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Peter Szendy legt mit seiner Studie eine Archäologie des musikalischen Zuhörens vor. Er schreibt eine Geschichte unserer Ohren und fragt danach, wie sie sich in der Vergangenheit verändert haben und welche neuen Möglichkeiten ihnen durch die technologischen Fortschritte im 21. Jahrhundert zur Verfügung stehen.Szendys Archäologie ist zugleich eine Rechtsgeschichte. Insbesondere legt er in seiner Studie dar, inwiefern unser Zuhören von juristischen Auseinandersetzungen geprägt worden ist und seit wann die eigenmächtige Verwendung eines Musikstücks nicht mehr als Ehrerbietung, sondern als…mehr

Produktbeschreibung
Peter Szendy legt mit seiner Studie eine Archäologie des musikalischen Zuhörens vor. Er schreibt eine Geschichte unserer Ohren und fragt danach, wie sie sich in der Vergangenheit verändert haben und welche neuen Möglichkeiten ihnen durch die technologischen Fortschritte im 21. Jahrhundert zur Verfügung stehen.Szendys Archäologie ist zugleich eine Rechtsgeschichte. Insbesondere legt er in seiner Studie dar, inwiefern unser Zuhören von juristischen Auseinandersetzungen geprägt worden ist und seit wann die eigenmächtige Verwendung eines Musikstücks nicht mehr als Ehrerbietung, sondern als Diebstahl geistigen Eigentums gilt. Anhand einer Analyse verschiedener Musikprozesse des 19. Jahrhunderts fragt der Autor nach der Genese des Urheberrechts, das das Hören von Musik unmittelbar veränderte. Aus der Rekonstruktion dieser Prozesse entsteht ein Bild wechselseitiger Beeinflussungen von Musik und Recht. Der Leser wird mit Tatorten des Zuhörens vertraut gemacht und trifft dabei auf Beethoven, Wagner, Schumann, Liszt u.v.m., die ihm jedoch nicht als Komponisten, sondern als Zuhörer begegnen. So wird eine völlig neue Musikgeschichte geschrieben.
Autorenporträt
Peter Szendy (1966), französischer Philosoph und Musikwissenschaftler, ist Maître de conférences am philosophischen Institut der Universität Paris Ouest. Darüber hinaus ist er musikwissenschaftlicher Berater der Pariser Cité de la Musique.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.06.2015

Diesen Freischütz nur bei Schmerzensgeld
Hören lassen, wie man hört: Peter Szendy schreibt eine Geschichte unserer Ohren

In Mozarts Oper Don Giovanni tritt der Titelheld als Hörer in Erscheinung. Während Don Giovanni das Standbild des ermordeten Komturs zum Gastmahl erwartet, spielt ein kleines Bühnenensemble ein Potpourri beliebter Opernmelodien. Unter diesen Bühnenmusiken ist auch ein Zitat aus "Figaros Hochzeit", zu dem Don Giovannis Diener Leporello mitsingt: "Das Stück kenn' ich nur zu gut." Mozarts Publikum kannte die Melodien, denn sie stammten aus den Opern, die auf den aktuellen Spielplänen in Prag und Wien standen. Vor allem aber wurden diese Melodien durch Bearbeitungen verbreitet, wie sie Mozart selbst für diese Szene komponiert hat. Der Auftritt des Komturs bereitet den musikalischen Zerstreuungen dann ein jähes Ende. Langsam deklamierend, erteilt er Don Giovanni einen ersten Befehl: "Ascolta! - Höre zu!" Don Giovanni leistet prompt Gehorsam. Seine Antwort, "Ascoltando ti sto", übersetzt Peter Szendy in seinem Buch mit "En t'écoutant je te suis", in der deutschen Übersetzung von Daniel Schierke heißt es "Hörend folge ich dir".

Szendy entdeckt in Mozarts "Don Giovanni" eine Urszene, die einen Umbruch in den Hörgewohnheiten ankündigt. Um 1800 steht einem Hören, das in der Musik Vergnügung sucht, ein autoritativer Werkbegriff gegenüber, der volle Aufmerksamkeit verlangt. Der Musik ist fortan, wie auch Jean-Luc Nancy in seinem einleitenden Essay herausstellt, stets die Aufforderung zum Gehorsam beigegeben.

Das Zuhören entzieht sich jedoch der Kontrolle. Musikhören ist ein Prozess der Aneignung, in dem das Hören die Musik verändert, so wie eine musikalische Bearbeitung auch in eine Originalkomposition eingreift. Der Arrangeur schreibt sein eigenes Zuhören auf. Wer dieses Zuhören aus der Bearbeitung heraushört, kann sich aber, so Szendy, selbst beim Hören beobachten. Solchen Konstellationen, in denen das Hören sich auf sich selbst zurückwendet, geht er in seinem Buch nach.

Szendy findet sie beispielsweise in der Geschichte der Aufführungen von Carl Maria von Webers "Freischütz" in Paris, die 1824 mit einer Bearbeitung begann, die dem französischen Geschmack Rechnung tragen wollte. Die Handlung wurde in dieser Fassung nach England verlegt, Teile aus Webers Oper "Euryanthe" eingearbeitet. Die Bearbeitung wurde obendrein mit dem neuen Titel "Robin des bois" versehen. Die Oper fiel durch, ohne dass sich Henri Joseph Castil-Blaze davon entmutigen ließ. Schon eine Woche später präsentierte er eine neue Bearbeitung, die nun auch Erfolg hatte. Die erste Bearbeitung, so Castil-Blaze, sei noch zu nahe am Original gewesen.

Solche "Castilblazaden" waren Hector Berlioz ein Dorn im Auge. Er selbst nahm 1841 den Auftrag, eine Neubearbeitung des "Freischütz" herzustellen, mit dem Argument an, dass es "Schlimmeres zu verhindern" gelte. Mit den auskomponierten Rezitativen anstelle des gesprochenen Texts und einer aus Webers Klaviermusik erstellten Balletteinlage wurde die Oper jedoch zu lang. 1853 verklagte ein Hörer, der den "Freischütz" in einer bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Fassung hörte, die Académie impériale de musique auf Schmerzensgeld. Er verlor zwar den Prozess, aber der "Freischütz" wurde dennoch vorsichtshalber vom Spielplan genommen.

Castil-Blaze ging noch von einem elastischen Werkbegriff aus, Berlioz trat bereits im Namen der Werktreue auf, als er seine Bearbeitung vornahm. Der Hörer schließlich, der das Original einklagte, meinte ein Anrecht auf das Werk zu besitzen. An solchen Konstellationen interessiert Szendy weniger die Geschichte des Urheberrechts. Wenn er Debatten und Gerichtsprozesse nachzeichnet, die aus Anlass von Bearbeitungen, Aufführungsrechten, den Abspielrechten für mechanische Instrumente und Verwertungsrechten der Tonaufzeichnung bis hin zur Samplingkunst eines John Oswald geführt wurden, fragt er vielmehr danach, welche Spielregeln eines Hörregimes verhandelt werden.

Entscheidend für Szendys Analysen ist, dass er stets die Perspektive des Hörens sucht, die er auch in seinem eigenen Schreiben nachzustellen versucht. Er erfindet für seine Rede ein Gegenüber, das es ihm erlaubt, sich zugleich selbst als Hörer zu artikulieren: "Du weißt, was ich gerade gehört habe und wem ich zugehört habe. Auf Schallplatte. Du kennst den Moment, in dem ich lauter gemacht habe. Viel lauter, um zu sehen, wie es ist." In diesem Gebrauch der Personalpronomina liegt eine Antwort auf den Befehl "Höre zu". Szendy plädiert für einen Dialog zwischen den Hörern, die einander mitteilen, was und wie sie hören. Er entwindet das Hören, das zweihundert Jahre lang zwischen Gehorsamkeitsforderungen und Besitzansprüchen eingeklemmt war, den Begriffen einer traditionellen Musikgeschichte, um es für neuartige Analysen zugänglich zu machen.

Szendys Buch gelingt es auch, die Praktiken des Hörens unter den Bedingungen der digitalen Technik zu erschließen. Dass das Zuhören selbst plastisch ist, indem es Formen der Aneignung und Bearbeitung mit einschließt, hat sich in den sozialen Netzwerken bestätigt. Szendy setzt einen Dialog zwischen den Erträgen der musikwissenschaftlichen Forschung mit der Schreibweise der Dekonstruktion und der Diskursanalyse in Gang. Die Übersetzung trifft den richtigen Ton. Die Leser sollten Szendys Einladung zum Dialog über das Hören dankbar annehmen.

JULIA KURSELL.

Peter Szendy: "Höre(n)". Eine Geschichte unserer Ohren.

Aus dem Französischen von Daniel Schierke. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015. 180 S., Abb., br., 29,90 [Euro].

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