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Ein junger schweizer Philosoph, der noch dazu im tiefen Osten Deutschlands lebt, tritt hier mit souveräner Chuzpe auf den Plan. Es ist kein manirierter Einfall, daß dieses Buch sich Dictionnaire nennt, statt, wie andere seiner Art, ein Philosophisches Wörterbuch. Denn es ist nicht zum Nachschlagen da, sondern zum Lesen. Damit huldigt der Verfasser einer verlorengeglaubten Tradition und Vorläufern wie Pierre Bayle und Voltaire. Diese Philosophen schrieben nämlich weniger für ihre Kollegen als für ein Publikum, das gewohnt war, außerhalb der Seminare zu denken; und das heißt, sie schrieben…mehr

Produktbeschreibung
Ein junger schweizer Philosoph, der noch dazu im tiefen Osten Deutschlands lebt, tritt hier mit souveräner Chuzpe auf den Plan. Es ist kein manirierter Einfall, daß dieses Buch sich Dictionnaire nennt, statt, wie andere seiner Art, ein Philosophisches Wörterbuch. Denn es ist nicht zum Nachschlagen da, sondern zum Lesen. Damit huldigt der Verfasser einer verlorengeglaubten Tradition und Vorläufern wie Pierre Bayle und Voltaire. Diese Philosophen schrieben nämlich weniger für ihre Kollegen als für ein Publikum, das gewohnt war, außerhalb der Seminare zu denken; und das heißt, sie schrieben höflich, witzig und ohne Respekt für die Usancen des akademischen Betriebs. So hält es hier Andreas Urs Sommer, der uns nicht von irgendeiner eigenen fixen Idee überzeugen, sondern in eine Debatte verwickeln will, bei der wir vermutlich ebenso hin- und hergerissen sind wie der Autor. Der Verfasser hat gerade beschlossen, überhaupt jede Verantwortung für das vorliegende Buch von sich zu weisen. So steht es bereits auf der dritten Seite, und Sommer beruft sich dabei auf die Bibel, wo es heißt: Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben. (Johannes 19,22) Eine Frechheit! Unter den Stichworten des Dictionnaires findet sich neben Gott, Genom und Emanzipation auch der Bauch des Philosophen, ferner Duzen, Sex, Klatsch und Schweizer Banken. Man wird sich also auf eine Lektüre gefaßt machen müssen, die der Unterhaltung ebenso zugute kommt wie dem intellektuellen Training; daß einem dabei manchmal ein wenig schwindlig wird, könnte daran liegen, daß der kurvenreiche Weg von der Apokalyptik bis zum Zynismus einer Achterbahn gleicht.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.2002

Man hört ihn so gern auf Enzyklopädisch schimpfen
Philosophie verträgt ein bißchen Engagement: Andreas Urs Sommer ist ein moderner Aufklärer / Von Kurt Flasch

Auch Wörterbücher haben ihre Geschichte. Dem Namen nach handeln sie nur von Wörtern, aber Wörter ziehen, wenn man sie erklärt, oft Sachen nach sich. Schon im siebten Jahrhundert versprach das Buch eines gewissen Isidor nichts als Worterklärungen, Etymologien, aber unterderhand wurde daraus eine Übersicht über die irdische und die himmlische Welt. Das vierbändige Dictionnaire in Folio des Pierre Bayle verdeckte unter der Hülle historischer Details eine Unmenge Sprengstoff; dieses Wörterbuch von 1696 hat nicht nur die Welt der Wissenschaft verändert, es verschonte weder großmächtige Institutionen noch private Lebensansichten. Dann trat die französische Enzyklopädie auf, ein Riesenwerk, dem man Unrecht tut, wenn man es zum Schlachtpferd der "Aufklärung" macht, denn viele Menschen sagen den Aufklärern immer noch nach, sie hätten den Alltag nicht wahrgenommen und die Geschichte mißachtet; aber die Encyclopédie war weder geschichtsfremd noch alltagsscheu; sie gab genaue Auskunft, was in den Werkstätten der Schreiner und Drucker geschah.

Nur war sie dickleibig und teuer, und so kam ein leserfreundlicher Autor wie Voltaire auf die humane Idee, kleinere handliche Bücher herauszubringen, die unter dem Titel "Dictionnaire" sowohl Unterhaltung wie Belehrung böten. Das Dictionnaire Voltaires fanden manche noch zu dick und zu zahm; da veröffentlichte ein Landsmann von Helmut Kohl, der Pfälzer Baron von Holbach unter dem Pseudonym Abbé Bernier, seine Theologie im Handgepäck. Oder sein abgekürztes Dictionnaire der christlichen Religion, London 1768. Dieses Buch fingiert, auf einfache Art in die Theologie einzuführen, ist aber ein Muster an Intelligenz, Bosheit und Knappheit; nach neuesten Forschungen von Tomaso Cavallo hat auch Diderot daran mitgearbeitet. Heute ist das Büchlein rar geworden; es gibt, glaube ich, keine deutsche Übersetzung. Nur um auf es hinzuweisen, liefere ich daraus eine minimale Kostprobe, den Artikel mit dem unschuldigen Stichwort "Ohren": "Ohren, das sind Organe, mit denen Christen sehr gut ausgerüstet sein müssen, denn der Glaube kommt in uns durch Hören, wie der heilige Paulus lehrt. Siehe auch die Stichworte: Esel, Erziehung und Papageien."

Diesem Zitat wird heute kein Wohlmeinender zustimmen, es soll lediglich zeigen, was man anno 1768 mit einem Dictionnaire alles anfangen konnte. Dasjenige von Andreas Urs Sommer spielt schon im Titel auf diese französische Aufklärungstradition an, aber man würde ihm Unrecht tun, es an den Werken von Bayle, Voltaire, Diderot oder Baron Holbach zu messen. Die Fronten verlaufen nicht mehr so einfach wie im neunzehnten Jahrhundert. Der junge Schweizer Philosoph, den das "Schicksal" (siehe dort) nach Greifswald beordert hat, stand vor einer schwierigeren Aufgabe. Im achtzehnten Jahrhundert war die Stoßrichtung klar, sie ging gegen die politischen, fiskalischen und intellektuellen Ansprüche der Staatskirche, heute gibt es nicht mehr diese eindeutige Situation; der herrschende Unsinn, den es alphabetisch aufzuspießen gilt, ist vielfältiger und versteckter. Der neue Aufklärer kämpft mit Schlagwörtern wie "Innovation" oder "Informationsgesellschaft", er ficht gegen die Überschätzung der "Liebe" wie des "Internets". Er verteidigt das Polemisieren und wirft sich munter ins Scharmützel, er seziert witzig Moden und Maschen unserer Gegenwart, von der "Apokalyptik" bis zum "Zynismus".

Erstaunlich bleibt, wie das Alphabet, diese Zufallskonglomeration, die eine geeignete Plattform abgibt für eine ironisch-vernünftige Rundsicht über die Torheiten der Gegenwart. Die intellektuell kraftlos gewordenen Großkirchen bekommen noch einige souveräne Tupfer ab, aber sie stehen nicht mehr wie beim ehrwürdigen Baron Holbach im Mittelpunkt der Debatten. Der Verfasser, der sich durch eine Reihe von Studien zu Nietzsche und Overbeck als gelehrter Ideenhistoriker bewährt hat, verzichtet hier auf den Prunk von Belegen und Zitaten; unter dem Stichwort "Zitat" zersetzt er die Gewohnheit des Zitierens als Verzicht aufs eigene Denken. Und eine Anleitung zum eigenen Denken will er geben, fern von allem bloßen Wissensstoff. Wer prüfen will, ob das gelingt, lese nur, was er schreibt über "Lebensdauer" oder über "Moralisierung der Politik".

Eine eigene philosophische Position deutet sich diskret an. Sie gibt sich betont nüchtern, leicht skeptisch. Sie will den Überdruck des Moralisierens loswerden. Sie setzt sich ab von fast allen philosophischen Strömungen der Gegenwart; sie ist nicht mehr existentialistisch und nicht konstruktivistisch; sie verhält sich distanziert zu Habermas, profitiert gelegentlich von Foucault. Für die Betroffenheitsrhetorik hat Sommer nur Hohn und Spott übrig. Das Stichwort "Hermeneutik" fehlt, aber den Tanz um den "Anderen" oder das Fremde macht Sommer nicht mit. Er denkt das Ich, das eigene wie das fremde, als undurchdringlich und korrigiert von dieser Einsicht aus humanitäre Redensarten. Er spricht gegen jede Mystik des Verschmelzens, sei sie psychologischer, religiöser oder hermeneutischer Provenienz. Könnte man seine philosophische Position in einem Satz angeben, dann hätte Sommer das getan und hätte sich nicht durch alle Buchstaben des Alphabets hindurchquälen müssen. Wollte man dennoch eine Formel suchen, so könnte man von einem raffiniert-modernen Stoizismus sprechen. Eine veränderte Stoa, eine Stoa als "Selbsthilfepraxis ohne die Lügen des metaphysischen Trostes, ohne die klappernde Rationaldogmatik". In Stil und Denkhaltung macht sich angenehm bemerkbar, daß der Verfasser sich jahrelang mit Nietzsche befaßt hat.

Gleichwohl betritt er auch gegenüber Nietzsche neuen Boden. Noch größer ist die Distanz zu Bayle, Voltaire und Holbach. Das Gegenüber ist komplizierter geworden; das Interesse gilt nicht mehr nur einer abgehobenen "Kultur", sondern auch dem Körper. Man lese, was er über kleine Kinder schreibt (unter dem Stichwort "Beobachtung"). Zum Stichwort "Trost" fällt ihm nicht viel ein; er meint nur, Trost sei "nicht gerade das, was uns zusteht". Dafür gibt es das Stichwort "Tränen": "Jeder hat sein eigenes, noch unerforschtes Tränenland. Es lohnte vielleicht eine Expedition wie kein zweites. Nirgends ist indes das Risiko größer, nicht zurückzukehren."

Immer wieder einmal gelingt eine aphoristische Zuspitzung, die an die Minima Moralia denken läßt. Beispielsweise unter dem Stichwort "ideal": "Ideal wäre, auf die Welt verzichten zu können, ohne eine andere, bessere herbeizusehnen." Durchweg ist Sommers Stil geprägt durch die Rücksicht auf die neue Kompliziertheit, die es zu analysieren gilt. Die Stichworte bilden eher kleine Essays als Aphorismen.

So hat er kein braves Lexikon geschrieben, sondern eine Anleitung zum Selberdenken. Die Stichworte sind knapp und klar gehalten, sie umfassen selten mehr als eine halbe Seite; der Leser ist also schnell wieder allein mit seinen Gedanken. Ein gelungenes Buch, sogar ein schönes, in der außerordentlichen Druckqualität, die wir von Enzensbergers "Anderer Bibliothek" gewohnt sind. Ein zusätzliches Denkspiel hat Franz Greno eingerichtet, indem er jedem Buchstaben eine unkommentierte Fotografie vorangestellt hat, so wie in manchen Manuskripten des Mittelalters die Anfangsbuchstaben ausgemalt worden sind. Solche Illuminationen machen das Zufällige der alphabetischen Abschnittsbildung fühlbar, mit der sich ein Vernunftfreund abfinden muß. Sie sind witzig, und da sowieso jeder Leser zuerst die Bilder eines Buches anschaut, beginnt hier schon die Schule des Selbersehens.

Der Verfasser, mit allen Schlitzohrigkeiten der theologischen Auslegungskunst vertraut, hat noch ein weiteres Spielelement eingebaut. Was er geschrieben habe, habe er geschrieben, sagt er mit Pilatus, verschlüsselt durch eine Bibelstelle, aber jetzt lehne er alle Verantwortung für dieses Buch ab. Und als sei dies nicht genug an Raffinesse und Versteck, zitiert er, diesmal mit Anspielung auf Lessing, größere Passagen aus "unveröffentlichten Fragmenten eines Ungenannten". Indem er die Verantwortung gleich zweifach abschiebt, gibt er zu verstehen: Die Einfachheit ist simuliert, und einige Stellen, die als Zitat eines anderen besonders festlich eingerahmt sind, sollte man besonders aufmerksam lesen. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, sie daraufhin zu studieren, ob sie alle vom selben Thema handeln. Könnte es sein, daß sie vorwiegend die Kritik an Universität und Großkirchen enthalten?

Sommer bewundert beide nicht, und sein Ungenannter kritisiert sie heftig. Wen das stört, muß auf dieses wunderbar leichte, nur selten etwas angestrengte Buch verzichten. Wer es dennoch liest, entdeckt dann auch den Ton der französischen Urväter des Dictionnaires, er hört die gebrochene Stimme Voltaires und des Barons Holbach. Und er bekommt eine Chance: Er kann nun anfangen, selbst zu denken.

Andreas Urs Sommer: "Die Kunst, selber zu denken". Ein philosophischer Dictionnaire. Die Andere Bibliothek, Band 214. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2002. 340 S., Abb., geb., 27,50 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Kein Buch für Hüter des akademisch Wahren, Guten und Schönen, befindet der "upj" zeichnende Rezensent nach der Lektüre von Andreas Urs Sommers "Die Kunst, selber zu denken". Dem Rezensenten hat das Buch trotzdem oder gerade deshalb gefallen. Der Titelzusatz "philosophischer Dictionnaire" weckt bei ihm Erinnerungen an Bayles Dictionnaire (1697) sowie an dessen kleineren Bruder, den Dictionnaire philosophique portatif (1764) aus der damals anonymen Feder Voltaires. Doch auch wer in der enzyklopädischen Literatur nicht zu Hause sei, lese mit Gewinn in diesem jüngsten philosophischen Wörterbuch. Schließlich führt der in Greifswald lehrende Philosoph, freut sich der Rezensent, "seine mit Kenntnis und reichlich Witz gesegnete Feder nicht zuletzt auch gegen das verschwenderisch phantasielose akademische Schuldenken der Gegenwart".

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