Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 12,99 €
  • Buch mit Leinen-Einband

Das Kamasutra ist weit mehr als das simple Sexuallehrbuch, als das uns der komplexe Text landläufig bekannt war: Wendy Doniger und Sudhir Kakar präsentieren in ihrer Neuübersetzung das Kamasutra als psychologischen Unabhängigkeitskrieg für die Frau, der vor rund zweitausend Jahren in Indien stattfand.

Produktbeschreibung
Das Kamasutra ist weit mehr als das simple Sexuallehrbuch, als das uns der komplexe Text landläufig bekannt war: Wendy Doniger und Sudhir Kakar präsentieren in ihrer Neuübersetzung das Kamasutra als psychologischen Unabhängigkeitskrieg für die Frau, der vor rund zweitausend Jahren in Indien stattfand.
Autorenporträt
Prof. Dr. Klaus Mylius ist emeritierter Ordinarius für Indologie an der Universität Leipzig und gilt als einer der besten Kenner und Übersetzer der alten indischen Literatur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004

Schulmädchenreport
Eine seriöse und vollständige Ausgabe des Kamasutra / Von Ernst Horst

Im tiefsten und dunkelsten Bereich der Hölle findet man ein Meer aus kochender Hyänenkotze. Dort ist der Platz für Leute reserviert, die Kulturgut sinnlos bearbeitet und zerstört haben. Einer von ihnen ist der Filmstudiopräsident, der für die verhunzte Fernsehfassung von Terry Gilliams "Brazil" verantwortlich war. So hat Harlan Ellison berichtet. Ein paar Legionen Verleger sind dort anzutreffen. Wer aus "Moby-Dick" ein hundertfünfzigseitiges Kinderbuch macht, hat es nicht besser verdient. Auch unsere Vorurteile über das Kamasutra verdanken wir zum großen Teil solchen Barbaren.

Das Kamasutra besteht aus sieben Teilen ("Büchern"). Das zweite Buch beschäftigt sich mit der körperlichen Liebe. Aber auch dieses ist kein Erotikon. Es erinnert mehr an anwendungsferne Wissenschaft wie die Kinsey Reports. Wenn man aber Auszüge aus diesem Text mit vielen indischen Bildern ungeklärter Herkunft kombiniert, auf denen sich Prinzen mit adoleszenten Frauen ohne Schamhaare vergnügen, dann erhält man ein Buch, das sich gut verkaufen könnte.

Im Gegensatz zu solchen fragwürdigen Produkten macht die neue vollständige Ausgabe des Kamasutra einen ordentlichen Eindruck. Um das tatsächlich beurteilen zu können, müßte man das Sanskrit des Originals verstehen. Wer versteht schon Sanskrit? Der Übersetzer des vorliegenden Bandes hat aus dem Englischen übersetzt. Dabei wurde er aber von einem Sanskritologen unterstützt. Die zugrundeliegende englische Version haben eine amerikanische Sanskritologin und ein indischer Psychoanalytiker gemeinsam erstellt.

Das Kamasutra wurde etwa im dritten christlichen Jahrhundert "in Keuschheit und höchster Versenkung" von Vatsyayana Mallanaga in (Nord?-)Indien verfaßt. Der Autor hat dabei angeblich die - nicht erhaltenen - Werke zahlreicher anderer Gelehrter verarbeitet. Leider ist nur wenig über die gesellschaftlichen Verhältnisse zu dieser Zeit an diesem Ort bekannt. Eine der Hauptquellen ist das Kamasutra. Stellen Sie sich vor, wir schreiben das Jahr 3800, und die einzige vorliegende Information über das Leben in Deutschland am Anfang des 21. Jahrhunderts ist Wolfram Siebecks "Kochschule für Anspruchsvolle". Viel wäre das nicht. Vatsyayana schildert die teilweise wahren, teilweise idealisierten Lebensumstände einer Elite und auch davon nur einen Teil. Wie es im Land wirklich zugeht, erfahren wir nicht.

Eine wörtliche Übersetzung wäre kaum verständlich. Die Bedeutungen erschließen sich oft nur aus dem Kontext. Deshalb benötigte man schon früh Kommentare. Der wichtigste davon wurde im dreizehnten Jahrhundert von Yashodhara Indrapada, und zwar wie das Kamasutra auf sanskrit, verfaßt. Er hat den jetzigen Übersetzern als Verständnishilfe für den eigentlichen Text gedient. Man findet ihn zusätzlich in Anhängen abgedruckt, allerdings nur auszugsweise - Herr Yashodhara war ein buchhalterischer Schwätzer. Das Buch ist leicht zu lesen, aber schwer zu studieren. Es besteht aus fünf Schichten: Vatsyayana, Yashodhara, Anmerkungen zu Vatsyayana, Anmerkungen zu Yashodhara und Auszügen aus einem modernen Kommentar von Devadatta Shastri (1964, Originalsprache: Hindi). Wer das alles verstehen will, muß blättern.

Das Kamasutra beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Männern und Frauen. Dabei steht die Betätigung des Unterleibs zwar im Vordergrund, aber es ist auch von anderem die Rede. Abgesehen vom sechsten Buch über Kurtisanen ist die Perspektive die des reichen und mächtigen Mannes. Das Buch richtet sich an Männer. Es war wohl nicht verboten, daß eine Frau auch hineinschaute, wenn sie denn lesen konnte, aber sie wurde dazu nicht ermuntert. Frauen begreifen Lehrbücher nicht. Aber Vatsyayana sagt, sie begreifen die Praxis, und die Praxis beruht auf dem Lehrbuch. Im Kamasutra schlagen die Männerphantasien manchmal Blasen. Letzten Endes müssen die Frauen den Männern dienen, aber sie werden dazu nicht brutal gezwungen. Sie sollen vielmehr sanft dazu überredet werden.

Die Toleranz ist ein wesentliches Charakteristikum des Kamasutra. Es gibt feste Regeln. Guter Sex ist genitaler Sex zwischen einem Mann und einer Frau. Alles andere gehört sich nicht. Schon der Oralverkehr ist etwas für Hallodris. Ein weiser Brahmane sollte dieser Liebhaberei nicht frönen. Vatsyayana redet darüber wie ein Feinschmecker über McDonald's. Man kann nicht jede Vulgarität verbieten, und man sollte sie auch nicht überbewerten, wenn sie nicht zu oft vorkommt. Außerdem sind immer die lokalen Bräuche zu berücksichtigen. Vermutlich ist das Bild, das uns Vatsyayana vom alten Indien vermittelt, stark stilisiert. Aber wenn man zu einer Zeitreise in diese Ära gezwungen würde, dann wäre Indien ein besseres Ziel als die finstere christlich-abendländische Spätantike.

Das kenntnisreiche 44 Seiten lange Vorwort stammt zum größten Teil von Wendy Doniger, die auch weitgehend für die Übersetzung vom Sanskrit ins Englische zuständig war. Ein Blick ins Internet lehrt uns, daß sie mehr ist als die "Sanskritologin und Religionswissenschaftlerin", als die sie angepriesen wird. Sie ist "Mircea Eliade Distinguished Service Professor of the History of Religions at the University of Chicago". Bei Suhrkamp ist 1999 von ihr "Der Mann, der mit seiner eigenen Frau Ehebruch beging" erschienen (siehe F.A.Z. vom 17. April 2000). Bei einem Buch, in dem die Rolle der Frau in einer von Männern dominierten Welt geschildert wird, ist man dankbar, wenn die Umsetzung für unsere Kultur aus kompetenter weiblicher Sicht erfolgt. Ein Mann wäre immer in Gefahr gewesen, sich zwischen der Scylla der politischen Korrektheit und der Charybdis des männlichen Chauvinismus zu verirren. Fanny Müller schrieb einmal über sich, daß ihr "nichts Männliches fremd" sei. Das gilt auch für Doniger. Sie berichtet, aber sie verurteilt nicht.

Bei dem ersten Buch mit dem Titel "Allgemeine Bemerkungen" handelt es sich um eine Einführung. Die wichtigsten Ziele eines Mannes sind Religion, Macht und Lust - in dieser Reihenfolge. Im Kamasutra geht es um die Lust, über die anderen Ziele gibt es andere Literatur, die ein Mann gelesen haben sollte. Eine Frau muß neben den 64 Liebeskünsten, die später beschrieben werden, noch 64 weitere Künste beherrschen. Dazu gehört beispielsweise das Kochen, das Arrangieren von Blumen, die Herstellung von Gewändern und das Verschönern der Wohnung. Martha Stewart ist vermutlich nie über die Lektüre des ersten Buchs hinausgekommen. Das zweite Buch ("Sex") ist das, was wir Normalverbraucher im Westen immer für das ganze - ja so verruchte! - Kamasutra gehalten haben. Es erinnert aber eigentlich mehr an Monographien wie "Die 85 Methoden, eine Krawatte zu binden" von Thomas Fink und Yong Mao (Piper 2002). Amüsant, aber etwas weltfremd. Das dritte Buch ("Jungfrauen") ist der Schulmädchenreport. Ephebophil waren sie irgendwie schon, die alten Inder. Aber dem Reinen ist ja alles rein. Hier wird geschildert, wie man eine sehr junge Frau langsam, sehr langsam in die Freuden der körperlichen Liebe einführt. Picklig, bucklig oder o-beinig sollte sie nicht sein, und sie darf auch nicht den Namen eines Sternbilds, Flusses oder Baumes tragen. Nennen wir unsere Töchter also besser nicht Carina (Sternbild: Kiel des Schiffes), Lena (Fluß in Sibirien) oder Birke!

Das vierte Buch ("Ehefrauen") beschäftigt sich mit der fortgeschrittenen Ehe. "Eine einzige Ehefrau behandelt ihren Gatten, in tiefem, innigem Vertrauen, wie einen Gott und stimmt stets ihr Handeln auf ihn ab." Dieser im Buch ausführlichst geschilderte Idealfall der perfekten Hausfrau und Gärtnerin dürfte aber so selten sein wie heutzutage ein Sechser im Lotto. Deswegen benötigt man zusätzliche Frauen, was andererseits zu gewissen Reibungsverlusten führt. Ein Harem gar braucht einen großen personellen und logistischen Aufwand und verursacht dadurch hohe Kosten. Das fünfte Buch ("Ehefrauen anderer Männer") könnte man bei mißgünstiger Interpretation für schiere Heuchelei halten. Es beginnt mit einer genauen Beschreibung der Tricks und Kniffe des Ehebruchs. Ob die Salbe, die einen Ehebrecher unsichtbar macht, wirklich funktioniert, können wir leider nicht garantieren. Da man dafür das Herz eines Mungos benötigt, läßt sie sich nicht leicht reproduzieren.

Am Schluß des fünften Buchs erfahren wir dann aber wie in einem Aufklärungsfilm von 1971, daß der Sinn der umfangreichen Schilderung keineswegs die Anregung zur Nachahmung war. Im Gegenteil, wir haben nur gelernt, was andere Männer mit unseren Ehefrauen treiben würden, wenn wir diese nicht gründlich bewachen ließen, und den Wächtern darf man natürlich auch nicht trauen. Wir selbst, die wir ja besonders gute Menschen sind, sollten den Ehebruch meiden, weil er "gegen Religion und Macht" verstößt. Deshalb ist die käufliche Liebe, wie sie im sechsten Buch ("Kurtisanen") geschildert wird, vielleicht doch das kleinere Übel. Den Abschluß bildet das kurze siebte Buch ("Erotische Esoterika"). Hier geht es um die Vorgänger von Okasa und Viagra. Leider sind die Ingredienzien der beschriebenen hochwirksamen Drogen in der Regel hierzulande nicht einfach zu beschaffen, aber ein Rezept sollte sich nachkochen lassen: Wer Reispudding mit der Flüssigkeit eines Sperlingseis zubereitet, Honig und Butter darüber gießt und davon ißt, bis er satt ist, der kann mit unendlich vielen Frauen schlafen. So einfach ist das.

Wenn Sie diese Inhaltsangabe irgendwie an Hugh Hefner und die unfreiwillig sehr komischen Playboy-Hefte der fünfziger Jahre erinnert, dann geht es Ihnen wie dem Rezensenten. Das Buch ist liebevoll bibliophil aufgemacht und enthält zehn Farbtafeln nach Bildern aus der Sammlung des Fitzwilliam-Museums in Cambridge. Ästhetische Bilder, aber geil sind sie nicht. So etwas könnte man heute ins Kinderzimmer hängen, wenn es die Kinder nicht langweilen würde. Muß man beim Beischlaf wirklich den Hut aufbehalten?

Vatsyayana: "Kamasutra". Neu übersetzt und kommentiert und mit einem Vorwort von Wendy Doniger und Sudhir Kakar. Aus dem Englischen von Robin Cackett. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2004. 320 S., Farb-Abb., geb., 29,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.10.2004

Auf Stellensuche
Das Kamasutra: neu übersetzt, besser verstanden
Selbst Leser, die auf „Stellen”, in diesem Falle Stellungen aus sind, müssen das Buch nach dem zweiten Satz noch nicht aus der Hand legen. Dieser lautet: „Das Kamasutra ist das älteste überlieferte hinduistische Lehrbuch der erotischen Liebe. Anders als die meisten Leute glauben, ist es kein Buch über die Stellungen beim Geschlechtsverkehr.” Sie sollten wenigstens bis zum dritten Satz durchhalten: „Es ist ein Buch über die Lebenskunst . . . und über die Stellungen beim Geschlechtsverkehr.” Darüber lässt sich doch reden und nun wirklich reden, denn über die Stellungen allein gibt es ja nicht soviel zu reden, da braucht man vor allem sportliche Kondition.
Hegel hat das Wuchernde, die unendliche Vervielfältigung, das Dschungelartige indischer „Denkfiguren” hervorgehoben. Die Benennungen der einzelnen Körperpartien in litaneiartigen Formeln hat eine doppelte Funktion: es soll auf keinen Fall etwas vergessen werden, und es soll sich alles einprägen. In der Meditation muss alles erfasst werden, was Körper ist. Diese Doppeldeutigkeit äußerster Wahrnehmungsschärfe zum Endzweck der Abstoßung des Wahrgenommenen durchzieht die erotischen Figuren des Kamasutra.
Die Erzeugung unendlicher Langeweile ist ein Systematisierungsunternehmen, bei dem nichts durch die Maschen fällt. Durchritualisiert werden nicht nur die Haltungen, der sexuelle Verkehr samt dem Davor und Danach, sondern auch das System selbst. Der Systembau als Ritual, das alles als gleichgewichtig behandelt und nichts Synthetisierendes kennt, macht einen der größten Reize dieses Werks aus.
Was wäre der Unterschied zu der Langeweile, die die Schriften de Sades auslösen? Simpel gesagt: De Sade ist noch langweiliger, aber nicht ganz so simpel: De Sade schreibt vor dem Hintergrund des modernen europäischen Erfahrungsbegriffs, nicht vor dem der Naturbemächtigung. Mittels dieses Erfahrungsbegriffs, dessen Hauptantrieb darin besteht, ja nichts verpassen zu wollen, pervertiert er einmal den Adel, dessen Ausschweifungen jeweils zu totaler Ermattung führten, im Grunde pervertiert er aber auch schon die kommende Gesellschaft. In Indien das Gegenteil: Es dreht sich um Kraft- und Energieerhaltung.
Extase ist nicht vorgesehen
De Sade will als „Böser” provozieren, der Autor des Kamasutra hingegen kennt keine Moral. Dennoch ist dem Kamasutra ein emanzipatorischer Gehalt nicht abzusprechen, und der kommt durch die Haltung, die Freud gleichschwebende Aufmerksamkeit genannt hat, zu Stande. Durch sie bekommen die sexuellen Realien, die das viktorianische Zeitalter schmutzig genannt hätte, eine Imprägnierung, einen Schutz, der sie gegen moralische Verwerflichkeit feit. Ritualisierung ist nicht nur ein Gewöhnungsvorgang, sondern liefert auch eine Ordnung, in der jedes Phänomen seinen Platz bekommt. Deshalb hat die Ekstase in ihr keinen Platz. Extreme Formen der Sinnlichkeit haben viel mit Kontrolle zu tun: allerdings als Formen, nicht als ekstatischer Durchgang, der alles ergreift.
In der Liebeskunst des Kamasutra begegnen wir einer merkwürdigen Verbindung von Phantasie und Objektivität, die etwas ganz anderes ist als beispielsweise die Ars amatoria des Ovid. Bei Ovid gibt es nur den Wechsel, nichts Gleichschwebendes zwischen libidinösem Subjekt und libidinösem Objekt. Ovid inszeniert eher einen utopischen Stammtisch, an dem die Männer ihre Überwältigungstechniken unter die Nase gerieben bekommen und an dem sich Männerwitze und Frauenwitze abwechseln. Die gleichschwebende Aufmerksamkeit hingegen verletzt keine Sphären, aus ihr erwächst die Beschreibung der libidinösen Verfahren, durch die die libidinösen Subjekte aneinandergeknüpft sind, ohne die es eine menschliche Gesellschaft nicht gäbe. „Ein Mann wird ‚Rammler’, ‚Stier’ oder ‚Hengst’ genannt, je nach Größe seines Geschlechtsteils, eine Frau hingegen heißt ‚Gazelle’, Stute’ oder ‚Elefantenkuh’. . . Vier Umarmungen werden während des Liebesakts angewandt: die ‚schlingende Ranke’, das ‚Besteigen des Baumes’, ‚Reis und Sesam’ und ‚Milch und Wasser’.” Gerade die Metaphern aus dem Tier-und Pflanzenreich heben die sexuelle Sphäre an, sind Imaginierungen, nicht Herabsetzungen.
Die beiden Herausgeber, die amerikanische Religionswissenschaftlerin Wendy Doniger und der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar, sorgen in ihrer hervorragenden, religionsphilosophisch wie philologisch informativen und zudem witzigen Einleitung umfassend für das Verständnis des Lesers aus unseren Breiten. Beide glauben, dass „die Natur im Reich des Sex der Kultur bedarf”, im Kamasutra finden sie diese Ansicht wieder. Sie weisen auf den tiefen Abstand zur christlichen Moral hin, die die „Unterwerfung, wenn nicht gar Ausrottung der sexuellen Lust zugunsten des gottgefälligen Ziels der Fortpflanzung anstrebte”.
So kam es zu allerlei Missverständnissen der ersten Leser und Übersetzer des Kamasutra. Der Text wurde von prüden Europäern, die sich mit der fremden Kultur nicht identifizierten, „gereinigt”, das heißt kastriert.
Auch in der Geschichte der christlichen Moral gab es erotisierende Bewegungen. Das waren allerdings Minderheitenbewegungen, die oft verketzert und ausgerottet wurden. Unabhängig davon jedoch waren diese christlichen Bewegungen samt und sonders solche, die potenziell für alle Christen Gültigkeit haben sollten. Das Kamasutra ist mit diesen Bewegungen nicht zu vergleichen, denn es will nicht das Ganze eines ohnehin nicht vorhandenen Volkskörpers erfassen. Es empfiehlt im Gegenteil, die Kasten möglichst nicht zu wechseln. Insofern rüttelt es zwar nicht an den Grundfesten der Gesellschaft, durchaus aber an einer lustfeindlichen Hierarchisierung der Geschlechter und nimmt darüber Einfluss auf das erotische Leben insgesamt. Denn was sich hier als ein elitärer Vorgang nur für Höchstgelehrte und alphabetisierte Minderheiten darstellt, wird dann auch für die untergeordneten Stände zum Anreiz. Natürlich wirbt das Kamasutra auch mit Lustprämien. Wird die Erotik zu einer Disziplin gemacht, so geht offenbar von dieser Disziplinierung mehr Lust aus als von undisziplinierter Kinderhäufung.
An einer Stelle irrt der Psychoanalytiker Kakar (ich vermute, dass er es war), nämlich wenn er schreibt: „In der heutigen nachmoralischen Welt ist die erotische Lust weniger durch den eisigen Frost der Moral bedroht als durch die Glut des triebhaften Begehrens.” Wo sieht er diese Glut bei uns? Handelt es sich nicht eher um ein Strohfeuer? Der armen Sexualität wird heute im Westen soviel an „normaler” Perversion und Abrufbarkeit zugemutet, dass sie darüber auf Dauer zusammengebrochen scheint.
Der Leser in einer Gesellschaft, die aus der christlichen Moral herausgefallen ist und über ihren gewerblichen Sexualspielereien keine neuen haltbaren Rituale gefunden hat, müsste mit Spannung sehen, wie eine Gleichgewichtung der Geschlechter, die Entrohung der Sexualität, die, wie frühere Zeiten es genannt haben, Sittigung der Gesellschaft den ganzen Aufbau dieses „langweiligen” Buches steuert. Er könnte sich der lustvollen Überlegungen hingeben (dabei helfen auch die wunderschönen Bildtafeln aus Rajasthan), ob es denkbar sei, dass unserer Pornographiediktatur mit ihrer tödlichen Langeweile die Erotisierung mit ihrer gesellschaftsverträglichen Langeweile folgen könnte.
CAROLINE NEUBAUR
VATSYAYANA: Kamasutra. Neu übersetzt, kommentiert und eingeleitet von Wendy Doniger und Sudhir Kakar. Ins Deutsche übertragen von Robin Cackett. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2004. 317 Seiten, 29.50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Erst einmal betont die Rezensentin Elisabeth von Thadden, dass es bei dieser Neuausgabe des berühmt-berüchtigten Kamasutra in höchstem Maße wissenschaftlich zugeht. Eine Sanskrit-Expertin hat übersetzt, ein Psychoanalytiker gemeinsam mit ihr kommentiert (mit "feinem Humor"), alles sehr seriös, wenn auch "üppig rot und glanzvoll illustriert". Mit dem Vorurteil über das Buch, nämlich so etwas wie ein indischer Sex-Führer aus dem 3. Jahrhundert zu sein, kollidiert die Lektüre darüber hinaus recht schnell, meint Thadden. Selbst im zweiten Kapitel, das "Sex" überschrieben ist, ist eine gewisse "Begrenztheit des Nutzerwerts" festzustellen, so die Rezensentin. An der in unseren Breiten vom Sex erwarteten "Leidenschaft", an "Glut", "Begehren", "Obsessionen", fehlt es durchweg. Kurz gesagt: "Askese und Erotik sind einander verblüffend verwandt". Und das sei allemal lehrreich, wenn auch eher in einem historisch-ethnologischen Sinn. Am spannendsten findet die Rezensentin entsprechend die "Darstellungen altindischer urbaner Lebensformen" - für alle, die in diese Richtung zielende Interessen haben, sei dies schlicht und einfach ein "wunderbares Buch".

© Perlentaucher Medien GmbH