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"Radioactivity is in the air for you and me" Kraftwerk Merle Hilbks faszinierende Reportage über ihre Reisen durch die Tschernobyl-Region und ihre Begegnung mit der jungen Mascha, die dort im Jahr der Katastrophe geboren wurde und erst jetzt begreift, woher sie kommt. Dass in den Dörfern rund um Tschernobyl noch einige ältere Menschen leben, okay. Aber jung sein am Rand einer schwer bewachten Sperrzone' Mascha und ihre Freunde nehmen es cool: Sie treffen sich am Wochenende in der Kolchose-Disco, cruisen in der Abenddämmerung mit ihrem alten Benz durch die kahle Landschaft und hören…mehr

Produktbeschreibung
"Radioactivity is in the air for you and me" Kraftwerk Merle Hilbks faszinierende Reportage über ihre Reisen durch die Tschernobyl-Region und ihre Begegnung mit der jungen Mascha, die dort im Jahr der Katastrophe geboren wurde und erst jetzt begreift, woher sie kommt. Dass in den Dörfern rund um Tschernobyl noch einige ältere Menschen leben, okay. Aber jung sein am Rand einer schwer bewachten Sperrzone' Mascha und ihre Freunde nehmen es cool: Sie treffen sich am Wochenende in der Kolchose-Disco, cruisen in der Abenddämmerung mit ihrem alten Benz durch die kahle Landschaft und hören Kraftwerk-Songs. Sie gehören zur Generation der Tschernobyl-Babys, wie man in Weißrussland sagt, der GAU war für sie lange Zeit nur eine Art Naturkatastrophe aus der Vergangenheit, im Jahr ihrer Geburt.Ganz anders die Deutschen, die Mascha seit Anfang der 90er Jahre zu "Erholungsaufenthalten" nach Köln eingeladen haben: Sie diskutieren über den Cäsiumgehalt von Champignons, ketten sich an Kraftwerkstore und die Gastfamilie verbrennt Maschas vermeintlich strahlende Kleider. Auf den Spuren einer deutsch-russischen Familienfreundschaft erzählt Merle Hilbk die Geschichte vom Erwachsenwerden mit Tschernobyl aus zwei Perspektiven, Ost und West, und eröffnet dabei einen völlig neuen Blickwinkel auf die politischen Umwälzungen der letzten 25 Jahre.
Autorenporträt
Merle Hilbk, Jahrgang 1969, ist nach Jurastudium und Redakteurstätigkeit bei "Spiegel" und "Zeit" als freie Journalistin in Rußland und Zentralasien tätig sowie als Dozentin an der Hamburg Media School. Von 1999 bis 2004 bereiste sie im Auftrag von "Zeit" und "Geo" Korea, die Mongolei und Kasachstan. 2001 arbeitete sie in Peking als Gastreporterin bei einer chinesischen Parteizeitung. Mit einem Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung reiste sie im Sommer 2004 dreieinhalb Monate durch Sibirien.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.03.2011

Tschernobyl
Der GAU, verleugnet und
verdrängt: Merle Hilbks Reportage
Freiwillig in die verstrahlte Sperrzone um Tschernobyl zu fahren, ist aberwitzig. Und doch gibt es den Sog. Heimweh kann es sein und Not, Forscher kommen, Gottessucher oder Abenteurer. Auch Menschen aus Mittelasien und dem Kaukasus, die vor Bürgerkriegen flüchteten und hier bescheidene Jobs fanden, trifft die Autorin in verlassenen Holzhäusern, die sie sich herrichteten.
Merle Hilbk erzählt von ihren Reisen durch die Region. Wie alle, denen sie begegnet, hat auch sie ihren ganz eigenen Grund für diese Erkundung: Der GAU weckte sie als 17-Jährige zum politischen Handeln. Tschernobyl wurde ihr Codewort. Sie zählt sich zu einer „Zwischengeneration“, die 1986 aufgewacht sei. Die Panik vor den Strahlen und die Wut gegen die beschwichtigende Politik erlebte sie als eine Energie, die die Gesellschaft veränderte. „Tschernobyl ist ein Teil meiner Biografie“, sagt sie einmal zu der Studentin Mascha, ihrer Begleiterin in Weißrussland. Die zuckt mit den Schultern. Sie kennt längst die Strahlenpanik der Deutschen, war als „Tschernobyl-Kind“ mehrfach bei Familien im Rheinland, und das ist ihre schönste Erinnerung. Doch sie lebt mit dem Reaktorunglück, und das hört für sie nie auf.
Merle Hilbk versteht erst allmählich, warum die Menschen dort Gespräche verweigern, ihre Ängste verdrängen, auch die Trauer um die Toten und Kranken und um die unzähligen „begrabenen“ Dörfer, von denen nur Erdhaufen blieben. Sie finden sich ab, um keine Kraft zu vergeuden. Sie brauchen sie fürs Weiterleben. Dass ihre Regierungen sie belogen haben und sie verlassen wurden – zuerst von der sowjetischen, seit zwanzig Jahren von den Regierungen der Ukraine und Weißrusslands –, ist ein Unrecht, gegen das sie nicht ankommen. Es sei die „Ironie des Schicksals“, sagt jemand, dass ausgerechnet die Deutschen, die im Krieg Weißrussland stark verwüsteten, ihnen durch die Initiative „Kinder von Tschernobyl“ helfen.
Das Buch erzählt, wie im ukrainischen „Raubtierkapitalismus“ die Zone touristisch vermarktet wird, wie in Weißrussland der autoritär regierende Lukaschenko die Verstrahlung eines Drittels des Landes vergessen machen will und wie sich in Deutschland die Protestbewegung vernetzte. Merle Hilbk reist auf geduldige Art, mietet sich bei Familien ein, teilt ihren Alltag, kommt wieder. Sie spricht gut Russisch, und sie hat einen Geigerzähler bei sich. Der hilft ihr, die Abstecher zum Reaktor zu bestehen. Dort aber findet sie nicht den Mythos Tschernobyl, sondern bloß eine Industrieruine, die sie ernüchtert. Umso mehr zieht es sie zu den Geheimnissen der Überlebenden.
Wie denkt Mascha? Sie ist das Tschernobyl-Baby, 1987 geboren. Die Autorin schlüpft im Text mehrfach in ihre Rolle und erzählt aus ihrer Perspektive, lässt einen inneren Monolog abrollen, einen unbefangenen, auch ironischen Bericht. Doch am Ende kommt es zum Zerwürfnis: Missverständnisse, Ungereimtheiten, Vermutungen über Mascha. Ist es dem Geheimdienst, der das Erinnern an den Reaktorunfall unterbinden soll, gelungen, sein Zersetzungsgift in diese Beziehung zu träufeln? Oder ist Mascha ein im Überlebenskampf beschädigtes Wesen ohne Vertrauen zu anderen?
Dieser Text über das Bemühen, die Urkatastrophe Tschernobyl zu verstehen, grenzt zeitlich beinahe an die Katastrophe mit Namen Fukushima. Auf einmal ist der Gedanke da, die Welt könnte ganz und gar von beschädigten Überlebenden bewohnt sein, die nicht begreifen, was ihnen geschah. MARINA ACHENBACH
MERLE HILBK: Tschernobyl Baby. Wie wir lernten, das Atom zu lieben. Eichborn, Frankfurt 2011. 275 S., 17, 95 Euro.
Die Publizistin Marina Achenbach lebt in Berlin.
Die Zone um den Reaktor
wird touristisch vermarktet.
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"Merle Hilbk schreibt sehr klar, sehr direkt. Das Buch ist ein Mix aus Roadtrip und Reportage, viele Verweise auf Musik und Songtexte machen die Erzählung lebhaft und weniger trist." -- Julia Gindl, ORF Ö1 Wissen, 16. März 2011

"Eine lebendige, romanartige Reportage über ein Katastrophengebiet und seine vielen kulturellen Gesichter." -- Tania Greiner, Natur, April 2011

"Tschernobyl ist längst eine Chiffre für die schlimmste Atomkatastrophe vor Fukushima geworden. In Merle Hilbks faszinierender Reportage bekommt diese Chiffre menschliche Gesichter und wird zugleich zur Folie einer politischen Biografie. Absolut lesenswert!" -- existenzielle.de, 25. März 2011

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.07.2011

Vom Sperrbezirk zum Hotspot
Ein Spitzenwerk der Tschernobyl-Literatur: Wie Merle Hilbk im verstrahlten Gebiet ihre Gewissheiten verlor

Das Buch von Merle Hilbk ragt aus der Fülle der diesjährigen Tschernobyl-Titel heraus und verdient es, auch unabhängig von aktuellen politischen Zäsuren gewichtet zu werden. Drei Jahre lang hat die Autorin intensiv recherchiert: auf der weißrussischen Seite des Unglücks, wo das Regime alles daransetzt, um Tschernobyl aus dem kollektiven Gedächtnis zu verbannen; auf der ukrainischen Seite, wo die Sperrzone zum "Hotspot" für Erlebnishungrige aller Art ausgebaut wurde; nicht zuletzt aber auf der deutschen Seite, auf der Tschernobyl für viele ein biographisches Schlüsselerlebnis war, das sie sich nicht so einfach umschreiben lassen wollen.

Die frühere "Spiegel"- und "Zeit"-Redakteurin Hilbk, eine Expertin für das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, ist Jahrgang 1969, gehört also einer Generation an, die den Reaktorunfall in einem Alter höchster Erregbarkeit und in einer Zeit miterlebt hat, in der man hierzulande das Überleben schon für so selbstverständlich hielt, dass man glaubte, sich ausschließlich dem guten Leben widmen zu können.

Die Autorin ringt um "ihr" Tschernobyl - und kann doch nicht verhindern, dass es durch ihre Erfahrungen an Ort und Stelle entmystifiziert wird: Ein Besuch am Reaktor, schreibt sie nicht ohne Enttäuschung, sei "wie ein Besuch im Regierungspräsidium Karlsruhe: unspektakulär". Auf ihren Reisen findet sie viele Menschen, deren Leben durch Tschernobyl auf unterschiedliche Weise geprägt wurde: einen Säufer, der einst im Delirium die Evakuierung verschlief; eine Frau, aus deren Körper die Strahlung ein Monstrum gemacht hat; einen Game-Designer, der mit Tschernobyl-Computerspielen erfolgreich ist.

Oft wird die Journalistin von Mascha begleitet, der 1986 gezeugten deutschsprechenden Tochter des Säufers, die als Fahrerin und Übersetzerin fungiert und aus deren Perspektive mehrere Kapitel des Buchs geschrieben sind. Insbesondere an der Beziehung der beiden ganz unterschiedlichen Frauen zeigt sich, wie sich die Deutsche im Laufe ihrer Recherche von den Objekten ihrer Recherche entfremdet - und umgekehrt.

Das hat natürlich damit zu tun, dass sie dem Verdacht unterliegt, ihr Verhalten sei vornehmlich instrumenteller, gar parasitärer Natur. Einmal regt sich die anämische Mascha, die aus einem angeblich nicht ganz so verstrahlten Dorf kommt, darüber auf, dass sie mit Hilbk in einer weißrussischen Behörde warten musste, um eine Genehmigung für einen Besuch der "Zone" zu bekommen. "Mich nervte allein das ganze Rumsitzen, acht Stunden lang!", sagt Mascha, von der Hilbk bis zuletzt nicht weiß, ob sie nicht für den KGB arbeitet. Die Journalistin dagegen habe es "spannend" gefunden. "Sie wollte erleben, wie schlimm die Bürokratie hier ist. Klar, sie muss sich auch nicht täglich damit herumschlagen!"

Wie sehr das Misstrauen der Einheimischen mit Tschernobyl selbst zu tun hat, lässt sich nur erahnen. Die Katastrophe, die Desinformation durch die Regierung, die Krankheiten und Umsiedlungen haben Familien zerstört, das Vertrauen in staatliche Autoritäten noch mehr erschüttert und den letzten Rest an Zukunftszutrauen zunichtegemacht. "Auf einmal scheint alles fraglich", sagt eine ehrenamtliche Mitarbeiterin einer Selbsthilfeorganisation: "alle Werte, alle Bindungen, das ganze Leben. Die Männer haben gevögelt wie wild, es gab Geschlechtskrankheiten, Abtreibungen, Selbstmorde. Kaum einer hat mehr an seine Familie gedacht."

Das Misstrauen von Hilbk wiederum gründet darauf, dass die Leute trotzdem leben, als sei nichts gewesen. Auch im verstrahlten Gebiet geht es ihnen um Geld, Familie, Spaß, Heimat, Tradition. Ums Angeln und Trinken, mit den Lebenden, den Kranken und den Toten. Für diese Ahnung vom guten Leben nehmen sie in Kauf oder verdrängen, dass ihr Überleben noch immer in Gefahr ist. Wer aus einem Land kommt, in dem manche schon durchdrehen, wenn in der Nähe ihres Hauses ein Handy-Sendemast gebaut werden soll, kann das schwer nachvollziehen.

Die Qualität von Hilbks Buch liegt darin, dass sie den Leser Anteil nehmen lässt an ihren Einsichten, an ihrer Verwirrung, an ihrem Versagen. Dass sie alle Seiten reflektiert und nicht eine Sicht der Dinge über die andere stellt, im Gegenteil: Je länger sie recherchiert, desto unklarer erscheint die Lage. Wer verhält sich richtig, wer falsch? Wir oder die? Wem wollen die Deutschen helfen, wenn sie helfen? Den Opfern von Tschernobyl - oder sich selbst? Wer sind die Aufklärer, wer die Verschweiger? Wer die Fortschrittlichen und wer die Rückständigen? Dass weißrussische Frauen selbst im Sperrgebiet nicht auf Schuhe mit hohen Absätzen verzichten, ist das ein Zeichen von weiblichem Selbstbewusstsein? Oder machen sie sich damit zum "Weibchen", wie Hilbk es Mascha einmal vorwirft? Und ihr ausgeprägter Materialismus, ist der zu verurteilen? Oder hat Mascha nicht gerade den bei ihren Aufenthalten in deutschen Familien gelernt, die reich genug waren, um sich sogar ihren Postmaterialismus leisten zu können? Haben die Weißrussen und Ukrainer uns und unsere Lebensweise nicht verstanden - oder wissen nur wir selbst nicht, wer wir sind?

Nach Lektüre des Buchs weiß man, wieso Tschernobyl für den Westen und für Deutschland im Besonderen zu einem schaurig-mythischen Ort, Foucault hätte gesagt: zu einem Andersort, werden konnte. Tschernobyl ist ein Symbol für das Unsichtbare, mit dem unsere Kultur der Sicht- und Messbarkeit nicht umgehen kann, nicht einmal unter Zuhilfenahme von Geigerzählern, die in Weißrussland bezeichnenderweise nicht zu bekommen sind. Im "Radioökologischen Naturschutzgebiet", wo vor der Tschernobyl-Katastrophe nur die Privilegierten arbeiten durften, gibt es heute Hirsche, Bisons, Wildpferde und die größten Welse der Welt - es ist ein Naturparadies, wie man es in Deutschland so schnell nicht findet. Aber es ist eben alles verstrahlt. Andererseits gibt es Orte in unmittelbarer Umgebung des havarierten Kraftwerks, an denen man, weil die Wolke dort nicht abregnete, weit weniger Strahlung abbekommt als in einem deutschen Computertomographen, der doch eigentlich dafür da ist, dass die Leute gesund werden.

Kurz: Nichts ist so, wie es aussieht oder zu sein scheint - in Tschernobyl nicht und in Deutschland wahrscheinlich auch nicht. Diese Erkenntnis zugelassen, erkämpft, ertragen zu haben ist das größte Verdienst von Merle Hilbks überaus lesenswertem Buch.

TIMO FRASCH

Merle Hilbk: "Tschernobyl Baby". Wie wir lernten, das Atom zu lieben.

Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2011. 280 S., geb., 17,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der 1969 geborenen Journalistin Merle Hilbk scheint mit dieser Reportage ein echtes Kunststück gelungen zu sein. Rezensent Timo Frasch bespricht es jedenfalls mit großer Begeisterung. Hilbk, erzählt er, hat in Weißrussland und der Ukraine recherchiert. Während sie erzählt, reflektiert sie aber auch immer, wie sich der Reaktorunfall damals für eine junge, beeindruckbare Deutsche anfühlte. Und so wird das Buch laut Frasch auch zu einer Auseinandersetzung Hilbks mit den eigenen Ängsten und Vorteilen - und mit ihrer Dolmetscherin und Fahrerin Mascha, die einige Kapitel lang selbst erzählen darf. Mascha, die möglicherweise für den KGB arbeitet, scheint überhaupt kein Verständnis dafür zu haben, dass Spaß und hohe Absätze im Umkreis von Tschernobyl unangemessen.

© Perlentaucher Medien GmbH