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Ist von der Vermessungslehre des menschlichen Körpers in anthropologischen Klassifizierungen die Rede, steht immer auch der Zusammenhang von Charakter und Physis zur Debatte: Die Vermessung des Menschen in der Kulturgeschichte impliziert stets aufs neue die alte philosophische Frage, was der Mensch eigentlich sei. Den Nerv des modernen Bewußtseins trifft der Theologe Lavater, dessen Physiognomik gerade ex negativo beweist, "daß einfache Beziehungen zwischen Innen und Außen nicht mehr zu erwarten sind, daß Verstehen ein nicht zu hintergehendes Problem ist". Goethe, Lichtenberg und Kant betonen…mehr

Produktbeschreibung
Ist von der Vermessungslehre des menschlichen Körpers in anthropologischen Klassifizierungen die Rede, steht immer auch der Zusammenhang von Charakter und Physis zur Debatte: Die Vermessung des Menschen in der Kulturgeschichte impliziert stets aufs neue die alte philosophische Frage, was der Mensch eigentlich sei. Den Nerv des modernen Bewußtseins trifft der Theologe Lavater, dessen Physiognomik gerade ex negativo beweist, "daß einfache Beziehungen zwischen Innen und Außen nicht mehr zu erwarten sind, daß Verstehen ein nicht zu hintergehendes Problem ist". Goethe, Lichtenberg und Kant betonen denn auch das Rätselhafte der Oberfläche, den Bruch zwischen Sein und Schein, hinter den das kritische Bewußtsein des Aufklärungszeitalters nicht mehr zurückfallen will. Doch der Menschen bleibt ein auf Mißverstehen angelegtes Wesen: Die Vermessung des Zusammenspiels von Körper und Seele gebiert seit Beginn des 19. Jahrhunderts zum Beispiel in der Medizin heterogene, miteinander konkurrierende Konzepte, die zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft schwanken. So orientiert sich der Arzt und Hirnforscher Gall noch an Lavaters Physiognomik, während er die Körper-Geist-Problematik zu einem Gegenstand der Biologie macht, der italienische Anthropologe Cesare Lombroso versucht den Typus des "geborenen Verbrechers" nachzuweisen. Dieser Versuch, naturwissenschaftliche Exaktheit auf das Gebiet der Gesellschaft zu übertragen, steht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht allein. Die Daten der "Bertillonage" und die Daktyloskopie sind Meilensteine auf dem Weg zur Biometrie von heute. Ernährungswissenschaft, Ergonomie, Wachstum, Medienkunst auf der einen Seite, Sicherheitswahn und Datensucht auf der anderen bezeugen die ambivalent anmutende Entwicklung der Anthropometrie bis hin zum aktuellen Durchbruch computergenerierter Geschöpfe, der Avatare, die laut Multimedia-Branche "die besseren Menschen" sein sollen, da sie "jederzeit auf die Bedürfnisse der Konsumenten zugeschnitten werden" können. An der Grenze zwischen Realität und virtueller Welt - Kubrick/Spielbergs modernes Kinomärchen "A.I." streicht es überdeutlich heraus - scheint die Aufhebung des Zusammenhangs von Sein und Schein fast nicht mehr illusorisch.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.09.2005

Vom Sitz des Bösen
Geschichte und Rückkehr des vermessenen Menschen
Steht uns ein neuer Massenmord bevor? Gert Theile, der Herausgeber dieses vielschichtigen, verstörenden Sammelbandes, rechnet damit: „Es geht wieder einmal um die Menschen nach Maß”, um genormte, störungsarme, gesunde Menschen, wie sie stets dann konstruiert werden, wenn die Wissenschaft Existenzen „verziffert”, sie einteilt in Tabellen und Skalen, in gut und böse, lebenswert und minderwertig. Einen Beleg dafür hätte Theile Ende Juli in einer ARD-Dokumentation über den „Sitz des Bösen” finden können. Dort erklärte man „die biologischen Ursachen für Gewalt”, unternahm eine „Spurensuche im Täterhirn”, nannte Pädophile nicht therapierbar, und wie nebenbei wurde die einigermaßen ruinierte Schädellehre Franz-Joseph Galls, die „Phrenologie”, rehabilitiert. Ist der Mensch nur das, was Zellen und Organe vorgeben?
Theile, Literaturwissenschaftler bei der Stiftung Weimarer Klassik, denkt vor allem an die genetischen Experimente des 21. Jahrhunderts, aber auch an das „Bodyscanning” Übergewichtiger und die Postulate der Hirnforschung, die Gott als ein „Schläfenlappenproblem” neuronal verortet. Die übrigen zwölf Beiträge wollen, vornehmlich historisch ausgerichtet, laut Theile die „Geschichte vom vermessenen Menschen als Zeugnis seiner prolongierten Niederlagen” erzählen. Immer also, wenn der Mensch am Menschen Maß nimmt, geschieht Selektion, und jede Selektion entwürdigt, verdinglicht, knechtet. Stimmt das?
Zumindest ist das Beweismaterial, das auf 300 Seiten ausgebreitet wird, erdrückend. Es beginnt mit Lavaters „Stirnmaaß”, kraft dessen der Schweizer Theologe um 1770 den Charakter an den Gesichtszügen ablesen wollte, und mit Galls Versuchen, bestimmten Schädelregionen 27 seelische Eigenschaften zuzuordnen; es endet mit den „Neuen Rehobother Bastardstudien” des Eugen Fischer. Der Mediziner und Anthropologe wollte 1908 den „ziffernmäßigen Nachweis” erbringen, dass die in Deutsch-Südwestafrika lebende Mischbevölkerung das Resultat einer echten „Rassenkreuzung” sei. Er vermaß Köpfe und Gesichter, fotografierte 300 Personen, erstellte 23 „Sippentafeln”. Das Ergebnis stand schon vorher fest: „Ausnahmslos jedes europäische Volk, das Blut minderwertiger Rassen aufgenommen hat . . ., hat diese Aufnahme minderwertiger Elemente durch geistigen, kulturellen Niedergang gebüßt.” Bis 1942 leitete Fischer das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, Erblehre und Eugenik.
Auch für die zwischen 1900 und 1920 boomende Untersuchung von so genannten Verbrecher- und Elitehirnen gilt derselbe trübe Zusammenhang: Man fand, was man finden wollte, Spuren des Bösen oder, je nachdem, des Genialen. „Die Anatomen”, schreibt Olaf Breidbach, „porträtierten im Hirn das, was sie von dem Porträtierten wussten.” Die Hirnpräparate Ernst Haeckels, Theodor Mommsens, Franz Schuberts sollten eine Schöpferkraft beweisen, die sie voraussetzten. Folgerichtig vergleicht Breidbach den Hirnanatom mit dem höfischen Porträtisten. So wäre denn die seinerzeit avancierteste Wissenschaft eine streng subjektive Kunst gewesen.
Noch nicht so lange als Irrweg erkannt sind Lobotomie und stereotaktische Operation. Bis in die siebziger Jahre gab es Ärzte, die ihren Patienten durch die Schädeldecke ins Hirn bohrten, um Nervenstränge zu kappen. „Die Psychochirurgie ist trauriger Höhepunkt der physischen Psychiatrie in der Behandlung von so genannter Anormalität, deren Ursache man im Gehirn vermutete”, so Susanne Regener. Resultat war meist eine Infantilisierung der nun doppelt geschädigten Menschen - womit die behandelnden Ärzte kein Problem hatten: „Der fröhliche Faulenzer von jetzt ist weit erträglicher als der klagsame Patient von ehedem.”
Die meisten Versuche, den Menschen zu vermessen und so seine Norm zu bestimmen, endeten in der Ausgrenzung derer, die der Norm nicht genügen. Der heutige Fetischismus der Grenzwerte, die das Leben in eine Folge von Risikomomenten zergliedern, folgt dieser Spur. Auch scheint der Hirndeterminismus der Zeit um 1900 zurückzukehren. Ob aber die genetische Selektion, die Arbeit am robusten Baby nach Wunsch und die Vernichtung „ungeeigneter” Embryonen zum Kollaps der Zivilgesellschaft führt, hängt von deren innerer Stärke ab. Zu hoffen bleibt, dass die Sensibilität für derart sublime, aber wirkmächtige antisoziale Tendenzen geschärft wird. Gert Theiles Band leistet da einen wichtigen Beitrag. ALEXANDER KISSLER
GERT THEILE (Hrsg.): Anthropometrie. Zur Vorgeschichte des Menschen nach Maß. Wilhelm Fink Verlag, München 2005. 312 Seiten, 39,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Alexander Kissler findet den von Gert Theile herausgegebenen Sammelband zur "Anthropometrie" nützlich. Denn immer, wenn der Mensch den Menschen vermisst auf der Suche nach dem "Menschen nach Maß", stellt Kissler fest, werde es schlimm. Die Aufsätze in Theiles Band zeigen die Gefahren der Menschenvermessung ebenso deutlich wie die Aporien. Von der Eugenik während des Dritten Reiches bis zur Anatomie genialer Gehirne - immer finden die vermeintlich objektiven Wissenschaftler nur das wieder, was sie hineinsteckten. So führte nach Auskunft der Anthropometriker die Vermischung von Rassen mit der gleichen Zwangsläufigkeit zu kulturellem Niedergang, wie die Struktur der Gehirne von Männern wie Haeckel und Mommsen deren Genialität bedingte. Diese Tautologie transparent zu machen, helfe Theiles Sammelband mit, lobt Kissler; und gerade angesichts der heraufziehenden genmanipulativen Menschenproduktion hält er solche kritischen Zurüstungen für äußerst wertvoll.

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