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Daß Modernität sich zunächst im Bereich des Verborgenen, Verbotenen, Untergründigen äußert, ist an sich nicht so sehr überraschend. Martin Mulsow zeigt in Moderne aus dem Untergrund in sieben exemplarischen Fallstudien, wie verschlungen die Wege der ›Modernisierung‹, ›Säkularisierung‹ und ›Aufklärung‹ faktisch gewesen sind.
"Mulsow korrigiert nun in sieben Fallstudien dieses harmonisierte Bild der deutschen Ideengeschichte. Er entdeckt eine Reihe rar gewordener Texte - Briefe, Artikel, gedruckte und ungedruckte Traktate - deutscher Autoren, die er 'radikale Frühaufklärer nennt. Er sucht die
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Produktbeschreibung
Daß Modernität sich zunächst im Bereich des Verborgenen, Verbotenen, Untergründigen äußert, ist an sich nicht so sehr überraschend. Martin Mulsow zeigt in Moderne aus dem Untergrund in sieben exemplarischen Fallstudien, wie verschlungen die Wege der ›Modernisierung‹, ›Säkularisierung‹ und ›Aufklärung‹ faktisch gewesen sind.

"Mulsow korrigiert nun in sieben Fallstudien dieses harmonisierte Bild der deutschen Ideengeschichte. Er entdeckt eine Reihe rar gewordener Texte - Briefe, Artikel, gedruckte und ungedruckte Traktate - deutscher Autoren, die er 'radikale Frühaufklärer nennt. Er sucht die Aufmüpfigen, die Skeptischen und Verschmitzten, die Verbotenen und Verfemten, frühe Zweifler und vereinzelte Gottesleugner, die in die Walhalla der großen Denker nicht aufgenommen worden sind, weil sie abseits der Heerstraße liefen. Er nennt sein Vorgehen 'philosophische Mikrohistorie'; ich nenne ihn den Sherlock Holmes der neueren Philosophiegeschichte. [...] Mulsow hat ein ebenso frisches wie gelehrtes Buch geschrieben. Es hat alle Chancen, das beste deutsche Buch des Jahres zur Geschichte der Ideen zu sein" schreibt Kurt Flasch in der Süddeutschen Zeitung vom 23. September 2002.

Vor den großen Philosophien der Aufklärung des 18. Jahrhunderts standen zahlreiche radikale Entwürfe durch Autoren des späten 17. Jahrhunderts - Entwürfe, die aber unterdrückt wurden und daher Manuskript blieben oder anonym in kleiner Auflage verbreitet wurden: Ein bisher kaum erforschtes Feld von philosophischer Untergrundliteratur, das hier erstmals in seiner Gesamtheit beschrieben und untersucht wird. Es stellen sich eine Reihe von Fragen: Gab es Kontinuitäten von den ›liberalen‹, gemäßigten Frühaufklärern um Christian Thomasius zu radikalen Freidenkern? Was hat solche Radikalisierungen ausgelöst? Läßt sich das Untergrundmilieu als zusammenhängende Formation beschreiben? In welchem Kontext sind die Philosophien Spinozas, Hobbes' oder Bayles rezipiert worden? Um diese Fragen zu klären, führt das Buch die Forschungen zur deutschen Frühaufklärung mit denen zur clandestinen Untergrundliteratur und zur europäischen Gelehrtenrepublik zusammen. In sieben exemplarischen Fallstudien werden in ,mikrohistorischer' Rekonstruktion zentrale Themen und Texte behandelt: die Rolle jüdischer antichristlicher Manuskripte, die Bedeutung antitrinitarischer Argumente, historische Kritik, orientalistische Studien, politische Theologie, Platonismuskritik, Eklektik, Naturrecht und Indifferentismus.
Erst das Zusammenwirken all dieser Themen, so die These des Buches, hat radikale Frühaufklärung in Deutschland bewirkt, in oftmals unvorhergesehener Weise, zuweilen aus den Zentren der Orthodoxie heraus. Der radikale Rand ist nicht einfach das Feld von ›Modernisierungsoffensiven‹ gewesen, sondern enthält in erstaunlichem Maße Momente von Ambivalenz, Ironie, Selbstzweifel, Mißverständnissen und experimentierendem Denken. Erst die Vereindeutigung dieser Momente in der Rezeption und die soziale Konstruktion ›gefährlicher‹ Literatur hat den Weg in die atheistische Aufklärung bereitet.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.09.2002

Versunkener Kontinent von zweihundert Schriften
Ein Sherlock Holmes der neueren Philosophiegeschichte, entdeckt Martin Mulsow die radikale Frühaufklärung in Deutschland
Der Sternenhimmel lässt sich auf verschiedene Arten betrachten.  Der Hauptunterschied ist der: Die einen Beobachter suchen die hellsten Sterne und bewundern sie.  Sie schauen begeistert und können begeistern.  Die anderen suchen kleine Leuchten und ferne Nebelschleier,  deren Namen noch niemand kennt. Solche Leute nennt man Astronomen. Sie sind weniger enthusiastisch, aber sie erweitern den Wissensstand. Sie suchen das Unbekannte, und wenn sie etwas gefunden haben, sehen wir auch die Glanzlichter des Himmels mit neuen Augen an.
Ähnlich  läuft die Sache bei der Geschichte des Denkens. Die einen Betrachter suchen die Sterne erster Größer. Sie nennen sie „Klassiker” und leiten ehrfürchtig zu ihrem Studium an. Sie verstehen sich als Hohepriester der „Tradition”. Das sind die Sterngucker der Philosophiehistorie.  Die anderen suchen detektivisch nach Zwischenstücken, nach verkannten und vergessenen Autoren. Diese Leute nenne ich „Philosophiehistoriker”. Wenn sie uns  gar sagen können, warum ihre Funde bislang unbekannt geblieben sind, sieht nachher auch die „große Tradition” anders aus.
Moderate Aufklärer
Martin Mulsow gehört mit seiner Münchener Habilitationsschrift zur zweiten Gruppe. Er recherchiert in Archiven und Bibliotheken. Er mäandert durch die Jahrzehnte  der  allmählichen Wiederherstellung  nach den Zerstörungen im Dreißigjährigen Krieg und zeigt uns  seltene lateinische Manuskripte, die heimlich verbreitet worden sind und die daher Clandestina heißen; er entziffert Abkürzungen von Autorennamen, er rekonstruiert Briefwechsel und Schülerverhältnisse. Er nimmt die intellectual history als Kommunikationsprozess.  
Für ihn beschränkt sich die Zeit zwischen 1680 und 1720 nicht auf die großen Namen, also auf Leibniz und den Streit um Spinoza. Er findet Vergessenes und korrigiert das Bild, das wir uns von der intellektuellen Landschaft in Deutschland um 1700 gemacht haben. Wir hatten gelernt, in Frankreich habe es radikale Aufklärer gegeben, in   Deutschland seien die Fronten anders verlaufen:   Den  orthodoxen Theologen  hätten  „moderate” Aufklärer gegenüber gestanden. „Moderat” hießen sie, weil sie nicht antitheologisch schrieben, sondern eine maßvolle Reform der Wissenschaften betrieben haben. Sie waren keine Skeptiker und keine Epikureer; sie vermieden den Naturalismus und erst recht den Atheismus. Sie waren anschlussfähig, wurden daher geschätzt und bekamen einen Platz in unseren Philosophiegeschichten.  
Mulsow  korrigiert  nun in sieben  Fallstudien dieses harmonisierte Bild der deutschen Ideengeschichte. Er entdeckt eine Reihe rar gewordener Texte  – Briefe, Artikel, gedruckte und ungedruckte Traktate – deutscher Autoren, die er „radikale Frühaufklärer” nennt.  Er sucht die Aufmüpfigen, die Skeptischen und Verschmitzten,  die Verbotenen und Verfemten,  frühe Zweifler und vereinzelte Gottesleugner, die in die Walhalla der großen Denker nicht aufgenommen worden sind, weil sie abseits der Heerstraße liefen. Er nennt sein Vorgehen „philosophische Mikrohistorie”; ich nenne ihn den Sherlock Holmes der neueren Philosophiegeschichte.   
Er hat einen einfachen Ausgangspunkt:  „Mit einer traditionellen und linearen Ideengeschichte ist der Phase akuter Innovationen” nicht beizukommen. Niemand braucht sich zu schämen, wenn er die Namen  der Autoren nicht kennt, die Mulsow vorstellt, Samuel Crell oder Johann Friedrich Kayser oder Johann Balthasar Schupp. Mulsow geht in die Einzelheiten; er redet nicht von Pufendorf und nicht von Thomasius, schon gar nicht von Leibniz. Er sucht das Verborgene, aber er verliert sich nicht in Kleinigkeiten.  Er zeigt Vernetzungen; er schafft ein Mosaik aus kleinen Steinen; er zeigt die „personellen und thematischen Verflechtungen der radikalen Frühaufklärung in Deutschland.”  Er erprobt  an ihnen „Theorien mittlerer Reichweite”. Er untersucht etwa, wie  orthodoxe Theologenthesen in säkulare Aufklärung  umschlagen. Die Ketzerjäger der protestantischen Orthodoxie haben die Radikalen bekannt gemacht;   die  antichristliche jüdische Orthodoxie  hat alle  Offenbarungsreligionen  in Mitleidenschaft gezogen und den Deismus begünstigt.
Mulsow  hat sich vorbereitet durch eine Reihe von Einzelstudien  zur Philosophie und Wissenschaft der Zeit um 1700. Im Vorjahr hat er eine informative Studie zur Geschichte der Toleranz vorgelegt. Sie handelt von dem ehemaligen französischen Benediktiner La Croze, der zum Calvinismus konvertierte und Bibliothekar des preußischen Königs wurde („Die drei Ringe. Toleranz und clandestine Gelehrsamkeit bei La Croze”, Tübingen 2001.)
In dem neuen Buch nun  zeichnet er ein Gesamtbild früher Radikalisierung. Er gibt damit eine Geschichte der  Religionskritik zur Zeit der frühen Aufklärung. In bewundernswerter Weise verbindet er die einzelnen Disziplinen und zeigt unerwartete  Wechselwirkungen zwischen Orientalistik  und Naturforschung, Bibelerklärung und Historie, vor allem zwischen  Rechtswissenschaft und Philosophie. Durch feine begriffliche Differenzierung erschließt er eine Fülle neuen Materials. Er achtet auf den pragmatischen Status von Aussagen; er rechnet mit Ironie und Spott in alten Texten. Er kennt das Schreiben unter Bedingungen der Zensur. Der von Mulsow erforschte Prozess spielt im protestantischen Deutschland, aber die Meinungsfreiheit war unter den Lutheranern nicht größer als in Rom.  Die Akteure auf deutschem Boden standen in lebhaftem internationalem Austausch, vor allem mit Holland und England.  Mulsow folgt diesen Verflechtungen und berücksichtigt die internationale Forschung.
Extremistische Studenten
Das Buch ist gut geschrieben; an wenigen Stellen wirkt  es überfrachtet. Sein Verfasser liebt es, in einer Abschweifung noch schnell einen Exkurs unterzubringen. Er hat denn auch gleich einen „Nachfolgeband” angedroht. Darauf kann man gespannt sein, denn Mulsow bringt neue Details und vergisst  das Gesamtbild nicht, um dessen Korrektur es geht. Die Aufklärung hatte, auch in Deutschland, einen radikalen Untergrund, eine „vorläufige, experimentelle, manchmal auch ungewollte und ironisch gemeinte Moderne”. Mulsow weist einen subkutanen Prozess nach, der oft von einzelnen Zweifelsfragen und Ironisierungen ausging,   vorhandene Ideen der Frühaufklärung radikalisierte und sich provokativ absetzte von der Orthodoxie.
Nicht, als ob es sich um eine geschlossene Gruppe  radikaler Vordenker in Deutschland gehandelt hätte; die Verbindungen der einzelnen Autoren  waren  gefährlich und schon dadurch erschwert, dass ihre Texte oft  anonym gedruckt oder nur handschriftlich verbreitet wurden.  Es geht da um einen „versunkenen Kontinent von etwa zweihundert radikalen Schriften”. Sie haben nicht selten eine naturalistische und materialistische Tendenz. Es gab diese unterirdische Strömung also schon, bevor sie um die Mitte des 18. Jahrhundert im Atheismus des Baron Holbach (geboren 1723 in Edesheim in der Pfalz)  unübersehbar wurde.  
Den  Innovationsschub gegen Ende des 17. Jahrhunderts  hat schon Paul Hazard wahrgenommen in seinem berühmten Buch über die Krise des europäischen Geistes. Italienische Forscher wie Tullio Gregory sind nachgefolgt; heute gibt es eine Reihe englischer und amerikanischer Forschungen. Aber die Bedeutung des monumentalen Werkes von Mulsow liegt darin, dass es bisher getrennte Ströme vereinigt: die ideengeschichtliche Erforschung der Aufklärungsphilosophie, die bibliothekarische Erfassung der Clandestina und die Analyse der Kommunikationsweisen  in der europäischen Gelehrtenrepublik um 1700. Er übertreitb sein Ergebnis nicht: Es hat eine radikale Frühaufklärung auch in Deutschland gegeben, „aber nur als Randphänomen verfolgter Geister und wahrscheinlich einer größeren Zahl extremistischer Studenten”.
Einen besonderen Reiz erhält die Arbeit, indem  sie Stellvertreterdebatten entschlüsselt.  Die  Zeit um 1700 erörterte  historische und philologische Fragen zur Klärung der damals aktuellen Probleme.  Ein Problem der Zeit war der Spinozismus, aber man erörterte ihn mit Vorliebe, indem man über Platon oder die Stoa sprach. Ging es um die Frage der Volkssouveränität, verpackte man die eigene Position in Untersuchungen zur römischen Republik. Wer als Arzt überzeugt war, die Seele  sterbe mit dem Leib, drückte das nicht direkt aus, sondern interpretierte Bibelstellen von der Art des Verses „Wir sterben allesamt wie Gras.”
Ein weiterer Vorzug dieser Studie ist ihre methodische Bewusstheit.  Der stofflichen Information   folgt ständig  die  Reflexion über das Verfahren. Genau genommen geht die Methodendebatte der Recherche voraus. Um davon einen Eindruck zu geben: Ein Autor des 17. Jahrhundert  mag  die Intention haben, den Atheismus zu bekämpfen. Er kann dabei so scharfsinnig die Gegenposition in Frage stellen, dass die skeptischen Argumente sich von seiner Intention ablösen und gegen den Willen des Autors auch seine eigene  christlich-philosophische Position  unterminieren. Der Historiker, der diesen Vorgang beschreibt, kann sich nicht auf die ursprüngliche Intention des Atheismusgegners zurückziehen; er muss Entstehung und Verbreitung des nichtintendierten Skeptizismus studieren.
Mulsow hat ein ebenso frisches wie gelehrtes Buch geschrieben. Es hat alle Chancen, das beste deutsche Buch  des Jahres zur Geschichte der Ideen zu sein.
KURT FLASCH
MARTIN MULSOW: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680 – 1720. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2002. 512 S., 58 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2019

Nehmen wir mal an, die Seele ist nicht unsterblich
Martin Mulsow legt eine neue und stark erweiterte Fassung seines Werks über die radikale Frühaufklärung in Deutschland vor

Wie kann in einer Gesellschaft Undenkbares denkbar, Verbotenes akzeptabel und Heiliges profan werden? Will man die Geschichte der Aufklärung verstehen, kommt man um eine Antwort auf diese Frage nicht herum. Was sich ab dem späten siebzehnten Jahrhundert abspielte, war eine Neuordnung des Wertegefüges und Weltbildes, wie es sie zuvor in dieser Radikalität nicht gegeben hat.

Zwar hat die Forschung schon viele Antworten angeboten, aber bisher hat sich keine als wissenschaftliches Standardwissen durchsetzen können. Einzelne Erklärungsansätze gehen von einer Eigendynamik wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse aus, etwa der Erweiterung der philologischen Textkritik zur philosophischen Universalkritik oder der Übertragung experimenteller Versuchsanordnungen von der Natur auf den Menschen. Andere Antworten leiten den Durchbruch unerhörter Denkhaltungen aus der Mitte der religiösen Orthodoxie ab, zum Beispiel das Aufkommen des Atheismus aus universitären Disputationen, in denen ein "Advocatus diaboli" das Gegenteil zur richtigen Lehre vertreten musste, dabei aber wider Willen Ketzereien von verfänglicher Überzeugungskraft produzierte.

Schließlich gibt es die heroische Erzählung. Ihr zufolge stand am Anfang der Aufklärung eine Schar radikaler Hochrisikodenker, getrieben vom unstillbaren Hunger nach verbotenen Früchten auf dem Feld der Theologie und Bibelkritik und getragen von der Bereitschaft, für ihre gelehrten Leidenschaften den Preis einer gefährdeten Schattenexistenz zu bezahlen. Das wissenschaftliche Werk von Martin Mulsow steht im deutschsprachigen Raum wie kein zweites für die heroische Erzählung. In den vergangenen Jahrzehnten hat Mulsow eine Art Unterbau-Überbau-Modell für die deutsche Frühaufklärung entwickelt, wonach die zukunftsweisenden Helden der Zeit nicht unter den "großen" Gelehrten, den Leibniz, Pufendorf, Thomasius und Wolff, zu suchen seien, sondern unter beinahe vergessenen Autoren und Kommentatoren von verbotenen Schriften wie Johann Joachim Müller, Theodor Ludwig Lau oder Johann Georg Wachter.

In seiner wegweisenden Habilitationsschrift von 2002 sprach Mulsow von der "Moderne aus dem Untergrund", einem "versunkenen Kontinent" aus Hunderten radikalen Schriften. Ihn zu heben galt fortan sein wissenschaftliches Streben, mit dem Ziel, die Bedeutung "des ,linken' Randes der Frühaufklärung" für das Werden der modernen Welt freizulegen. Es folgten mehrere Bücher, in denen Mulsow die teils tragischen Schicksale radikaler Frühaufklärer mit bewundernswerter Quellenkenntnis ausbreitete und ihre unsichere Stellung in der Gelehrtenwelt mit einer neuen, ebenfalls an modernen Gegensätzen orientierten Bildersprache beschrieb. 2012 wurde aus dem "Untergrund" ein "Wissensprekariat", das Mulsow wiederum einer "Wissensbourgeoisie" gegenüberstellte. Als prekär stufte er neben der Situation seiner Protagonisten auch den Status ihres Wissens ein. Was sie Radikales zu sagen hatten, musste verklausuliert formuliert, klandestin gedruckt und im Geheimen verbreitet werden. Fiel es in die Hände der Zensur, konnte es restlos vernichtet werden.

Auch Mulsow selbst geht Risiken ein, wenn er die Anschaulichkeit der Darstellung durch anachronistische Assoziationen steigert. Mit der Rede vom literarischen Untergrund zieht er eine Verbindung zu den Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts, mit dem Begriff der Wissensbourgeoisie zum Kapitalismus des neunzehnten Jahrhunderts und mit jenem des linken Randes zum progressiven Radikalismus seit der Französischen Revolution. Da Mulsow das Risiko aber kalkuliert einsetzt, indem er mit den Metaphern die Absicht verbindet, die Fortschrittlichkeit seiner historischen Helden zu unterstreichen, wäre es zu kurz gegriffen, sein Werk einfach unter Anachronismusverdacht zu stellen. Die Frage ist vielmehr, ob die anachronistischen Assoziationen einen heuristischen Mehrwert schaffen.

Die nun erschienene überarbeitete und um einen zweiten umfangreichen Band erweiterte Fassung seiner "Moderne aus dem Untergrund" hätte gute Gelegenheit zu einer vertieften Diskussion dieser Frage gegeben. Die nachträgliche Erweiterung eines publizierten Buches ist heute, anders als zu Zeiten der klandestinen Frühaufklärer, eher ungewöhnlich; und da Mulsow in der Zwischenzeit von seiner kühnen Sprache aus dem Jahr 2002 teilweise Abstand genommen hat, wäre ein reflexives Innehalten zur konzeptionellen Rahmung des Forschungsgegenstandes umso mehr zu begrüßen gewesen.

Doch Mulsow begibt sich gleich zu Beginn des zweiten Bandes auf die nächste historische Abenteuerreise, diesmal auf den Spuren des materialistisch inspirierten Theologen Urban Gottfried Bucher. Es folgen weitere, ähnlich kleinteilige Fallstudien zu ähnlich kauzigen Figuren, und erst ganz zum Schluss taucht Mulsow wieder in der Gegenwart auf, wobei es dann nur noch für eine kurze Zusammenfassung reicht. Diese jedoch wirft mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt. Man erhält den Eindruck, dass mit der Addition zusätzlicher Fallgeschichten eine konzeptionelle Klammer für beide Bände gar nicht mehr angestrebt wird. Entweder haben sich die Fallgeschichten vom Untergrundfundament gelöst und ein Eigenleben als Mikrostudien entwickelt, oder sie passen besser zu anderen Erklärungsansätzen für die Radikalisierung des aufklärerischen Denkens.

Für Letzteres spricht etwa Buchers Schicksal. Es zeigt geradezu exemplarisch, dass materialistisch motivierter Widerspruch gegen die Unsterblichkeit der Seele tatsächlich aus der Mitte der Orthodoxie kommen konnte. Bucher soll zuerst als Respondent einer universitären Disputation theologisches Glatteis betreten haben, ohne die eigene Argumentation anfänglich ernst zu nehmen. Erst danach sei er richtig auf den Geschmack gekommen. Im Unterschied zu Buchers Radikalisierung weisen Indizien aus anderen Fallgeschichten auf eine schleichende Verdrängung theologischer durch naturphilosophische Erklärungen hin und lassen ihrerseits die heroische Erzählung von der Aufklärung aus dem Untergrund zweifelhaft erscheinen.

Könnte es sein, dass die radikalen Auswirkungen der Aufklärung weniger von jenen Gelehrten ausgingen, die sich im Versteckten an der Bibel abarbeiteten, als von jenen, die sie desinteressiert beiseiteschoben und sich neuen Fragen zuwandten? Wenn dem so ist, ging das Licht der Aufklärung nicht unterirdisch auf. Es konnte sich aus der Mitte der privilegierten Gesellschaft ausbreiten.

CASPAR HIRSCHI

Martin Mulsow: "Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720". Band 1: Moderne aus dem Untergrund. Band 2: Clandestine Vernunft.

Wallstein Verlag, Göttingen 2018. Zus. 1126 S., geb. im Schuber, 59,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Kurt Flasch räumt Martin Mulsow alle Chancen ein, mit seiner Habilitationsschrift über die radikale Frühaufklärung in Deutschland das beste Buch des Jahres zur Geschichte der Ideen geschrieben zu haben. In sieben Fallstudien geht Mulsow bisher wenig bekannten Autoren nach, gräbt seltene lateinische Manuskripte aus, entziffert Abkürzungen und Autorennamen und rekonstruiert Briefwechsel und das zeitgeschichtliche Umfeld. Aufgrund der umfassenden Recherche nennt Flasch ihn anerkennend den "Sherlock Holmes der neueren Philosophiegeschichte". Aus den verstreuten Quellen ergibt sich ein Gesamtbild früherer Radikalisierung zwischen 1680 und 1720 und damit auch eine Geschichte der Religionskritik zur Zeit der frühen Aufklärung, so der Rezensent. In "bewundernswerter Weise" zeigt Mulsow zudem Querverbindungen zwischen den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen auf. Flasch lobt auch Mulsows "methodische Bewusstheit" und seine "feine begriffliche Differenzierung", mit der er ein "ebenso frisches wie gelehrtes Buch" geschrieben habe. Gespannt ist er deshalb schon auf den Nachfolgeband, den Mulsow angekündigt hat.

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