Marktplatzangebote
Ein Angebot für € 15,00 €
  • Gebundenes Buch

Mit Alexander von Humboldt auf die eisigen Höhen des Chimborazo. Erstmalig vollständig veröffentlicht: die Tagebuchaufzeichnungen der waghalsigen Reise

Produktbeschreibung
Mit Alexander von Humboldt auf die eisigen Höhen des Chimborazo. Erstmalig vollständig veröffentlicht: die Tagebuchaufzeichnungen der waghalsigen Reise
Autorenporträt
Alexander von Humboldt, 1769-1859, deutscher Naturforscher und Reiseschriftsteller, erlangte durch seine Expeditionen nach Amerika und Asien Weltruhm. Mit seinen Schriften 'Ansichten der Natur' (1808) und 'Kosmos' (1845-62) erreichte er ein großes Publikum. Humboldts Wissenschaftsverständnis war prägend für die moderne Universität.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.11.2006

Die Bewegung wird Ihnen, dem Vielsitzenden, gut tun
„Aber eine große Spalte setzte unseren Bemühungen ein Ende”: Im Jahr 1802 kraxelt Alexander von Humboldt auf den Chimborazo, entdeckt dortselbst vieles Neue und lässt sich hernach sehr lange Zeit, bevor er seine Bergerlebnisse mit seinen Lesern teilt Von Jens Bisky
Mit den Sternstunden der Menschheit hat es eine eigene Bewandtnis. Ohne dramatische Szenen ist alles Historische schnell uninteressant. Wer sie aber näher betrachtet, entdeckt doch immer wieder die gleiche Mischung aus Zufall, Banalität und späterer Legendenbildung, mag es sich nun um den Apfel handeln, der Newton vor die Füße fiel, oder um den Sturm auf die Bastille. So war es möglicherweise ein Zeichen der Weltklugheit, dass Alexander von Humboldt Jahrzehnte zögerte, bis er dem Publikum berichtete, was im Juni 1802 geschehen war, als er seine Reise zum Chimborazo unternahm, der damals für den höchsten der Berge gehalten wurde.
1804 war der Lieblingspreuße der Gegenwart aus Südamerika nach Paris zurückgekehrt. In den „Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas”, die von 1810 an erschienen, verriet er bei Gelegenheit der Tafel XVI gerade genug, um die Einbildungskraft der Zeitgenossen anzuspornen: „Über einen schmalen Grat, der auf dem südlichen Abhang aus dem Schnee ragt, haben wir, die Herren Bonpland, Montúfar und ich, nicht ohne Gefahr versucht, zum Gipfel des Chimborazo zu gelangen. Wir haben Instrumente bis auf eine beträchtliche Höhe getragen, wenngleich wir von dickem Nebel umhüllt waren und die dünne Luft uns sehr zu schaffen machte. Die Stelle, an der wir angehalten haben, um die Neigung der Magnetnadel zu beobachten, scheint höher zu sein als jede andere, die Menschen auf dem Rücken der Berge je erreicht haben; sie liegt elfhundert Meter über dem Gipfel des Mont-Blanc, den der gelehrteste und kühnste aller Reisenden, Herr de Saussure, unter noch größeren Schwierigkeiten als denen, die wir am Chimborazo zu bewältigen hatten, glücklich erreicht hat. Diese mühevollen Exkursionen, deren Erzählung gewöhnlich das Interesse des Publikums erregt, bieten dem Fortschritt der Wissenschaften allerdings nur sehr wenige nützliche Resultate, denn der Reisende befindet sich auf schneebedecktem Boden, in einer Luftschicht, deren chemische Zusammensetzung dieselbe ist wie in den tieferen Regionen, und in einer Lage, in der empfindliche Versuche nicht mit der nötigen Genauigkeit durchgeführt werden können.”
Gekonnt werden hier Stolz und Bescheidenheit miteinander verbunden, sieht sich die Sensationsgier befriedigt und zurechtgewiesen zugleich. Dass Humboldt und seine Begleiter an einer Spalte, „die zu tief war, um sie überwinden zu können”, scheiterten, erfuhren Neugierige etwa aus einem dreibändigen Werk über des Königlich preußischen Bergraths „Reisen um die Welt und durch das Innere von Südamerika”. Dieser hatte seinem Bruder Wilhelm in einem Brief davon erzählt, möglicherweise sprach er darüber auch in seinen zahlreichen Vorträgen. Aber bis zum Jahr 1837 ließ Alexander seine Leser auf eine Schilderung des Dramas von Aufstieg und erzwungener Umkehr warten.
Das hat sie nicht daran gehindert, sich selbst ein Bild zu machen. Der anschauungsversessene Goethe unternahm es 1807, als er auf die Tafeln zur „Geographie der Pflanzen” warten musste, eine „symbolische Landschaft” zu zeichnen. Er nannte sie „Höhen der alten und der neuen Welt bildlich verglichen”. An der Seite sind die Maße eingetragen und an jener Stelle des Chimborazo, an der Humboldt hatte umkehren müssen, sieht man eine kleine Figur.
Merkwürdig sind das Zögern des vielschreibenden Heimgekehrten wie die Ungeduld der Zeitgenossen allemal. Man kann hier am Beispiel einer Sternstunde den wissenschaftsgeschichtlichen Umbruch fassen, aus dessen Bann auch wir noch nicht herausgetreten sind. Es geht um das Verhältnis von Detail und Ganzem, von Erzählung und Fakten, von Bildern und Daten.
Oliver Lubrich und Ottmar Ette haben Humboldts Äußerungen über den abgebrochenen Aufstieg nun erstmals zusammengestellt. In ihrer ausführlichen Einleitung präsentieren sie eine Fülle zusätzlichen, hochinteressanten Materials. Keine der neueren Humboldt-Publikationen war so erfreulich wie diese, die intelligent bebildert ist und nahezu klassisch gestaltet. Sie hält Abstand zu den Umerziehungsphantasien, mit denen vor zwei Jahren der „Kosmos” an den Mann gebracht wurde, und meidet den komfortablen Ausweg in die Ironie in der Manier Daniel Kehlmanns.
Beschrieben hat Humboldt sein Abenteuer auf dem Berg mehrfach: zunächst auf Französisch im Reisetagebuch vom 23. Juni 1802, dann in einem Brief an Wilhelm, geschrieben in Lima am 25. November 1802, schließlich im zitierten Text zu den „Ansichten der Kordilleren”. Zwei Jahre nach dem Tod des Bruders brachte das „Jahrbuch für 1837” den Aufsatz „Ueber zwei Versuche den Chimborazo zu besteigen”, der mit wichtigen Änderungen noch einmal in den ersten und einzigen Band der „Kleineren Schriften” aufgenommen wurde. Er erschien 1853.
Humboldt arbeitete damals im Zwischengeschoss des Potsdamer Stadtschlosses und ging gern am Brauhausberg spazieren, der sich 88 Meter über den Meeresspiegel erhebt, was in Brandenburg als stolze Höhe durchgehen kann. Den Kartographen, der den Atlas zum „Kosmos” entwarf, soll er des öfteren zum Spaziergang aufgefordert haben: „Kommen Sie mit; die Bewegung wird Ihnen, dem Vielsitzenden, gut tun, und überdem bitt’ ich Sie, mir beim Besteigen unsers Potsdamer Chimborazo ein klein wenig zur Stütze zu dienen!”
Im Reisetagebuch, das – warum eigentlich? – noch seiner vollständigen Veröffentlichung harrt, unterbricht Humboldt die Aufzeichnung vom 23. Juni mitten im Wort: „Mais une grande cre-” („Aber eine große Spal-”) und erst mehrere Seiten später nimmt er mit der Silbe „vasse” (-„te”) die Schilderung des Bergabenteuers wieder auf. Dazwischen charakterisiert er „Vom Chimborazo mitgebrachtes Gestein”, unternimmt die „Geometrische Vermessung des Tunguragua”; Notate finden sich über die „Jesuiten”, ein 1802 verstaubt wirkendes Thema der Aufklärung, und den „Ausbruch des Moy de Pelileo” – schließlich stammt der Bergrat aus dem Zeitalter vulkanistischer Theorien.
Woher und warum nun diese Unterbrechung des Berichts, die nicht einmal als cliffhanger funktioniert. Humboldt war durchaus in der Lage, entsetzlich umständliche, spannungslose Prosa zu verfassen, aber er war doch formbewusst und schreibgeschult genug, um die Vermutung ausschließen zu können, dergleichen sei ihm zugestoßen oder zufällig eingefallen. Mit der erzwungenen Umkehr wechselt er Blickrichtung und Schreibhaltung. Der Satz lautet vollständig: „Aber eine große Spalte setzte unseren Bemühungen ein Ende.”
Da an Aufstieg nicht mehr zu denken war, wird mit dem Sammeln von Fakten und Steinen begonnen, von Geröll im wissenschaftlichen wie im buchstäblichen Sinne. Humboldts Begleiter Montúfar dagegen hielt sich an die Chronologie: „Wir kamen nicht weiter wegen einer sehr tiefen Spalte.”
Ebenso aufschlussreich wie die Unterbrechung ist allerdings, dass Humboldt die Schilderung wiederaufnahm, überschrieben mit „Fortsetzung der Reise zum Chimborazo”. Der 25. Juni war dann „der schönste Tag der Welt. Welches Mißgeschick, daß wir nicht an diesem Tag aufgestiegen sind.” Er hatte für die Beschreibung zwei Möglichkeiten: die systematische nach Kategorien wie Gestein, Klima, Boden oder die erzählende, die eine Geschichte oder ein Bild entwirft. Es war wohl charakteristisch für Humboldt, dass er sich für keine von beiden endgültig entschied, dass er zeitlebens nach Darstellungsformen suchte, die den Details gerecht würden, ohne das Ganze darüber zu verlieren, die alle Neugier des Publikums befriedigt, ohne wissenschaftlich bedeutungslosen Einzelheiten zu breiten Raum einzuräumen.
Hinter den Absteigenden lagen einige Strapazen. Von den Eingebornen auf einer Höhe von 15600 Fuß verlassen, waren die Bergsteiger ohne rechte Ausrüstung über eine „dünneisige Spiegelfläche” gegangen, zur Rechten lag ein schauriger Abgrund und auch zur Linken drohte todbringender Absturz. Weiter oben meldeten sich Übelkeit, Schwindel, der Drang zu erbrechen, Zahnfleisch und Lippen bluteten. 1837 überbrückt Humboldt die Spalte im Text auch durch die Überlegung, wie sonderbar „die physische Constitution des Menschengeschlechts allmälig umgewandelt” werden würde, „wenn grosse kosmische Ursachen solche Extreme der Luftverdünnung oder Luftverdichtung permanent machten”.
Es geht noch immer um die Stellung des Menschen im großen Ganzen, in der Ordnung der Natur. Den aufgeklärten Wunsch, dass die moralische und die physische Welt harmonisch aufeinander bezogen seien oder einem Gesetz gehorchen, konnte Humboldt nicht mehr teilen. Im Vorwort zur ersten Auflage seiner „Ansichten der Natur” (1808) hofft er aber, dass „bedrängte Gemüther”, also die Opfer der napoleonischen Kriege, Stärkung, wenn nicht Trost in der Betrachtung der Natur finden könnten. „Ueberall habe ich auf den ewigen Einfluß hingewiesen, welchen die physische Natur auf die moralische Stimmung der Menschheit und auf ihre Schicksale ausübt.” Er schließt die Vorrede mit Versen aus Schillers „Braut von Messina”: „Auf den Bergen ist Freiheit! ... / Die Welt ist vollkommen überall, / Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual”.
In den „Ansichten” fallen von Auflage zu Auflage das Malerische, Bild des ewigen Einflusses, und das Wissenswerte, in die Anmerkungen verbannt, auseinander. In der Ausgabe von 1849 folgen 35 Seiten Text „Über die Steppen und Wüsten” zweihundert Seiten Fußnotentext.
In seinen späten Berichten über die Besteigung des Chimborazo versucht Humboldt, die Einheit auf andere Weise zu gewinnen. Er berichtet eine Episode aus der Wissenschaftsgeschichte, ohne sich in umständlichere „geognostische und physikalische Discussionen” einzulassen, aber auch ohne das Geschehen zur Anekdote zu verknappen. Er schildert die Haltung des Entdeckers, weist auf ungeklärte Fragen hin.
Vieles an Humboldt erscheint den scharfsinnigen Herausgebern ungeheuer zeitgemäß: Sie entdecken eine Poetologie des Scheiterns und einige derzeit geschätzte Schlagworte mehr. Man könnte wohl all das auch mit dem Bruch zwischen der Wissenschaftskultur des 18. Jahrhunderts und der des 19. erklären, in dem die Naturwissenschaft die Naturphilosophie ebenso zerstört wie die Geschichtswissenschaft die Geschichtsphilosophie. Aber das wäre immer noch erst die halbe Wahrheit. Die Frage nach dem Zusammenhang, nach dem Ganzen, ist durch den Hinweis auf Erkenntnisfortschritte und Ausdifferenzierung nicht zum Verstummen zu bringen. Würde sie nicht gestellt, gäbe es keine Wissenschaft mehr. Humboldts seltsamer Umgang mit seiner Heldentat, der Besteigung des Chimborazo, zeugt davon, wie bewusst ihm die Notwendigkeit dieser unauflösbaren Spannung war. Dass es mit den Sternstunden meist nicht weit her ist, versteht man erst, wenn man sie wenigstens nacherlebt hat. Hier ist dazu Gelegenheit.
„Exkursionen, deren Erzählung gewöhnlich das Interesse des Publikums erregt . . .”
Alexander von Humboldt
Über einen Versuch den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen.
Mit dem vollständigen Text
des Tagebuches „Reise zum Chimborazo”. Herausgegeben und mit einem Essay versehen von Oliver Lubrich und Ottmar Ette. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2006. 196 Seiten, 19,90 Euro.
Tafel XVI aus Humboldts Tafelwerk „Vues des Cordillères”, eine Ansicht des Chimborazo und des Carahuairazo (Carguairazo) vor dem Aufstieg
Abbildungen aus dem besprochenen Band
Karl von Steuben: „Alexander von Humboldt am Chimborazo (1812/21)
Aus einer Tafel zu den „Prolegomena” in Humboldts „Nova genera et species plantarum”, von denen der erste Band 1816 in Paris erschien. Ganz links der Chimborazo (daneben der Montblanc und der Sulitelma in Lappland).
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Hocherfreut begrüßt Jens Bisky diesen von Oliver Lubrich und Ottmar Ette herausgegebenen Band, der erstmals Alexander von Humboldts Berichte über Besteigung des Anden-Gipfels Chimborazo versammelt. Er lobt die Herausgeber für die gelungene Zusammenstellung von Humboldts Äußerungen über die Expedition, für die wunderbare Bebilderung und Gestaltung des Bands sowie die instruktive Einführung. Auffällig scheint ihm der Umstand, dass Humboldts Zeitgenossen das Scheitern der Besteigung 1802 bekannt war, der Gelehrte aber mit der genauen Schilderung der dramatischen Ereignisse um den Aufstieg und die durch eine unüberwindbare Spalte erzwungene Umkehr Jahrzehnte wartete. Bisky nimmt dies zum Anlass, um über den Umbruch zwischen der Wissenschaftskultur des 18. Jahrhunderts und der des 19. nachzudenken. In diesem Zusammenhang verweist er auf die Veränderung der Blickrichtung und der Schreibhaltung Humboldts, die mit der Umkehr einherging. Zudem unterstreicht er, dass Humboldt den Optimismus der Aufklärung, die moralische und die physische Welt in Harmonie zu sehen, nicht mehr teilen konnte. Dennoch erkennt Bisky bei Humboldt auch weiterhin das - auch in der Darstellungsform der nun vorliegenden Berichte spürbare - Ringen, der Stellung des Menschen im großen Ganzen der Natur, dem Verhältnis des Teils zum Ganzen gerecht zu werden.

© Perlentaucher Medien GmbH