanden parallel und schrieben jeweils die Hebräische Bibel weiter. Sie unterschieden sich aber bezüglich der Deutung Jesu. Dem christlichen Gottessohn setzt Heller einen metaphysikfreien „Jesus der Lehre” entgegen, der keine neue Religion gründen, sondern wie die Propheten vor ihm altisraelitische Tradition kritisch neu deuten wollte. Er radikalisierte das Gesetz, spiritualisierte es aus einer lebensfeindlich abstrakten Rechtssatzung zur moralischen Gesinnungsbotschaft und rief zur Umkehr auf, weil das Gottesreich nahe herbeigekommen sei. Diesen Bußruf deutet Heller als religiös intensivierte Selbstreflexion des Individuums, das in seiner Seele zu rational reflexiver Selbstdistanz und Empathie fähig werden soll. Nächstenliebe sei „soziale Sensibilität” gegenüber Marginalisierten. Jesu „Religiosität des Herzens” führe dank ihres „eschatologischen Individualismus” zur Hochschätzung jedes einzelnen als eines unverwechselbaren Geschöpfes Gottes.
Bis in die Bilder hinein läßt sich eine Heller selbst nicht bewußte Aufnahme der Jesulogie in Adolf von Harnacks „Wesen des Christentums” beobachten. Aufgrund ihrer ihrer Unkenntnis der Jesus-Debatten des 19. Jahrhunderts sind Heller diese Vermittlungszusammenhänge nirgends präsent. Ihr Buch gegen das Vergessen zeugt in weiten Passagen von diskurshistorischer Amnesie.
In polytheistischen Religionskulturen können die Menschen promiskuitiv leben und mit vielen Göttern gleichzeitig verkehren. Monotheistische Religionen institutionalisieren im Glauben an den einen Gott demgegenüber scharfe Grenzen zwischen wahrer Gottesverehrung und falscher, heidnischer Religion. Aufgrund ihrer gemeinsamen Herkunft aus der intoleranten Religion Altisraels traten sowohl das normative Judentum als auch die Christen mit einem Absolutheitsanspruch auf. Sind Judentum und Christentum deshalb einander kontradiktorisch entgegengesetzt? Heller hofft auf besseres Verständnis durch gemeinsame Erinnerungsarbeit an alten Texten. Der jüdische Jesus sei für ein Europa der Toleranz unverzichtbar.
Selbst in der Skizze einer toleranten europäischen „Persönlichkeitsethik” folgt Heller unbewußt den Diskurspfaden des liberalen Protestantismus. Sie will einen dogmatisch exklusiven Wahrheitsbegriff durch eine perspektivisch relative Wahrheit ablösen. Damit erneuert sie das Konzept einer „Polymorphie der Wahrheit”, mit dem der späte Berliner Ernst Troeltsch seine europäische Humanität begründete. Auch für Troeltsch bildete der „hebräische Prophetismus” einschließlich des Juden Jesus ein konstitutives Element des sich selbst begrenzenden toleranzfähigen Europäismus. Heller sieht dies nicht, weil sie jeder wissenschaftshistorischen Reflexivität entbehrt. Die Rezepte für ihr postkritisches Jesus-Omelett stammen aus protestantischen Kochbüchern von 1900. Heller jedoch preist ihre fromme Speise sinnhungrigen Juden als omelette surprise an.
FRIEDRICH WILHELM GRAF
AGNES HELLER: Die Auferstehung des jüdischen Jesus. Aus dem Ungarischen von Christina Kunze. Philo Verlag, Berlin 2002. 118 Seiten, 14, 90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Erstaunlich lange, stimmt Jan-Heiner Tück in seiner Rezension der Autorin zu, hat das Christentum die Tatsache verdrängt, dass Jesus Jude war - wie umgekehrt das Judentum Jesus als christlichen Messias niemals anerkennen konnte. Erst im 20. Jahrhundert haben Forscher beider Seiten das "Judesein Jesu" wieder in den Blickpunkt gerückt. Und nur von diesem Ausgangspunkt aus, meint Heller, ist wahre Ökumene vorstellbar. Sie wendet sich dabei, so Tück, vor allem gegen eine "Relativierung der religiösen Wahrheitsansprüche" und wirbt für eine "Hermeneutik der Anerkennung", die der Intoleranz entgegenarbeitet. Der Rezensent stimmt ihr darin ganz ausdrücklich zu.

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