Produktdetails
  • DuMont Lyrik
  • Verlag: DuMont Buchverlag
  • Seitenzahl: 123
  • Abmessung: 225mm
  • Gewicht: 320g
  • ISBN-13: 9783770154142
  • ISBN-10: 3770154142
  • Artikelnr.: 24086834
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2000

Eine Furche durchs Gehirn ziehen
Auf weiter Flur: Gerhard Falkners "Grundbuch" der Lyrik / Von Hans-Herbert Räkel

Hat Gerhard Falkner 1989 einen Fehler gemacht? Er behauptet es jedenfalls im "Nachwort statt eines Nachworts" des neuen Gedichtbandes "Endogene Gedichte". Damals hatte er angekündigt, er würde keinen Gedichtband mehr veröffentlichen, und zwar, weil er "den Text vor der Personalisierung schützen" wollte. Der neue Band tritt also mit der Aura des eigentlich nicht Veröffentlichten in die Medienwelt, eine besonders geschickte Variante von "Event-Kultur", von welcher der Dichter doch sagt, daß sie die Lyrik ins Schaustellergewerbe dränge.

Damit hat er wohl recht - der DuMont Verlag hat sich jedenfalls die Gelegenheit nicht entgehen lassen, das Buch als Event zu drapieren: Auf dem schicken Schuber aus brauner Pappe steht wie schabloniert zu lesen: "Seit vierzehn Jahren hat Gerhard Falkner keinen neuen Gedichtband vorgelegt. Dichter mit einem solchen Anspruch und existentiellem Ernst gibt es nicht viele in Deutschland." Der Dichter wird diesen Satz nicht selber gedichtet haben, scheint er doch direkt aus der "Grammatik der Informationskloake" generiert worden zu sein - das ist ein Begriff aus "Entweder-Oder", dem letzten Gedicht des neuen Bandes.

Im Ernst wissen wir und weiß Gerhard Falkner noch besser, daß der beste Dichter doch nicht jener ist, der keine Gedichte veröffentlicht. Sein Versprechen war gut gemeint, und seine ihn beängstigende Beobachtung, "daß Erfolg sich immer stärker zum Qualitätsmerkmal erweitert", ist treffend und nicht nur für den Dichter selber beunruhigend. Daß Poesie eine öffentliche Rede ist und als solche Erfolg braucht, steht auch für ihn nicht in Zweifel: Seine verdienstvolle Mitarbeit an der "www.Lyrikline.org" (ein unschönes Wort für eine schöne Sache) beweist es. Gerhard Falkners Widerborstigkeit, die er in theoretischen Texten und oft auch in seinen Gedichten äußert, ist wohl Ausdruck der Angst, das Kostbarste und Eigenste verachtet oder gar zerstört zu sehen. Der neue Gedichtband zeugt davon nicht nur durch die Inszenierung des ihm vorangegangenen Schweigens, sondern auch noch durch eine ganze Reihe von Veranstaltungen, mit denen der Dichter Wall und Graben um die Gedichte zu legen scheint.

Da ist der Titel: Wird man etwas über die Gedichte erfahren, wenn man nachsucht, welche Bedeutungen das Wort WendogenW zu ihrem Verständnis beisteuert? Sind sie "durch innere Ursachen bedingt" oder gar "durch Kräfte des Erdinnern" entstanden? Noch ehe wir eine Antwort wagen, gibt der Untertitel dem Verständnis ein weiteres Rätsel auf. Er heißt "Grundbuch". Sein Kataster verzeichnet allerdings keine Grundstücke, sondern die Flure einer Nervenheilanstalt: Der Band hat zwei "Abteilungen", eine "offene" und eine "geschlossene" (und eine Art Anhang, "Archiv" betitelt). Täuschen wir uns, wenn wir in diesem exogenen, also von außen über die Gedichte ausgeschütteten Bedeutungsüberschuß keine Einladung in ihr Inneres, sondern ein Ablenkungsmanöver erkennen? Wie ein besorgter Vater scheint der Dichter seine Geschöpfe vor unbefugtem Zugriff schützen zu wollen.

Hat man Wall und Graben überwunden, gelangt man freilich noch immer nicht direkt ins Innere, denn dieses erscheint auf vielfältige Weise "destabilisiert", meistens durch Mittel der visuellen Poesie. In der schönen Gruppe von Gedichten, die unter dem Titel "Sprechwiesen" im Kapitel "vorgelagerte Landschaft" stehen, "handelt es sich, in der Absicht jedenfalls, um hochdichte, unmetaphorische, sehr deutsche Textverknotungen, die über eine optische Destabilisation in einen anderen Sinneszustand versetzt werden sollen . . .". Später gibt es dann eine Abteilung N VIII (die Anmerkung sagt "sprich: Nacht"), zu welcher der Dichter wieder mit einer regelrechten Gebrauchsanweisung aufwartet. Vielleicht ist ihm hier tatsächlich noch einmal gelungen, die inzwischen ganz und gar ausgepreßte experimentelle Textproduktion durch "verstockte Sinnhaftigkeit" zu einer Aussage zu zwingen.

Demonstriert dagegen das "Gedicht für einhundertzweiundsechzig Kommas" eine Art von verstockter Unsinnhaftigkeit? Wie erlösend, daß es in Wahrheit nur 157 Kommas sind! Die Destabilisierung greift aber oft auch noch tiefer und bedient sich semantischer und phonetischer Mittel, die manchmal die Figur des Kalauers suchen. Die "Sprechwiesen" der "vorgelagerten Landschaft" sind so grün wie Spielwiesen und so metaphorisch wie Sprechweisen. "Das Gedicht geht seine eigenen Wege", heißt es in "Gedichtwaage", aber gerade in den destabilisierenden Kalauern und der visuellen Verfremdung erweist sich, daß das Gedicht eigene Wege auch nur dann geht, wenn es einmal auf den Weg gebracht worden ist.

Gerhard Falkner ist sich ziemlich sicher, diesen Weg zu kennen. Worum es geht, hat er in wenigen bemerkenswerten Sätzen am Ende seines Nachworts auszudrücken versucht: "hinter sich selbst und hinter alle anderen zurücktreten" möchte er, doch solche programmatischen Einsichten gewinnen ihren Wert erst, wenn ein Gedicht gelingt. Es "heilig" zu nennen wie Hölderlin, ist dem Heutigen verwehrt, aber er kann mit großem Ernst parodistisch hinter seinen großen Vorgänger zurücktreten und dichten: "nur einen Sommer, oder so."

Wenn er sich auch zu wehren und zu zieren scheint, so will er doch letztlich an dem gemessen werden, was er zu sagen hat, an dem, was hinter Wall und Graben nach allen Stürmen der Destabilisierung doch irgendwie noch standhält. Es ist die Sprache, es ist das Gedicht, Hölderlins Heiliges. Es muß die Sprache zum Sprechen bringen, manchmal in einer Attacke gegen ihre Feinde, welche die Zerstörung programmieren. Da schlägt er schon mal grob mit der Hand auf den Tisch und fürchtet nicht, auch ein wenig ungerecht zu sein: "unterstützend / haben / 50 Jahre Fernsehen / weiter nichts gezeigt / als das Geilwerden / von Dummheit / auf sich selbst".

Manchmal spricht die Sprache mit unerwartetem Humor. Der Autor vergewissert sich, dem Leser macht er Mut: "Worte wie bombastisch und enorm / gehören nicht in ein Gedicht!" Oft bewundern wir das pure Gelingen, wie in der meisterhaften poetischen Rehabilitation des Wortes "peitschen" in "Unaufhörliches und reine Übersteigerung". Das wie neu geschaffene Wort hat eine beängstigende Evidenz und löst beim Leser starke Emotionen aus. Seinen eigenen Emotionen mißtraut dagegen der Dichter. Lange prüft er sie, bis er sie in seine Welt herüberholt, die Welt des Gedankens und der Sprache.

Der "Gedanke" nährt eine Vielzahl von Gedichten, die doch alles andere als "Gedankenlyrik" sind. Wie eine Antwort auf C. F. Meyers "Der römische Brunnen" mutet einen das kleine Wunderwerk an, das den Titel "Wasserspiele" trägt und das so endet: "und ganz oben - übersprüht von Blumen / das Kupfergewinde / eines davon / sinnlos / in die Höhe getriebenen / reinen Gedankens". Gleich auf der nächsten Seite reimt sich "Der Gedanke als Wellenreiter" fast wie für ein Kinderbuch, und der betrunkene, wie spielend gedichtete "Heimgänger" ". . . trieb / wiewohl der Gedanke / hochfliegend war / nur noch / wie Spucke im Wind."

Gerhard Falkner dichtet oft in geheimem oder offenem Gespräch mit den Dichtern der Vergangenheit. Nur anspielend geschieht das in der kleinen Gruppe "mallarmé'sche leitern", deren visuelle Disposition genau erreicht, was der Dichter im Nachwort als Forderung aufstellt: "Die schnellen Sprachen müssen in den langsamen Sprachen ausgebremst werden." Hier offenbart der Satzbau seine ursprüngliche poetische Qualität. An anderen Stellen werden Dichter namentlich genannt wie in "Kleist, Novalis und Hegel" und in dem besonders schönen "In Grüningen. nichts wie Schmerzen" nach einer Notiz von Novalis. Oder ihr persönlicher Ton und Stil ist Anlaß zu einer neuen Aussage. So darf man vielleicht Brecht in "Wien, Westbahnhof" hören und Benn in "Bleierne Festung hirn".

Eines der ältesten deutschen Gedichte wird mehrfach insgeheim umspielt, zuerst in "Traum": "fährt ein junger Wind vorbei / kleine Hand, ich laß dich fliegen / werf dich hoch und laß dich frei / dich soll keiner kriegen." Später dann in "Deutsches was?" wird die Anspielung deutlicher, wenn die Hände den Dichter verlassen, die Augen auffliegen "wie Falken" und er schließlich seinen jüngsten Gedanken in die Ferne schickt, auch er ein "Falkner" wie der beinahe sagenhafte Kürenberger am Beginn der deutschsprachigen Lyrik.

Wer Wall und Graben hinter sich gelassen hat und mit ein wenig Geduld die Texte zum Sprechen bringt, wird immer wieder überrascht von einem unvermuteten Hauch von Gegenwart, wie er einen überfällt, wenn am Telefon statt des obligatorischen Anrufbeantworters eine menschliche Stimme erklingt. Sie kann so diskret, zart und verletzlich sein wie in dem kleinen Gedicht "Wer sie?", das man auswendig können und Zeile für Zeile hersagen möchte: "SIE, die mir begegnet, / geht glatt vorbei - / die Frage, woher sie kommt / stellt sich / erst gar nicht / sie überbietet / jede mögliche Antwort / mit ihren kleinen / sich entfernenden / Schritten / ihr Blick aber / zieht eine Furche / durch mein Gehirn / in der ihr Verschwinden aufgeht / wie Wintersaat." Wenn Baudelaire sein Sonett "A une passante" heute schreiben wollte, vielleicht müßte es diese Gestalt annehmen?

Gerhard Falkner: "Endogene Gedichte". Grundbuch. DuMont Buchverlag, Köln 2000. 70 S., geb., 36,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Kennerisch goutiert Cornelia Jentzsch die erste neue Gedichtsammlung des Lyrikers Gerhard Falkner seit 1989. Die eruptive Kraft seiner endogenen, also von innen kommenden Sprachkunst zeige, wie sich `die Sinnlichkeit und Wortopulenz` seiner Dichtung mit einer `hintersinnigen Poetologie` paare. Falkners Gedichtband besteht aus einer offenen und einer geschlossenen Abteilung, an der sich der Krankheitszustand und `die Risse im Innersten` der Sprache ablesen lassen, wie `zwanghaftes Getriebensein, überdimensionierte Maßstäbe, Kontaktverlust mit der Wirklichkeit`. Anhand des Zyklus `Sprechwiesen` beschreibt die Rezensentin, wie Falkner paarweise jeweils zwölf Gedichte einander gegenüberstellt, die sich lediglich durch verschobene Leerzeichen voneinander unterscheiden. Dadurch löse sich das vertraute Schriftbild zugunsten einer neuen Lautlichkeit auf. Damit will Falkner allerdings keine neuen ästhetischen Gebilde schaffen, sondern die Sprache einem `unlauteren Zugriff` entziehen, meint Jentzsch und zitiert aus dem Sprechgedicht `Ach, der Tisch (Zur PoeSie des PoeDu)` das `eine Welle von Nacktheit ausgelöst hat unter den Dingen`. Dieses Gedicht liest sich wie eine `Liebeserklärung an die Poesie`, schreibt Jentzsch. Was kann einem Rezensenten Schöneres passieren?

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