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Was wäre passiert, wenn Hans Castorp den Ersten Weltkrieg überlebt hätte? Das Hotel "Waldhaus" im Schweizer Bergdorf Waltenberg ist das magische Zentrum dieses europäischen Schlüsselromans für das 20. Jahrhundert. Erzählt wird in sich überlagernden und durchdringenden Episoden die Geschichte von vier Menschen, die sich in unterschiedlichen Konstellationen begegnen und wieder verlieren: Hans Kappler, Ingenieur und Schriftsteller, der den Ersten Weltkrieg in französischer Gefangenschaft überlebt hat; seine große Liebe, die amerikanische Sängerin Lena Hotspur, die an den unterschiedlichsten Orten…mehr

Produktbeschreibung
Was wäre passiert, wenn Hans Castorp den Ersten Weltkrieg überlebt hätte?
Das Hotel "Waldhaus" im Schweizer Bergdorf Waltenberg ist das magische Zentrum dieses europäischen Schlüsselromans für das 20. Jahrhundert. Erzählt wird in sich überlagernden und durchdringenden Episoden die Geschichte von vier Menschen, die sich in unterschiedlichen Konstellationen begegnen und wieder verlieren: Hans Kappler, Ingenieur und Schriftsteller, der den Ersten Weltkrieg in französischer Gefangenschaft überlebt hat; seine große Liebe, die amerikanische Sängerin Lena Hotspur, die an den unterschiedlichsten Orten und Zeiten ins Rampenlicht tritt und nicht nur Hans Kappler den Kopf verdreht; der französische Journalist Max Goffard, der Hans Kappler im Krieg begegnet und seitdem mit ihm befreundet ist. Und der Meisterspion Michael Lilstein, Kommunist und Auschwitzüberlebender, der nach 1945 für den Aufbau eines ostdeutschen Spionagenetzes verantwortlich ist und mit allen Mitteln verhindern will, dass Hans Kappler nach Ostdeutschland zurückkehrt.
Autorenporträt
Hédi Kaddour ist 1945 in Tunesien geboren und lebt seit seiner Kindheit in Frankreich. Er lebt in Paris.

Grete Osterwald wurde 1947 in Bielefeld geboren und lebt als freie Übersetzerin aus dem Englischen und dem Französischen in Frankfurt am Main. Sie erhielt u. a. 2001 den Übersetzerpreis des Verlages C.H.Beck und 2007 den Wilhelm-Merton-Preis für ihr umfangreiches Gesamtwerk.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.01.2010

Linzer Torte des Jahrhunderts

Die perfekte Mischung aus dem Zauberberg und den drei Musketieren: Hédi Kaddours fulminanter Epochenroman über Europa liegt endlich auf Deutsch vor.

Darauf wäre man als Geschmacksnote für das vergangene Jahrhundert mit seinen Schützengräben, den Lagern Hitlers und Stalins, dem Eisernen Vorhang, dem Kalten, dem Vietnam- und dem beginnenden Afghanistankrieg von selbst nicht gekommen. Linzer Torte. "Riechen Sie diesen Duft nach heißen Äpfeln, dieses leicht Säuerliche, unglaublich Köstliche, das da von fern herüberweht?" - fragt ein Herr aus Ost-Berlin seinen jungen Gast aus Paris in der Dorfkonditorei des Schweizer Kurorts Waltenberg vor dem Prachthintergrund des Bündner Alpenmassivs. Der Ost-Berliner, Michael Lilstein mit Namen und Meisterspion von Beruf, hält es ohne diesen Duft nicht länger als ein paar Monate aus. Dann treibt es ihn wieder hinauf ins Graubündische. So an diesem Dezembernachmittag 1956, wo er beim Tee den kommunistischen Franzosen für eine Geheimmission zu gewinnen sucht. "Ein Pakt? Nein, kein Pakt", versichert er: Es sei nur ein Angebot, das erlaube, nach der Sauerei jenes Jahres in Budapest aus der Partei auszutreten und irgendwie doch seiner revolutionären Seele die Treue zu halten.

Waltenberg ist in diesem Roman Kulisse, geheimer Begegnungsort, Schaltzentrale, Seelenlandschaft eines Jahrhundertgefühls, das fast noch das unsere ist. Am Vormittag jenes Dezembertags hatte Lilstein im großen Saal des Hotels "Waldhaus" auch noch ein anderes Treffen. Er wollte den Erfolgsschriftsteller Hans Kappler davon abbringen, von West- nach Ostdeutschland überzusiedeln. Die beiden kennen einander seit langem, sind sich auch durch die bewegte Beziehung zur amerikanischen Sängerin Lena Hotspur verbunden und waren schon 1929 zusammen in Waltenberg, beim berühmten Treffen, wo unter Einfluss des Freiburger Seins-Philosophen Merken die europäische Intelligenzija sich von der Aufklärung verabschieden und die Welt wieder poetisch bewohnen wollte.

Ein Schlüsselroman ist dieses magistral komponierte Buch des 1945 in Tunesien geborenen und in Frankreich aufgewachsenen Hédi Kaddour dennoch nicht. Dafür sind die Figuren und Ereignisse bald zu direkt, bald zu vage verschlüsselt. Es geht bei diesem Romandebüt des Dichters und Literaturprofessors Kaddour eher um das Phantombild eines Europa, das in der Spannung zwischen ideologischen Weltentwürfen und deren missglückten Ausführungen die Szene beherrschte. Waltenberg ist dafür ein allegorischer Brennspiegel in alpiner Höhenlage, in dem die sich verlaufenden Geschichtsstränge sich immer neu bündeln, am liebsten von den Nebenereignissen her. Weltgeschichte wird hier randseitig erzählt.

Wie ist beim Sturmangriff 1914, der auch dem Romanhelden Hans Kappler beinah fatal wurde, der französische Romanautor Alain-Fournier umgekommen, im Kampfeinsatz oder von den Deutschen füsiliert, wie Ludwig Harig bei Kaddour in einem Blatt namens "Frankfurter Allgemeine Zeitung" behauptet? Was genau steht hinter dem Streit, bei dem in einem französischen Botschaftsgarten in Singapur 1965 der Reporter Max Goffard - eine weitere Hauptfigur dieses Romans - beim Krocketspiel den Kulturminister André Malraux provoziert, dessen Romanwelt er eigentlich entstammt? Die realen und fiktiven Handlungsstränge sind bei Kaddour so virtuos verknüpft, dass man beim Lesen nie recht weiß, ob einen das Erfundene oder das Recherchierte mehr in Atem hält. Ihm habe eine Kombination aus "Zauberberg" und "Die drei Musketiere" vorgeschwebt, erklärte der Autor Kaddour, als sein Monumentalroman vor vier Jahren auf den französischen Büchertischen triumphierte. Die Sache ist weitgehend geglückt, mit einem Erzähldrall ins Schräge, der manchmal an Georges Perec erinnert.

Die chronologisch vor- und zurückspringenden Ereignisse katapultieren einander über Kontinente und Epochen hinweg in einer einzigen Assoziationswolke entrückter Gleichzeitigkeit. In die zeitliche Komprimierung eines Todesmoments an der Front schießt Jahrhunderterinnerung. Gebirgs-Belle-Époque, Pariser Vorkriegs-Tango, Todesschweigen in der Résistance, Eisenhowers "Pfoten weg!" gegen McCarthys Hexenjagdinstinkt, Breschnews Zwischeneiszeit im geopolitischen Tauwetter - all das geht ineinander über und lässt dutzendweise Anekdoten aus der schwallhaft direkten Rede der Figuren kullern. Kaddour sucht das Gewusel der Nebenereignisse nicht zu straffen, sondern hält den Leser mit seinem unwiderstehlichen Witz bei Laune und achtet nur peinlich darauf, dass das Gesamtmuster oben in Waltenberg stimmt, wo der Ost-Berliner Stammgast seine Lieblingstorte verzehrt.

So gerät dieser Lilstein zur verkappten Hauptfigur, die alle anderen Figuren an Dichte überragt. Unter Hitler war er im Konzentrationslager, wollte dann aber, weil er die Hitze des Orients und auch die Heilserwartungen unter der Kippa schwer erträgt, nicht nach Israel, sondern lieber im Land des Nebels, der langweiligen Zeitungen, der zu langen Kellnerinnenbeine, das heißt im Land seiner Muttersprache, bleiben. Für das "andere" Deutschland hat er dann einen Geheimdienst aufgebaut, was ihm in den machtpolitischen Verwerfungen vor Stalins Tod vorübergehend eine zweite Lagerhaft einbrachte. Das Grenzgängertum zwischen den Fronten ist für ihn nicht nur Zynismus. Indem er seinem Gewährsmann mit hohen Regierungskontakten in Paris verrät, dass die Sowjets tatsächlich in Afghanistan einmarschieren wollen, schafft er die Hoffnung, der Westen könnte verhindernd eingreifen: Gut eingesetzte Information ist nützlicher, als auf Podien "Nie wieder Krieg!" zu rufen.

Nur dämmert dem Meisterspion, dass die Zeiten sich ändern. "Ich fürchte, wir dienen zu nichts mehr", gesteht er in den späten siebziger Jahren seinem Pariser Kollegen. Nach der Wende spaziert er dann 1991 mit diesem auf den Seine-Quais. "Geben Sie nur nicht der romantischen Neigung nach, sich der Justiz auszuliefern, um den Schaden einer gestörten Ordnung wiedergutzumachen", ermahnt der Pariser Exkommunist seinen früheren Mentor. Er selbst ist schon zur CIA gewechselt, denn er ist "der bessere Marxist" und will, nachdem der kommunistische Traum ausgeträumt ist, lieber mit anderen Karten weiterspielen, als vor sich hin zu grübeln. Und er möchte auch Lilstein für neue Abenteuer gewinnen: Die seit Jahrhunderten hängige deutsche Frage bleibe ja offen, nur abermals neu gestellt, nachdem das Land keine bleiche Mutter und kein Wintermärchen mehr sei - "hätten Sie nicht etwas über Monsieur Kohl?"

In gekonnter ideologischer und moralischer Gegenschraffur hat Hédi Kaddour einen fulminanten Epochenroman über Europa geschrieben. Politiker und intellektuelle Wortführer sind darin labile Statisten neben den unscheinbaren Handlungsträgern mit ihrem Instinkt fürs Machbare, fürs Risiko und für das, was einer von ihnen das "dritte Ufer" nennt. Das Buch fesselt über alle Fülle hinweg von Anfang bis Ende und ist von Grete Osterwald kongenial übersetzt.

JOSEPH HANIMANN

Hédi Kaddour: "Waltenberg". Roman. Aus dem Französischen von Grete Osterwald. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2009. 742 S., geb., 29,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Hin und weg ist Joseph Hanimann von Hedi Kaddours monumentalem Roman des 20. Jahrhunderts. Hier mischen sich reale und fiktive Handlungsstränge, in unchronologischen Sprüngen werden Ereignisse aus dem Leben des ehemaligen KZ-Häftlings und Meisterspions Michael Lilsteins aus Ost-Berlin, des Schriftstellers Hans Kappler und der amerikanischen Sängerin Lena Hotspur vor der Kulisse des Graubündner Waltenbergs entfaltet, wobei die Weltgeschichte "randseitig" miterzählt wird, fasst der Rezensent zusammen. Trotz vieler bekannter Figuren handelt es sich keineswegs um einen "Schlüsselroman", betont der Rezensent, vielmehr gehe es um das "Phantombild eines Europas" unter der Spannung widerstreitender Ideologien. Hingerissen ist Hanimann von der überwältigenden Komik dieses Romans, und er würde der Charakterisierung durch den Autor als Mischung von "Zauberberg" und "Die drei Musketiere" gerne noch die Werke George Perecs hinzufügen. Von der ersten bis zur letzten Seite hält dieser fulminante Europa-Roman die Spannung, preist der Rezensent, dem auch die Übersetzung ins Deutsche von Grete Osterwald noch ein Lob wert ist.

© Perlentaucher Medien GmbH