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Produktdetails
  • ISBN-13: 9783789071669
  • ISBN-10: 3789071668
  • Artikelnr.: 45200618
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Einen Vergleich von literarischer und juristischer Aufarbeitung von Verbrechen hat Anja Sya am Beispiel des Mordes an einem französischen Gerichtsvollzieher im Jahre 1889 gezogen und Milos Vec ist ihrer Beweisführung gefolgt. Da muss die Autorin, befindet Vec, "zwei irritierend ähnliche Geschichten erzählen und sie dabei dem Leser gegenüber strikt trennen". Grundthese der Autorin ist, dass die Literatur die Realität ebenso darstellt wie beispielsweise die Gerichtsakten. So könne die Literatur beispielsweise durch Überspitzung Kritik an der Realität üben. Beide haben laut dem Rezensenten eine "historische Dimension, die gerade für die vergleichende Analyse wichtig wird". Diese wird nach Meinung von Vec durch die Autorin aber nicht genügend miteinbezogen, so dass einige Belege nicht genannt werden. Diese hätten nach Meinung von Vec die These der Autorin untermauern können, dass "die Literatur tiefere Wahrheiten und Einsichten bietet als die Jurisprudenz und insoweit den reinen Wissenschaften überlegen sei".

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.11.2002

Freispruch für Gabrielle?
Anja Sya untersucht das Verhältnis von Literatur und Recht

Als im Herbst 1889 in der Nähe des Dorfes Millery die Leiche eines unbekannten Mannes gefunden wird, liegt für die Pariser Kriminalisten der Verdacht nahe, es könne sich um den Vermißten Alphonse Gouffé handeln. Die Obduktion des Toten würde die Annahme bald bestätigen. Doch was im historischen Fall Gouffé zu einem legendären Triumph der wissenschaftlichen Kriminalpathologie gerät, schildert Joachim Maaß 1951 im literarischen "Fall Gouffé" als Ergebnis der Intuition eines hartnäckigen Kriminalkommissars. Nicht nur in diesem Detail weicht der Kriminalroman vorsätzlich von seiner historischen Vorlage, einem aufsehenerregenden Kriminalfall des späten neunzehnten Jahrhunderts, ab und geht eigenen Motiven nach. Anja Sya hat jetzt eine Studie veröffentlicht, die untersucht, ob und welches "Surplus" die Literatur bei ihren Aussagen über Recht und Gerechtigkeit gegenüber der Perspektive der Jurisprudenz bietet.

Der heute fast vergessene Joachim Maaß (1901-1972) wählte für seinen realistischen Kriminalroman eine reiche historische Vorlage. Der Fall des 1889 ermordeten Gerichtsvollziehers Alphonse Gouffé beschäftigte wie nur wenige Verbrechen die damalige Öffentlichkeit. Auch ausländische Zeitungen berichteten ausführlich über die Tat. Die moderne Kriminaltechnik lieferte einen eindrücklichen Beweis ihrer gewachsenen Leistungsfähigkeit. Nach einer elftägigen Untersuchung identifizierte der Lyoner Professor Alexandre Lacassagne die stark verweste Leiche als den vermißten Gouffé. Unzählige Schaulustige betrachteten den Koffer unbekannter Herkunft, Transportbehältnis der Leiche, den man zur Tataufklärung ausgestellt hatte. Die Polizei ermittelte per Telegraph und veröffentlichte international dreisprachige Fahndungsplakate. Sachverständige stritten über die Rolle von Suggestion, magnetischer Willensübertragung und Hypnose. Vor dem Cour d'Assises de la Seine angeklagt werden schließlich am 16. September 1890 Michael Eyraud, ein Bekannter Gouffés, und dessen Geliebte Gabrielle Bompard.

Anja Sya muß in ihrer Studie zwei irritierend ähnliche Geschichten erzählen und sie dabei dem Leser gegenüber darstellerisch strikt trennen. Auf die ausführliche Nacherzählung des Romangeschehens läßt sie jene des historischen Stoffs folgen, um dann zu ihrem vergleichenden Hauptteil überzuleiten. In ihm demonstriert Sya anhand der literarischen Praxis akribisch, was sie in ihrem Eingangskapitel literaturwissenschaftlich verteidigte: daß die Literatur trotz ihres fiktionalen Charakters Realitäten darstellt. Auch im Kriminalroman kann man literarisch und philosophisch gültige Wertinhalte und Wertgesetzlichkeiten entdecken. Deswegen darf die Literatur nicht exklusives Studienobjekt der literarischen Hermeneutik bleiben, auch die Rechtswissenschaft kann für sich Erkenntnisse aus der Auseinandersetzung mit der Dichtung ziehen.

Über Juristisches in Romanen, Schauspielen und Gedichten gibt es nicht wenig Studien. Ernsthafte und gelungene Ansätze wie die Syas sind kaum darunter. Der Grund wird an vielen Stellen dieses Bandes deutlich. Denn die Schwierigkeiten verdoppeln sich bei diesen "produktiven Spiegelungen" (K. Lüderssen) jeweils. Neben dem tatsächlichen Fall muß die literarische Bearbeitung gewürdigt werden, natürlich mit anderen, aber immerhin doch juristischen Maßstäben. Beides wiederum hat seine historische Dimension, die gerade für die vergleichende Analyse wichtig wird.

Die Angeklagte Gabrielle Bompard ist eine attraktive Frau. Im historischen wie im literarischen Strafprozeß gilt ihr eine irrationale Sympathie des Gerichts und der Gerichtsöffentlichkeit. Sya rekonstruiert, daß der eigenhändige Täter Michael Eyraud zu Recht wegen Mordes gemäß Artikel 296 Code pénal zum Tode verurteilt wird - auch dies sowohl im historischen wie im literarischen Strafprozeß. Anders bei der Bompard. Ihr gilt im Roman eine juristisch unhaltbare Anklage wegen "Nichtanzeige eines Verbrechens", eine Lappalie. Ihre Beteiligung am Mord (Mittäterschaft? Beihilfe? Anstiftung?) wird aus sachfremden Gründen nicht untersucht und nicht angeklagt. Im Roman verläßt sie den Gerichtssaal schließlich als freie Frau, da die schiefe Anklage nur mit einem Freispruch enden kann. Tatsächlich aber wurde Gabrielle Bompard 1890 zu zwanzig Jahren Haft verurteilt.

Sya würdigt Maaß' fiktive Darstellung des Strafprozesses als ernstzunehmenden Beitrag zur Psychologie des richterlichen Urteilens, aber auch als Kritik an der subjektiv geleiteten Ermittlungstätigkeit von Staatsanwaltschaft und Polizei. Aus der generellen Gefahr der affektiven Zu- oder Abneigung resultiert im literarischen Fall Gouffé ein Fehlurteil. Maaß war hier schon Anfang der fünfziger Jahre sozialpsychologisch sensibler als mancher von Sya süffisant zitierter Großkommentar zur Strafprozeßordnung von 1999. Die nämlich fordern eisern, daß der Richter "gänzlich frei" und "vollkommen neutral" sein muß, was als Selbstbild ehrenvoll, aber in der Realität unmöglich ist.

Im Roman hat die Wahrheitsfindung, die im Strafverfahren scheitert, noch ein außergerichtliches Nachspiel. Der Schwager Gouffés reist der freigesprochenen Bompard nach Amerika nach. Doch statt ein Schuldbekenntnis von ihr zu erlangen, um das sie im Prozeß erfolgreich herumlavierte, verfällt er ihren Reizen. Von Scham und Schuldgefühlen gepeinigt, muß er, der in den gerichtsförmigen Prozeß wenig Hoffnung setzte, auch auf diesem informellen Weg der Wahrheitssuche scheitern. Sya interpretiert diese literarische Ergänzung des historischen Sachverhalts überzeugend, aber leider etwas knapp als Weiterführung von Maaß' erkenntnistheoretischem Skeptizismus: Nicht nur im Gericht, auch außerhalb bleiben wir bei unseren Werturteilen und bei unserer Wahrheitssuche als erkennende Subjekte beschränkt. Wir würden nicht besser urteilen, wenn es außerhalb eines rechtsförmigen Verfahrens geschähe.

Auch die tatsächliche Verurteilung zu zwanzig Jahren Haft fußte auf der - juristisch laut Sya zweifelhaften - Annahme mildernder Umstände und verschonte sie mit einer härteren Strafe. Der Freispruch bei Maaß fungierte als überhöhende Kritik an dem subjektiv geleiteten Wohlwollen des Apparats. Negativer, als es die historische Vorlage nahelegte, modellierte Maaß auch die Gerichtsöffentlichkeit. Das Publikum erscheint bei ihm als affektgesteuerte Masse, die zu einer kritischen Würdigung intellektuell nicht in der Lage ist. Der Eigenwert der literarischen Perspektive auf die strafprozessuale Suche nach Wahrheit wird gerade in diesen von Sya sorgfältig herausgearbeiteten Details deutlich.

Wünschenswert wäre allerdings, daß Sya das Buch von Maaß und seine zeitgebundenen Leitbilder stärker historisiert und daß sie die juristischen Diskurse gerade der frühen Nachkriegszeit zum Vergleich einbezogen hätte. Dann wäre deutlicher geworden, welchen Mehrwert die Literatur gegenüber den zur gleichen Zeit stattfindenden juristischen Diskursen bieten kann. So bleiben leider einige Belege ungenannt, die die reizvolle These hätten untermauern können, daß die Literatur tiefere Wahrheiten und Einsichten bietet als die Jurisprudenz und insoweit den reinen Wissenschaften überlegen sei.

MILOS VEC

Anja Sya: "Literatur und juristisches Erkenntnisinteresse". Joachim Maaß' Roman "Der Fall Gouffé" und sein Verhältnis zu der historischen Vorlage. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2001. 364 S., geb., 40,- [Euro].

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