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Der Anthropologe Christian Vogel hat die biologische Menschenkunde revolutioniert. Seine wissenschaftliche Unbestechlichkeit und sein genaues Bewusstsein für die Gefahren einer Verfälschung der darwinistischen Evolutionslehre haben eine Generation von Forschern beeinflusst. Volker Sommer gibt in diesem Band Vogels wichtigste Aufsätze neu heraus: ebenso präzise wie souverän geschriebene Studien, die den Laien in die Welt der Evolutionsbiologie des Menschen führen.
I. Das Erbe der Primaten 1 Trends der Primatenentwicklung 2 Die biologische Evolution der Kultur 3 Menschliches Verhalten:
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Produktbeschreibung
Der Anthropologe Christian Vogel hat die biologische Menschenkunde revolutioniert. Seine wissenschaftliche Unbestechlichkeit und sein genaues Bewusstsein für die Gefahren einer Verfälschung der darwinistischen Evolutionslehre haben eine Generation von Forschern beeinflusst.
Volker Sommer gibt in diesem Band Vogels wichtigste Aufsätze neu heraus: ebenso präzise wie souverän geschriebene Studien, die den Laien in die Welt der Evolutionsbiologie des Menschen führen.

I. Das Erbe der Primaten
1 Trends der Primatenentwicklung
2 Die biologische Evolution der Kultur
3 Menschliches Verhalten: Biogenese und Tradigenese
II. Anthropologie in der Anwendung
4 Der Mythos der Geburtenkontrolle
5 Über das Töten von Menschen
6 Soziobiologische Aspekte der Reproduktionsmedizin
III. Politik der Anthropologie
7 Evolution der Moral
8 Rassenhygiene - Rassenideologie - Sozialdarwinismus
9 Anthropologie: Versuchungen und Vorwürfe
IV. Epilog
10 "Sie ist die Erste nicht!" - Soziobiologie der Gretchen-Tragödie
Autorenporträt
Biologe, Theologe, Primatenforscher, Hochschullehrer am Institut für Anthropologie, University College London

Volker Sommer ist Professor für Evolutionäre Anthropologie am University College London. In Asien und Afrika erforscht er Ökologie und Verhalten von Affen und Menschenaffen. Einer breiteren Öffentlichkeit ist der engagierte Naturschützer durch Funk und Fernsehen sowie seine Thesen und Bücher zu evolutionsbiologischen Themen bekannt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2000

Als Egoist und brav
Christian Vogels darwinistische Antwort auf die Gretchenfrage

Mit der "Theorie vom Menschen als Züchter des Menschen" hat Peter Sloterdijk in seiner unverdient umstrittenen Elmauer Rede nicht den Menschen einen Affen genannt wie Goethe in "Reineke Fuchs" oder Orwell in "Farm der Tiere", sondern den Affen einen Menschen, der "in seinem Tiersein und Tierbleiben gescheitert ist". In Christian Vogels "Anthropologischen Spuren" liest man den entgegengesetzten Ansatz: "Warum haben die Menschenaffen, warum haben die Vorfahren von Schimpanse und Gorilla diesen Schritt zum Homo sapiens nicht vollzogen oder nicht vollziehen können?" Oder in der Sprache Sloterdijks: Warum sind die Affen in ihrer Menschwerdung gescheitert? Diese Frage ist philosophischer als die nach der Affenartigkeit des Menschen. Sie fragt nach den Gründen für Unterschiede der Arten und wirft den Menschen nicht einfach in den großen Topf des Primaten, was nicht falsch, aber wenig erhellend ist.

Christian Vogel war nicht Philosoph, sondern Anthropologe der strengen naturwissenschaftlichen Observanz, also ein Zoologe, der sich auf die biologische Art Homo sapiens spezialisiert hat. 1994 ist er einundsechzigjährig gestorben. Wenn man diese Sammlung einiger seiner Aufsätze gelesen hat, bedauert man, zu seinen Lebzeiten nicht einfach nach Göttingen gefahren zu sein und sich in seine Vorlesung gesetzt zu haben. So einfach und einleuchtend kann nur ein bedeutender Kopf hochkomplexe Phänomene darstellen. Mit Christian Vogel habe die deutsche Anthropologie einen menschlich und wissenschaftlich großen Mentor verloren, schreiben die Kollegen Volker Sommer und Eckart Voland in der Einleitung des Bandes. Die Aufsätze bestätigen es. Seine Verehrung für Vogel hat den Herausgeber Sommer jedoch nicht gehindert, die einzelnen Arbeiten für die gemeinsame Veröffentlichung zurechtzustutzen, wie er in einem Editorial vermerkt. Für eine Aufsatzsammlung enthält der Band in der Tat relativ wenige Wiederholungen. Zwischenüberschriften gibt es reichlich. Und die Anordnung geht vom Grundlegenden zum Speziellen. Nach der Lektüre fühlt man sich ein wenig wie ein Anthropologe. Man erfährt etwas über Trends der Primatenentwicklung, die biologische Evolution der Kultur, über Geburtenkontrolle, das Töten von Menschen und vor allem über das Verhältnis von Biologie und Moral.

Vogel war Neodarwinist und deshalb - nicht: trotzdem - leidenschaftlicher Gegner eines Sozialdarwinismus und aller Versuche, aus Naturbeobachtungen ethisch richtige Normen abzuleiten. Grund ist die moderne Lösung des Darwin'schen Problems: Wie ist Kontinuität in der Entwicklung zu denken? Natürliche Auslese setzt ein Substrat voraus, das sich selbst gleich bleibt und doch auf wechselnde Umstände nachhaltig reagieren kann. Das Individuum kommt dafür nicht in Betracht. Es kann sich zwar anpassen, aber nicht ändern, und dauert viel zu kurz.

Soziale Gruppierungen oder Populationen können länger leben als Individuen, sind aber zu instabil. Sie verändern sich durch Vermischung, Ein- und Auswanderung und durch interne genetische Zufälle zu schnell, als dass sie eine konsistente Auslese über längere Zeiträume gestatten. "Allein die Gene erfüllen die geforderten Voraussetzungen: Sie sind langlebig und replizieren sich über hinreichend lange Zeitspannen mit ausreichender (aber eben auch nicht perfekter!) Genauigkeit. Die evolutiv wirksame Selektion spielt sich daher auf Gen-Ebene ab." Der letzte Satz ist das Markenzeichen des Neodarwinismus. Die "Entstehung der Arten" (Darwin) findet nicht als ständiger Kampf der Individuen oder als Konkurrenz der Arten statt, sondern als Durchsetzungswettbewerb der Gene. Sie sind die winzigen Bezugsgrößen der Entwicklung und spielen für die Biologie die gleiche Rolle wie Kommunikationen für die Soziologie. Niklas Luhmann bekennt sich denn auch ausdrücklich zu einer neodarwinistischen Theorie der Evolution "Gen-Egoismus" ist in der Tat ein erklärungsstarkes Modell. Es gestattet sinnvolle Antworten sowohl auf die Frage, wie friedliches soziales Zusammenleben möglich ist, wie auf die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die viel beobachtete Tötung von Artgenossen oder Kindern die Entwicklung fördern kann.

Wer ist hier dick?

In der Biologie war die Ausbildung der zweigeschlechtlichen Fortpflanzung ein Entwicklungssprung. Die Zeugung der Individuen durch zwei Elternteile stellte die ständig neue Rekombination von Genmaterial auf Dauer sicher, erweiterte das Spektrum der genetischen Variationen um ein Vielfaches und ermöglichte dadurch immer höhere Ausgangsleistungen. Die Zweigeschlechtlichkeit gestattete es schließlich den höheren Säugetieren, einen Teil der Entwicklung der Individuen aus dem Uterus herauszuverlegen und die Umwelt unmittelbar auf das noch zu formende Neugeborene einwirken zu lassen. Die Folge war eine noch einmal drastisch gesteigerte Anpassungsfähigkeit und ist die Einsicht, dass sich Menschen weder züchten noch biologisch manipulieren lassen. Selbstverständlich könnte man die körperliche Gestalt des Menschen durch Züchtung oder Genmanipulation verändern. Aber lange Beine, schmale Hüften und breite Schultern machen nicht den Menschen aus, sondern seine Persönlichkeit und sind insoweit Ansichtssache. Die Persönlichkeit wird nicht vererbt, sondern sozial erworben, wenn auch nicht gerade in der Schule.

An dieser Stelle sollten leicht entzündliche Feministinnen das Buch freilich aus der Hand legen. Denn der biologische Fortschritt hat einen Preis, der nach heutigen, geläutertem Demokratie-Verständnis eigentlich zu hoch ist. Die Zweigeschlechtlichkeit schwächt das Weibchen und lässt das Männchen dominieren, jedenfalls bei den Primaten und bei manchen höheren Säugetieren. Während der Trage- und Stillzeit und bei der Herstellung der Fähigkeit der Jungen, selbständig zu leben, ist das Weibchen auf die Hilfe des Männchens angewiesen.

Darauf muss es schon bei der Partnerwahl Rücksicht nehmen. Deshalb wird es Männchen bevorzugen, die kräftig, gesund, treu, fleißig, fürsorglich und sozial akzeptiert, kurz, die grundsolide sind. Die Betreuung der Weibchen und des Nachwuchses verlangt von den Männchen beträchtliche Investitionen. Diese Investitionen lohnen sich für ihre Gene nur, wenn die Männchen sicher sein können, dass die Jungen ihre eigenen sind. Also werden sie versuchen, ihre geschlechtlichen Beziehungen zu den Weibchen zu monopolisieren. Die Weibchen haben ein geringeres Interesse an der Monopolisierung ihrer Beziehungen zu den Männchen, weil sie immer wissen, dass sie die Mütter ihrer Jungen sind.

Korsika ist überall

Der Einstufung seines Buches als Pflichtlektüre für heranwachsende höhere Töchter und deren Eltern hätte Christian Vogel freilich heftig widersprochen. Nach seiner Ansicht haben "die faktischen Prozesse und Mechanismen des biologischen Evolutionsgeschehens prinzipiell nichts mit der normativen Ebene von menschlichen Verhaltensregeln, von Geboten und Verboten, von Ethik und moralisch erwünschtem oder unerwünschtem Verhalten zu tun". Davon ist er so fest überzeugt, dass er sich eine anthropologische Deutung der Gretchen-Tragödie erlaubt. Für einen Nicht-Naturwissenschaftler liest sie sich makaber: "Frage 5: Warum kommt es zum Duell mit Valentin? Reproduktionsstrategische Erklärung: Brüder sollten im Interesse ihrer eigenen Gen-Ausbreitung ihre Schwestern vor der reproduktiven Ausnutzung durch opportunistische, nicht investierende Männer schützen. Um investitionsbereite Männer anzulocken, müssen die Schwestern jungfräulich gehalten werden." Gelinge es einem opportunistischen Mann trotzdem, die Schwester zu verführen, müsse der Bruder ihn auf das Schärfste bestrafen. Aber der Philosoph darf diese Betrachtungsweise - und darin hat Sloterdijk Recht - nicht einfach zurückweisen oder in der Unterscheidung zwischen Sein und Sollen verschwinden lassen. Insofern ist Vogels Aufsatzsammlung auch ein philosophisch wichtiges Werk.

Freilich, so gut das Buch ist und so wenig man ihm vorwerfen kann, es wolle die Welträtsel lösen, auch von seinem Standpunkt aus bleiben einige Fragen. So die nach dem Verhältnis von Verwandtschaften, die evolutionsbiologisch erheblich, zu Arten, Rassen, Völkern und Nationen, die evolutionsbiologisch unerheblich sein sollen. Eine zweite Frage gilt dem Gen-Egoismus. Vogel ist natürlich nicht entgangen, dass "Egoismus" sein Mandevilles "Private Vices, Publick Benefits" (1714) ein beliebter Erklärungsansatz ist. In den Vereinigten Staaten lebt heute eine ganze Philosophie davon. Die Stärke des Egoismus-Ansatzes, die Moral auszuklammern und fast alles erklären zu können, enthält freilich zugleich seine Schwäche: Egoismus ist nicht die Wirklichkeit, sondern ihr ziemlich grob vereinfachender Schein. Deshalb zerstreuen die vielen schönen Beobachtungen, die Vogel anführt, nicht alle Zweifel.

Schließlich die mangelnde Distanz zwischen Forschungssubjekt und Forschungsobjekt Mensch. Vogel diskutiert diese strukturelle Befangenheit der Anthropologen an einer erschütternden Geschichte. Eine Anthropologin trat 1938 in die "Rassenhygienische und Kriminalbiologische Forschungsstelle" beim Reichsgesundheitsamt ein. Ihre Aufgabe war, Zigeuner rassenbiologisch zu identifizieren. Auf Grund ihrer Erhebungen wurden Zigeuner "eingesammelt" und ermordet oder zwangsweise sterilisiert. Nach dem Kriege erklärte die Anthropologin, sie sei nur ihrer wissenschaftlichen Arbeit nachgegangen und sich keines Unrechts bewusst. Vogel will den Fall nicht entscheiden. Statt dessen bezweifelt er die Wissenschaftlichkeit der rassenbiologischen Gutachten, schiebt das Problem auf das Gleis der Ethik - und lässt es dort stehen. Fachstrategisch ist das in Ordnung. Ethik ist heute das Endlager für Probleme des Wissenschaftsbetriebes mit zu langen Verfallszeiten. Philosophisch ist es nicht in Ordnung. Subjektiv war jene Anthropologin wahrscheinlich redlich. Sie hatte verinnerlicht, was ihr das Fach gebot: den Menschen als die biologische Art Homo sapiens in der Superfamilie der Hominoiden in der Ordnung der Primaten zu betrachten und sich nicht dafür zu interessieren, was die Gesellschaft daraus machte. "Folgenentlastung" nennen das heute auch fortschrittliche Wissenschaftswissenschaftler. Sie funktioniert ganz gut. Das Problem ist deshalb: Was geschieht, wenn die Gesellschaft aus welchen Gründen auch immer die Folgenentlastung eines Tages widerruft? Die Erfahrung lehrt, dann müssen die Individuen dran glauben. Klar, die Gesellschaft kann sich nicht selbst verurteilen. Aber was steckt anthropologisch dahinter?

GERD ROELLECKE

Christian Vogel: "Anthropologische Spuren". Zur Natur des Menschen. Herausgegeben von Volker Sommer. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2000. 256 S., br., 68,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die hier vorliegenden Aufsätze des 1994 verstorbenen Zoologen, lassen Gerd Roellecke bedauern, sich zu Lebzeiten nicht in dessen Vorlesungen gesetzt zu haben, denn auf so einleuchtende Weise über ein so komplexes Thema zu schreiben kann nur ein "bedeutender Kopf", findet er. Die Grundfrage Vogels, der Neodarwinist aber keinesfalls Sozialdarwinist war, referiert Roellecke in seiner ausführlichen Besprechung als die nach der Nicht-Entwicklung von Schimpansen und Gorillas zum Menschen, und seine Thesen, dass es bei der Entwicklung neuer Arten nicht um den Sieg des Stärkeren geht, sondern um die Kontinuität der Gene. Schnell bringt der Rezensent dann aber Sloterdijk ins Spiel, da diese Themen für ihn in Wahrheit philosophische Frage sind und setzt dadurch den Rahmen für das, was ihn am meisten interessiert: die ethische Dimension biologisch-anthropologischer Forschung. Obzwar Roellecke meint, die Aufsätze Vogels vermitteln viel Wissenswertes, aber Fragen der Moral kommen ihm zu kurz. Es reicht nicht aus, sich als Wissenschaftler mit der "Folgeentlassung" zu begnügen, wie sie von Vogel vorgeführt wird im Fall der zur Definition von "Zigeunern" im Dritten Reich herangezogenen Anthropologin, die sich für unschuldig hielt an deren anschließender Ermordung.

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