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Der Sammelband geht in gleichermaßen interdisziplinärer wie interkultureller Perspektive der Frage nach, welche künstlerischen Reaktionen die Terroranschläge vom 11. September 2001 hervorgerufen haben: Wie wurde das die Weltöffentlichkeit erschütternde Ereignis visualisiert, wie inszeniert und literarisiert? In Beiträgen zur amerikanischen und deutschen Literatur, zu Theateraufführungen, Dokumentar- und Spielfilmen, zur Popmusik und zu bildkünstlerischen Werken werden (Re)Konstruktionen, Deutungen und Funktionalisierungen von 'Nine Eleven' analysiert, an denen sich über die Geltung als…mehr

Produktbeschreibung
Der Sammelband geht in gleichermaßen interdisziplinärer wie interkultureller Perspektive der Frage nach, welche künstlerischen Reaktionen die Terroranschläge vom 11. September 2001 hervorgerufen haben: Wie wurde das die Weltöffentlichkeit erschütternde Ereignis visualisiert, wie inszeniert und literarisiert? In Beiträgen zur amerikanischen und deutschen Literatur, zu Theateraufführungen, Dokumentar- und Spielfilmen, zur Popmusik und zu bildkünstlerischen Werken werden (Re)Konstruktionen, Deutungen und Funktionalisierungen von 'Nine Eleven' analysiert, an denen sich über die Geltung als Einzelfälle hinaus die zentralen Muster der ästhetischen Auseinandersetzung mit dem Schreckensszenario, seinen Voraussetzungen und Folgen zeigen.
Autorenporträt
Dr. Ingo Irsigler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien der Universität zu Kiel. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Literatur und Zeitgeschichte, Gegenwartsliteratur, Literatursoziologie.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2008

Der Fall der Menschen

Wenn Medien und Realität unter Schock stehen: Ein hellsichtiger Band bündelt sieben Jahre nach der Attacke die "Ästhetischen Verarbeitungen des 11. September 2001".

Zu den schockierendsten Bildern des 11. September 2001 gehört das vom "Falling Man". Der Fotograf Richard Drew hielt um 9.41 Uhr Ortszeit den Sturz eines Mannes fest, der kopfüber und vollkommen senkrecht, mit an den Körper angelegten Armen und einem angewinkelten Bein an der Fassade des Nordturms entlang zu Boden raste. Als die Aufnahme einen Tag nach der Katastrophe um die Welt ging, galt sie vielen als obszön. Doch während vor allem die amerikanische Öffentlichkeit solche moralischen Fragen diskutierte, schob sich eine andere an diesem Foto zu machende Beobachtung in den Vordergrund. Das Bild diente nicht nur einem globalen Medienvoyeurismus als Vorlage, es war zudem von einer nicht zu leugnenden ästhetischen Qualität. Es galt als "art shot", in Art und Aussage einzig vergleichbar mit Robert Capras Foto vom "Falling Soldier" aus dem Spanischen Bürgerkrieg.

Von Anfang an war klar, dass die Ereignisse von Manhattan eine eigene medienästhetische Dimension aufwiesen. Hinter der kühlen wissenschaftlichen Analyse dieser Prozesse bis hin zu Karl-heinz Stockhausens berüchtigter Aussage, das Verbrechen der Terroristen sei "das größte Kunstwerk überhaupt, für den ganzen Kosmos", die für viel Entrüstung sorgte, stand die Dimension einer ästhetischen Eigenständigkeit der Bilder.

Es liegt auf der Hand, dass sich eine künstlerische Verarbeitung von 9/11 der Komplexität des Zusammenhangs von Katastrophe und medialer Präsentation zu stellen hat. Das Zeitalter der Simulationen, mit denen uns die Postmoderne in Atem gehalten hatte, schien gerade dadurch überwunden, dass die Wirklichkeit der Katastrophe wie eine Aufbereitung cineastischer Modelle erschien: Katastrophenfilme wurden erfahrbar. Das Reale trat in die Ebene der medialen Hyperfiktionalität ein. Das Unheimliche war, dass am 11. September Fiktion und Wirklichkeit eine neue, kompakte und durch die Reflexion scheinbar nicht mehr erreichbare Einheit bildeten.

So ist es höchst interessant zu sehen, wie sich die "ästhetische Verarbeitung des 11. September 2001" sieben Jahre später gestaltet. Das von Ingo Irsigler und Christoph Jürgensen nun dazu herausgegebene Buch versammelt Aufsätze aus unterschiedlichen Fachrichtungen, die sich in die drei Komponenten Literarisierung, Inszenierungen und Visualisierungen einteilen lassen. Gerade auf dem Gebiet der Literatur ergeben sich erhebliche Probleme. Der bis heute peinlich wirkende SMS-Austausch zwischen Barbara Bongartz und Alban Nikolai Herbst, den diese für die Zeitschrift "Schreibheft" zu einem "Roman in Briefen" hochstilisierten, dokumentiert vor allem die Hilflosigkeit der Schreibenden. Da scheint die skeptische Haltung eines Durs Grünbein angesichts des eigenen Sprechens doch weitaus angemessener. Grünbeins Vorliebe für eine bildungsgesättigte Metaphorik und seine jederzeit ungebrochene Sprachmächtigkeit kontrastieren bereits im Tagebuch merkwürdig mit seiner Skepsis; noch mehr gilt dies für seine "Septembersonette".

Andrea Payk-Heitmann verdeutlicht am Beispiel der 9/11-Tagebücher von Max Goldt, dass für die typische selbstverliebte Ironie der Kinder der Spaßgesellschaft urplötzlich kein Platz mehr war. Wenn sich nach Nietzsches Wort das Signum einer Epoche daran festmachen lässt, worüber auf keinen Fall gelacht werden darf, dann bedeuteten die Anschläge von New York tatsächlich den Anbruch einer neuen Zeit. Auch wer allzu schnell und geschäftig das Ereignis in die Fiktion erhob wie der Franzose Frédéric Beigbeder mit seinem Roman "Windows on the world", verfiel zunächst dem Verdikt moralischer Leichtfertigkeit und eitler Profilierungssucht.

Trotz der grundlegenden Probleme der Darstellbarkeit wurde der 11. September zu einem beherrschenden Thema praktisch aller Künste. Der Band sichtet die Verarbeitung in deutschen und amerikanischen Gedichten (Peer Trilcke) ebenso wie in der Popmusik (Sascha Seiler) und im deutschsprachigen wie im amerikanischen Drama. Nimmt man zu den Dramatisierungen auch die Film- und Fernsehproduktionen hinzu, ist festzustellen, dass die deutsche Arbeit an der Katastrophe explizit andere Konturen aufweist als die amerikanische. Gegenüber einer genuin politischen Perspektive einer Nation, die sich im "war on terror" sieht, ist die Fiktionalisierung in Europa stärker auf medial bestimmte Fragen der Wahrnehmung und auf die globalpolitische Seite des Krieges gegen den Terror gerichtet.

Christer Petersen liefert die "Skizze einer Mediengeschichte des 11. September". Ausgehend von nicht gerade taufrischen Theoriemodellen, nämlich Luhmanns "Realität der Massenmedien", Baudrillards Thesen zur Simulation und Guy Debords Analysen zur "Gesellschaft des Spektakels", entwirft Petersen eine differenzierte Kritik der Diskurse um den 11. September, die letztlich nicht von der Tatsache einer durch die Medien allererst konstruierten Realität zu trennen seien.

Das doppelte Selbstmordmotiv stellt das heikelste Problem in der medialen Präsentation und der auf ihrer Grundlage einsetzenden Diskussion dar: Es bezieht sich auf den politischen Suizid der Terroristen, mehr aber noch auf die "WTC-Jumpers". Dass man in den Vereinigten Staaten allen Ernstes eine Debatte über die ethische Relevanz dieser schon fast nicht mehr als Selbstmorde zu bezeichnenden Verzweiflungstaten angestrengt hat und sie in den Rahmen von Fragen nach Mut, Heldentum und Feigheit stellte, verschlägt einem fast die Sprache. Doch in der "auf Krieg und Rache ausgerichteten Ikonographisierung war kein Platz für die Bilder, die am eindringlichsten den Schrecken jenes Tages abbildeten". Stattdessen wurde eine Wand aus Retterfiguren aufgebaut, "die das Bild eine Nation zu zeichnen wussten, die sich umgehend der Bedrohung stellt" (Jan Tilman Schwab).

Das Geschehen von 9/11 ist jedenfalls noch längst nicht auf der Ebene des Gedächtnisses angekommen. Vielleicht hat die Epoche, für die es seither als Allegorie des Grauens steht, überhaupt erst begonnen.

CHRISTIAN SCHÄRF

"Nine Eleven". Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001. Hrsg. von Ingo Irsigler und Christoph Jürgensen. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2008. 410 S., geb., 35,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ganz und gar nicht gestrig erscheinen dem Rezensenten die Ereignisse vom 11. September 2001. Der von Ingo Irsigler und Christoph Jürgensen herausgegebene Sammelband veranlasst Christian Schärf sogar zu der Annahme, dass die von 9/11 geprägte Epoche erst begonnen hat. Schärf konstatiert die "ästhetische Eigenständigkeit der Bilder" von 9/11 und die Verbindung von Katastrophe und medialer Präsentation im Hinblick auf jede künstlerische Verarbeitung. Die mit dem Abstand von sieben Jahren entstandenen Aufsätze zur Literarisierung und Visualisierung des Geschehenen liest er mit entsprechendem Interesse. Die Beiträge lassen ihn die Schwierigkeiten literarischer Ansätze zwischen moralischer Leichtfertigkeit und Profilierungssucht erkennen sowie die Unterschiede zwischen amerikanischer (politischer) und europäischer (medialer, globalpolitischer) Perspektive. Allerdings findet er die (so von Christer Petersen) zwecks Diskurskritik herangezogenen Thoeriemodelle von Baudrillard bis Luhmann nicht eben aktuell.

© Perlentaucher Medien GmbH