Produktdetails
  • Verlag: Gerstenberg (Gebrüder)
  • Seitenzahl: 32
  • Altersempfehlung: 6 bis 8 Jahre
  • Abmessung: 385mm
  • Gewicht: 645g
  • ISBN-13: 9783806749632
  • ISBN-10: 3806749639
  • Artikelnr.: 10330321
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Um Impressionen aus der frühen Verkehrsgeschichte ging es in zwei hochgelobten Bilderbüchern des Autorenduos Bernhard/Roca, die Vorfreude auf ein neues Buch bei Reinhard Osterroth weckten. Das neue Buch gehöre jedoch zu einem anderen Genre und habe ein altes Mysterium zum Inhalt, muss der Rezensent feststellen. Hier geht es um einen nur aus einem Rumpf bestehenden Menschen, der, als ob er vom Schicksal nicht schon genug gebeutelt wäre, auch noch in seiner Sehkraft beeinträchtigt ist. Seiner Tätigkeit als Späher auf dem Ausguckmast eines Schiffes kann er nun nicht mehr nachkommen und muss sich fortan seinen Lebensunterhalt als Zirkusattraktion erarbeiten, berichtet Osteroth. Das einzige, was ihm blieb, ist seine wunderbare Stimme, die die ihrerseits stumme "Verrenkungskünstlerin" des Zirkus für sich einnimmt. Osteroth bezeichnet die Vereinigung der beiden als "kühl kalkulierte Vollkommenheit" und freut sich auf das nächste Kinderbuch der beiden Autoren.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002

Ohne Arme und Beine im Scheinwerferlicht
Eine irritierende Geschichte aus der Zeit der Schaubuden: Vom Leben, Lieben und Leiden des Jesus Betz

Jesus Betz heißt der Held im neuen Bilderbuch des jungen französischen Autor-Illustrator-Duos Fred Bernard und François Roca. Den heiligen Vornamen verdankt Betz seiner Geburt am 24. Dezember: Für seine junge einsame Mutter ist er ihr "Liebchen", "Würmchen", "Jesulein". Das Neugeborene ist kein Kind wie andere. Ihm fehlen Arme und Beine, es ist ein Rumpfmensch. Das ist trotz der viel beschworenen Enttabuisierung in der Kinderliteratur ein sehr ungewöhnlicher Bilderbuchprotagonist. Seine Geschichte und bildliche Darstellung irritiert, wie es selten geworden ist dank unserer Übung, die bedenklichsten Grenzüberschreitungen der Diskretion und Intimität gelassen zur Kenntnis zu nehmen.

Die Geschichte der Mißbildungen ist bis weit ins 20. Jahrhundert hinein mit der Zirkuswelt, mit den Schaubuden und Jahrmärkten verbunden, die "Monstra" wie siamesische Zwillinge, Riesen- und Zwergwüchsige, ungewöhnlich dicke Menschen, bärtige Frauen und Rumpfmenschen zeigten. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwanden diese Schaubuden, und heute, da aufgrund der pränatalen Diagnostik immer weniger Menschen mit schweren Fehlbildungen geboren werden, finden wir es grausam, sie der Schaulust preiszugeben. Doch über die moralische und politisch korrekte Entrüstung vergessen wir leicht, daß die Schauplätze am Rande der Gesellschaft diesen Menschen oft die einzigen Überlebenschancen boten und manchmal sogar etwas Selbstbestimmung ermöglichten.

Jesus Betz wird 1894 in den USA geboren. Seine Geschichte spielt in der Epoche der berühmten Show-Freaks vor dem Hintergrund der globalen Umbrüche des 20. Jahrhunderts. Als Ich-Erzähler gibt er in einem Brief an seine Mutter einen Rückblick auf die Krisen und Höhepunkte seines Lebens. Dreiunddreißig Tage mit genauer Datumsangabe hat er ausgewählt, das sind so viel Tage wie Jesu Christi Lebensjahre. Fred Bernard hat die Erzählung als ein modernes Leben Jesu entworfen, das er aber zu einem ganz anderen Ende führt. Wie der Namenspatron in seiner Auseinandersetzung mit den Pharisäern erlebt auch Jesus Betz die Unbarmherzigkeit eines Pfarrers, zu dem seine Mutter ihn in der Hoffnung auf eine Arbeitsmöglichkeit trägt: "Aber mein Jesulein ist die Liebe und Güte selbst, wie unser Herr Christus!" "Aber mit dem Unterschied, junge Frau, daß man einen Rumpf-Menschen nicht ans Kreuz nagelt, sondern auf einen Angelhaken spießt wie einen Wurm! Also raus mit euch!"

Die nächste Station seines Lebens ist ein Walfangschiff, auf dem er, am Mast festgebunden, mit seiner wunderbaren Stimme die Wale aussingt. François Roca zeichnet ihn als neuen Odysseus, der indes selbst singt, wie im Mythos die Sirenen. Nachdem eine Möwe Jesus ein Auge ausgehackt hat, erlebt er einen der schwersten Augenblicke seines Lebens, er sieht sich fortgeworfen und getreten als menschlicher Abfall. Wie Jesus Christus gewinnt er treue Freunde unter den Ausgestoßenen und Verachteten: eine dicke Marktfrau, dann die Freaks im Zirkus. Am Ende wird er weder aufgespießt noch ans Kreuz genagelt, sondern findet Liebesglück in den Armen einer wunderschönen, stummen Trapezkünstlerin - eine sinnenfreudige, lebensbejahende Alternative zum Opfertod.

François Roca gibt Jesus Betz ein schönes Gesicht über einem kegelförmig glatten Rumpf, der an eine Büste erinnert, zumal er oft auf einen Sockel gestellt wird. Mit dieser kunstähnlichen Gestalt vermeidet Roca alles Abstoßende, ohne daß er den Schrecken über den so furchtbar reduzierten Menschenleib mildern würde. Fern jeder Verniedlichung bewegt sich die Darstellung erstaunlich sicher auf dem schmalen Grat zwischen unzulässiger Ästhetisierung und Preisgabe an eine Schaulust, die sich am Grotesken und Monströsen weiden würde. Die Erzählung wie die Bilder lenken statt dessen die Aufmerksamkeit auf ein Leben, das seiner schweren Einschränkung, seinen Verletzungen und dem Erleiden brutaler Gewalt zum Trotz von Mut, Freundschaft, Schönheit, Freude und Zärtlichkeit geprägt ist.

Wie kaum ein zeitgenössischer Bilderbuchkünstler arbeitet Roca mit dem Licht als immateriellem Akteur seiner Bildwelten, dynamisiert sie mit subtil kalkulierten Schattenwürfen, dramatisiert sie im Clair-obscur und mit den Beleuchtungseffekten der Scheinwerfer und atmosphärischen Lichtquellen. Die Reihe seiner Vorbilder in der Illuminationskunst reicht von Caravaggio bis zu Edward Hopper. Eine Traditionswahl, die dem seltsamen, bewegenden Stoff und der klug mit den großen Erzählmustern spielenden Geschichte angemessen ist.

GUNDEL MATTENKLOTT

Fred Bernard und François Roca: "Jesus Betz". Aus dem Französischen übersetzt von Werner Leonhard. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2002. 32 S., geb., 18,- . Ab 6 J.

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